Amnesty Journal Tunesien 19. Mai 2011

"Die revolutionäre Welle rollt unaufhaltsam"

Ein Gespräch mit der tunesischen Journalistin und ­Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine über die Revolution in ihrem Heimatland und die historischen ­Proteste in der arabischen Welt.

14. Januar 2011, der Höhepunkt der Proteste in Tunesien: Morgens kehren Sie aus dem Exil zurück. Abends flieht Präsident Zine el Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien. Wie haben Sie ­diesen Tag erlebt?
Mein Mann und ich haben den Flughafen von Tunis fast nicht wiedererkannt: 23 Jahre lang hatten uns Polizisten bedroht, Leibesvisitationen verlangt, uns Reisedokumente und Bücher abgenommen. Diesmal: gar nichts. Aber als wir das Flughafengebäude verließen, bekamen wir richtig Angst. Überall lauerten Scharfschützen, ihre Waffen auf die Leute gerichtet. Nun haben sie das Land den Milizionären und Todesschwadronen überlassen, dachte ich.

Zum Glück haben Sie sich getäuscht.
Und wie! Gleichzeitig belagerten 20.000 Menschen das Innenministerium im Zentrum von Tunis. Die Leute forderten natürlich den Rücktritt von Ben Ali. Ich glaube, Ben Ali begriff, dass die Leute nicht lockerlassen würden. Als er Tunesien verließ, rechnete er trotzdem fest mit seiner Rückkehr als Präsident. Sein Premierminister sollte ihn ja nur übergangsweise vertreten, hieß es zuerst.

Wie später auch in Ägypten hat die tunesische Armee die Demonstranten gewähren lassen.
Das tunesische Militär hat eine entscheidende Rolle gespielt, ­davon bin ich überzeugt. Sie haben Ben Ali zum Verlassen des Landes gedrängt und ihm vorgegaukelt, er könne später zurückkommen. Ich glaube auch, dass andere Staaten, besonders die USA, dabei geholfen haben. Aber die Grundlage von allem bleibt die Revolte des Volkes, das fest entschlossen war, den Diktator zu stürzen – und dafür zu Opfern bereit war.

Warum lebten Sie seit Januar 2010 im Exil in Barcelona?
Seit Jahrzehnten bekämpfte das Regime die Opposition, Organisationen wie Amnesty International haben unentwegt darauf aufmerksam gemacht. Mit den letzten Wahlen im Herbst 2009 wurde dieser Kampf immer erbitterter. Ich und andere Oppositionelle wollten die Europäische Union davon abhalten, Tunesien bei den Verhandlungen über ein Kooperationsabkommen einen sogenannten "fortgeschrittenen Status" in den Beziehungen zu gewähren. Bis heute hat die EU das nicht getan. Ich wurde ständig von 15 bis 20 Männern bewacht, die vor meinem Haus warteten und mir überallhin folgten. Wenn sie dachten, ich würde einen Oppositionellen treffen, hinderten sie mich daran, in Cafés zu gehen. Auch die Presse griff mich an: Ich war wahlweise eine Agentin Israels, der Hamas oder eine Prostituierte. Im Dezember 2009 schrieb ich einen offenen Brief mit dem Titel "Nehmen Sie Ihren Hut, Herr Präsident!". Kurz darauf gingen mein Mann und ich ins Exil.

Nun leben Sie wieder dauerhaft in Tunesien?
Ja, wir kümmern uns gerade um Genehmigungen und Frequenzen für unseren Radiosender Kalima …

… Tunesiens einzigen unabhängigen Sender, den Sie mit Freunden gründeten. Vor zwei Jahren wurde Radio Kalima ­verboten und Sie sendeten nur noch im Internet.

Genau. Wir hatten zwar Reporter in Tunesien, aber unsere Techniker saßen in München, Köln, Marseille und Barcelona. Das war nötig, weil sich die Polizei bei uns einschleusen wollte. Nun wird der gesamte Sender wieder seinen Sitz in Tunis haben.

Sie sind Sprecherin des "Nationalen Rats für die Freiheitsrechte in Tunesien". Wie will Ihre Menschenrechtsorganisation zur Demokratisierung Tunesiens beitragen?
Das Regime hatte seine Kraken überall, in der Verwaltung, den öffentlichen Firmen, der Wirtschaft. Da müssen wir jetzt aufräumen. Auf einer Tagung haben wir zwei Kräfte zusammengebracht: diejenigen, die die Revolution gemacht haben – also junge Leute und die Bewohner des Landesinneren –, und diejenigen, die 23 Jahre lang gegen Ben Ali Widerstand geleistet haben. Wir waren uns einig, dass wir die zersplitterten demokratischen Kräfte vereinen müssen, um die Revolution zu schützen. Wir haben einen Ausschuss gegründet, der alle Regionen besucht, um lokale Komitees zum Schutz der Revolution aufzubauen.

Meinen Sie den "Rat zur Verteidigung der Revolution"?
Das war in der Tat unser ursprünglicher Plan, dann hat sich aber das Establishment des alten Regimes in diesen Rat eingeschleust. Deshalb bauen wir dieses Organ nun von unten auf. Die lokalen Komitees sollen dann auf einem Konvent einen Rat zum Schutz der Revolution wählen. Wir arbeiten daran und an zwei anderen, dringenden Aufgaben.

Die wären?
Wir müssen unsere Justiz reformieren, sie einsatzfähig machen. Das ist einfach, weil die meisten unserer Richter aufrichtig sind und einen solchen Wandel herbeiführen können. Eine Reform des Obersten Gerichtsrates würde schon reichen, um die korrupten Richter und Staatsanwälte zu entfernen. Gleichzeitig sollten junge Akademiker mit Jura-Abschluss eingestellt werden und eine beschleunigte Ausbildung erhalten.

Und die zweite Baustelle?
Wir müssen unser Wahlgesetz reformieren und eine Verfassungsgebende Versammlung wählen. Wenn beides auf den Weg gebracht ist, ist der Übergang quasi gesichert. Für ein Land mit zehn Millionen Einwohnern hat Tunesien ­einen enormen Polizeiapparat. Was soll mit den 100.000 ­Beamten geschehen?
Wir brauchen weiterhin Polizisten, aber natürlich nicht 100.000. Die Geheimpolizei können wir schon mal abschaffen. Dann gibt es diejenigen, die weder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, noch nachweislich korrupt waren, aber Fehler gemacht haben. Das tunesische Volk ist bereit zu vergeben – wenn diese Beamten Selbstkritik üben und sich entschuldigen. Und wenn es sonst noch irgendwo zu viel Personal gibt: Es gibt tausend Sachen zu tun!

Können Menschenrechtsorganisationen nun wieder arbeiten?
Ja, alle Organisationen arbeiten wieder, fast 24 Stunden am Tag. Jeder spezialisiert sich auf ein bestimmtes Gebiet. Zum Beispiel sammelt die Tunesische Menschenrechtsliga Bürgerbeschwerden. Wir vom Rat für Freiheitsrechte möchten die Energie der Demonstrationen, die es täglich im ganzen Land gibt, in positive Vorschläge ummünzen. Diese Menschen können ein Bollwerk sein gegen eine Regierung, mit der wir nicht zufrieden sind, aber die wir als Übergangslösung akzeptieren.

Oft wird davor gewarnt, dass sowohl in Ägypten als auch in ­Tunesien die Islamisten die großen Gewinner der Revolution sein könnten. Wie begründet ist die Angst vor einem "zweiten Iran"?
Ich sehe hauptsächlich eine Gefahr für unsere junge Demokratie: Die Geheimpolizei des alten Regimes, die immer noch überall ist.

Die Muslimbruderschaften sind also keine Gefahr?
Ich glaube keineswegs, dass die Islamisten heute dazu fähig sind, unsere politische Bühne zu dominieren. Mit diesem Schreckgespenst hat man sehr lange die Diktaturen gerechtfertigt. Der Rat für Freiheitsrechte teilt nicht die Ideen des Islamismus. Unsere Position ist aber, dass alle Bewegungen, zum Beispiel auch die Kommunisten, ihren Platz haben. Dieses Recht haben die Islamisten übrigens teuer bezahlt: Die Folteropfer Ben Alis kommen aus ihren Reihen.

Warum fingen die Proteste in der arabischen Welt in Tunesien an? Und warum mündeten sie in eine Revolution – im Gegensatz etwa zu den früheren Aufständen?
Das werden die Historiker beantworten müssen. Mein Eindruck ist: Man hat lange gedacht, das tunesische Volk würde endlos die Diktatur, die Demütigungen und Entwürdigungen ertragen. Bei den Aufständen im Winter 1999/2000 hat das halbe Land protestiert, aber im Ausland hat es fast niemand mitbekommen. Schon damals hat Ben Ali verstanden, dass die Jugend sein größter Feind ist. Dementsprechend hat er sie dann bekämpft.

Der große Anteil junger, gebildeter Menschen in den arabischen Ländern gilt als ein Auslöser der Proteste.
Die jungen Tunesier hatten nichts zu verlieren. Vor allem aber sind sie gebildet, gut informiert und haben ein politisches Bewusstsein. Sie sprechen Arabisch und Französisch, oft noch eine dritte oder vierte Sprache. Sie sind weltoffen, nutzen intensiv ausländische Medien. Es heißt oft, die Tunesier wussten nichts vom Ausmaß der Korruption und dem moralischen Bankrott des Regimes. Genau das aber war Thema der "Noktas", der kleinen Geschichten, die die Tunesier erfanden, um das Regime ­lächerlich zu machen. Vor allem Jugendliche haben die Noktas anonym im Internet verbreitet. Und schließlich war für den ­raschen Erfolg der Revolution sicher förderlich, dass wir ein ­kleines, eher homogenes Volk sind.

Mubarak und Ben Ali hat das Volk schon gestürzt, in fast allen Nachbarländern gibt es Proteste. Erlebt jetzt die gesamte arabische Welt einen Aufbruch?
Die revolutionäre Welle rollt unaufhaltsam. Sie wird das Gesicht der arabischen Welt verändern. Die Region wurde von ausländischen Mächten dominiert, die uns ihre Diktatoren aufzwangen. Mittlerweile haben selbst die Europäer verstanden, dass sie auch ohne Gewalt Beziehungen zu uns pflegen können. Die arabische Welt wird einer der Pole sein, die die Geschicke der Welt mitbestimmen. Sie wird sich nicht mehr dem Willen der anderen unterwerfen.

Fragen: Martin Sander

Sihem Bensedrine
Die Journalistin ist seit 1980 in einer tunesischen Menschenrechtsorganisation aktiv. Als eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Widerstands gegen die Diktatur Ben Alis war sie vielfältigen Repressionen ausgesetzt. Im Jahr 2000 wurde sie wegen ihrer kritischen Berichte mehrfach inhaftiert und schwer gefoltert. Für ihren Mut ist Bensedrine vielfach ausgezeichnet worden. So erhielt sie im Juli 2001 den Menschenrechtspreis für bedrohte Journalisten der britischen Amnesty-Sektion und 2002 den Johann Philipp Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit.

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