Amnesty Journal Usbekistan 02. April 2009

Porträt: Saidschachon Sainabitdinow

Der Preis der Wahrheit

Fast drei Jahre lang saß Saidschachon Sainabitdinow im Gefängnis. Und das nur, weil er die Wahrheit gesagt hatte. Doch in Usbekistan reicht das oft schon aus, um ins Visier der Behörden zu geraten.

Sainabitdinow hatte in eine TV-Kamera blutverschmierte Frauen- und Kinderschuhe gehalten, die er auf den Straßen seiner Heimatstadt Andischan gefunden hatte. Mehrere hundert Menschen waren hier am Tag zuvor von Sicherheitskräften getötet worden. Der Vorsitzende der in Andischan ansässigen Menschenrechtsorganisation "Apelliatsia" (Appell) war Augenzeuge dieses Massakers. Nun zeigte er die Schuhe einem Fernsehteam – damit die Welt sehen konnte, was in dieser abgelegenen 320.000-Einwohner Stadt im Osten Usbekistans passiert war.

Im Mai 2005 demonstrierten bis zu 1000 Menschen gegen ein als unfair empfundenes Gerichtsverfahren gegen Geschäftsleute aus der Region. Bewaffnete Aufständische besetzten in den Morgenstunden des 13. Mai mehrere öffentliche Gebäude, stürmten ein Gefängnis und befreiten hunderte Gefangene.

Am selben Tag versammelten sich zehntausende überwiegend friedliche Demonstranten im Stadtzentrum. Sie forderten bessere Lebensbedingungen, mehr Demokratie und den Rücktritt von Staatspräsident Islam Karimow, der das Land seit 1991 autoritär regiert. Ohne Vorwarnung eröffneten Militär- und Polizeieinheiten das Feuer auf die Menschenmenge. Viele Verwundete, die nicht mehr weglaufen konnten, wurden von Soldaten erschossen oder mit gepanzerten Fahrzeugen überfahren. Die Behörden sprachen von 187 Toten. Doch "Appelliatsia" und andere Organisationen meldeten bis zu 500 Tote.

Laufend informierte Sainabitdinow internationale Medien über die Ereignisse, berichtete von Lastwagen und Bussen, in denen die Leichen aus der Stadt geschafft wurden, zeigte großkalibrige Patronenhülsen – und eben jene Schuhe, die bewiesen, dass unter den Opfern auch viele Frauen und Kinder waren. Damit widersprach er der Version der Behörden, nach der es sich bei den Toten ausschließlich um religiöse Extremisten handelte. Die Soldaten ließen daher auch als erstes die Leichen von Frauen und Kindern und ihre Kleidungsstücke verschwinden.

Sainabitdinow ahnte, dass das Massaker noch nicht alles war: "Man kann jetzt nur eine Verhaftungswelle und die Ausschaltung der Opposition erwarten." Er sollte Recht behalten. Die Behörden erzeugten ein Klima der Angst, schüchterten Zeugen ein und nahmen sie fest. Eine Woche nach dem Massaker traf es auch Sainabitdinow. Im Januar 2006 wurde er in einem Geheimprozess zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Auch seine Familie geriet ins Visier der Behörden. Regelmäßig musste sie zu Verhören erscheinen, bei denen sie die Sicherheitsbeamten massiv bedrohten: "Ihr seid Insekten, wenn wir wollen, zerdrücken wir euch wie Baumwolle". Ein besonders perfides Spiel trieben sie mit seiner 75-jährigen Mutter: Zwar erlaubten sie ihr, an seiner Verhandlung teilzunehmen. Allerdings sagten sie ihr nicht, wo und wann diese stattfand. Monatelang erfuhr seine Familie nicht, wo er festgehalten wurde. Die Gefängniswächter behandelten ihn gut, so Sainabitdinow: "Aber selbst wenn sich die Bewacher korrekt verhalten: Ein Gefängnis bleibt ein Gefängnis, eine Festung voller Mühsal und Leid".

Nach zwei Jahren, acht Monaten und zwölf Tagen hatte das Leiden ein Ende. Aufgrund einer alle zwei Jahre ausgesprochenen Präsidentenamnestie wurde der Menschenrechtsverteidiger am 4. Februar 2008 freigelassen. Zuhause erwarteten ihn 10.000 Solidaritätsschreiben von Amnesty-Mitgliedern aus der ganzen Welt. Die vielen schweren Tage im Gefängnis haben ihn nicht gebrochen. Im Gegenteil: Sainabitdinow hat mittlerweile seine Menschenrechtsarbeit wieder aufgenommen, um denen zu helfen, die verfolgt werden. Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass irgendwann auch in Usbekistan Freiheit und Demokratie respektiert werden.

Von Daniel Kreuz
Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.

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