Amnesty Journal Kolumbien 02. April 2009

Das große Los

Schenkt man der Regierung in Bogotá Glauben, dann bessert sich die Menschenrechtssituation in Kolumbien kontinuierlich. Doch den Erfolgen der Regierung von Álvaro Uribe stehen zahl­reiche Verschlechterungen gegenüber.

María Mercedes Villas ist eine geduldige Frau. Fast sieben Jahre wartet sie nun schon, aber sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie weitermachen wird: "Ich will wissen, wer meinen Vater ermordet hat und warum", sagt sie mit fester Stimme und verschränkt die Hände. Ruhig und gefasst wirkt sie, doch auf den zweiten Blick ist die Anspannung durchaus zu sehen. Manchmal fangen die großen goldenen Ohrringe an zu wippen, doch das ist nur selten der Fall, denn die 48-jährige Mutter und Ehefrau versucht, sich zu beherrschen. Klar und strukturiert will sie erzählen, denn schließlich ist heute ein besonderer Tag.

Internationale Anwälte sind nach Cúcuta gekommen, um sich ein Bild von der Menschenrechtssituation in der Region an der Grenze zu Venezuela zu machen. Sie ist verheerend. Vor allem im Norden, im Flussbecken des Catatumbo, ist kein Ende von Tod und Vertreibung in Sicht, bestätigt Carlos Pallares. Der Soziologe arbeitet für die "Defensoria del Pueblo", die Ombudsstelle für Menschenrechte in Cúcuta. Er macht keinen Hehl daraus, dass es trotz der medienwirksamen Demobilisierung der Paramilitärs in der Region nicht zu einer Abnahme der Zahl der Flüchtlinge gekommen ist.

"Es gibt zwar keine Massaker mehr, aber die Zahl der selektiven Morde ist gestiegen. Und auch bei den handfesten Drohungen gegen die Zivilbevölkerung haben wir keinen Rückgang registrieren können", schildert der Experte die aktuelle Situation in der Region.

Tibú ist so etwas wie die Eingangstür nach Catatumbo. In der Kleinstadt kommen viele der Flüchtlinge aus den weiter nördlich gelegenen acht Gemeinden an. Hier ist auch María Mercedes Villas aufgewachsen. Ihr 68-jähriger Vater verdiente sich seinen Lebensunterhalt in Tibú als Handwerker beim Bau von Häusern.

"Im Stadtviertel Santander wurde er von Unbekannten entführt", erklärt sie. Vier Männer waren es. Zwei Tage später wurde der Leichnam in einem abgelegenen Weiler gefunden. "Man hatte meinen Vater gefoltert, ihm die Finger- und Fußnägel ausgerissen und ihn mit Benzin übergossen", berichtet María Mercedes. Am 19. Februar 2002 war das, wie seine Tochter in mühevoller Kleinarbeit recherchiert hat. Vater Villas ist eines von 11.200 Opfern, die zwischen 1998 und 2005 bei den Kämpfen in der Region ums Leben kamen. Auf mindestens 600 wird die Zahl der "Verschwundenen" im gleichen Zeitraum geschätzt. Rund 100.000 Menschen flüchteten aus dem Gebiet. Fragt man die Bauern nach den Ursachen des Konflikts in Catatumbo, so lautet die Antwort: "Es sind die Bodenschätze, um die sie kämpfen."

Davon ist auch Eugenio Guerrero von der Bauernorganisation "Ascomcat" überzeugt, die sich gegen die Vertreibung ihrer Mitglieder von den Farmen und gegen die latente Straflosigkeit wehrt. "In Catatumbo befinden sich die größten Kohlereserven des Landes. Hier sollen Minen entstehen, die selbst die Mine Cerrejón in den Schatten stellen", ergänzt Exel Roparo von "Ascomcat".

Die Mine Cerrejón in der Guajira-Region im Norden Kolumbiens ist der weltweit größte Kohletagebau, und der Brennstoff wird auch nach Deutschland verschifft. Kohle ist der eine, Gold, Erdöl und Koka sind die anderen Faktoren, die die Grenzregion so attraktiv machen und zur systematischen Vertreibung der Bevölkerung aus den Gemeinden beigetragen haben.

Das geben auch die Mitglieder des Stadtrats von Tibú zu. Dem gehört mit Joani Achorra auch ein Vertreter einer Minderheit, des indigenen Volkes der Barí, an. Diese wollen die Reich­tümer, von denen erhebliche Mengen in den Reservaten liegen, lieber unter der Erde lassen. "Wir glauben nicht daran, dass die Rohstoffe das große Los der Region sind. Davon haben auch andere Regionen des Landes schon geträumt", sagt Achorra. Diese Einschätzung teilt auch Bauernführer Exel Roparo, dessen Organisation mit den Barí kooperiert.

Wirft man einen Blick auf die Karte Kolumbiens und markiert, wo es besonders wertvolle natürliche Ressourcen gibt oder wo die geostrategischen Bedingungen außerordentlich günstig sind, dann stellt man schnell fest, dass in aller Regel dort auch die heftigsten Kämpfe toben, erklärt der kolumbianische Konfliktforscher Bernardo Pérez Salazar. Barrancabermeja, Kolumbiens wichtigste Erdölstadt mit der großen Raffinerie am Magdalena Medio, dem größten Fluss des Landes, ist dafür genauso ein Beispiel wie die benachbarte Region im Tal von Cimitarra, wo mehrere Firmen um Konzessionen zum Goldschürfen in Naturschutzgebieten buhlen.

In allen diesen Regionen sind die Flüchtlingszahlen hoch – das wird durch die von der Regierung vorgelegte Statistik der "Acción Social" ebenso bestätigt wie durch die Zahlen der unabhängigen Nichtregierungsorganisation Codhes.

Allerdings liegen die Angaben von Codhes, die auch von zahlreichen UNO-Organisationen herangezogen werden, deutlich über den offiziellen Zahlen. So weist die offizielle Statistik für das vergangene Jahr 224.446 Binnenflüchtlinge auf – Codhes geht jedoch von weit über 400.000 "Desplazados" aus. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz? Gemessen wird mit verschiedenen Indikatoren. Während die Nichtregierungsorganisation alle Menschen registriert, die nicht freiwillig Haus und Hof verlassen, werden von der staatlichen "Acción Social" beispielsweise die Bauern nicht registriert, die ihren Hof aufgeben, weil ihre Ackerfläche mit Pestiziden aus der Luft gegen die Kokapflanze verseucht wurde. "Das trifft in Catatumbo auf eine ganze Reihe von Bauern unserer Organisation zu. Das Pflanzengift Roundup, ein Glyphosphat, sorgt dafür, dass die Böden sieben Jahre lang verseucht sind und es sich nicht lohnt, etwas auszusäen", erklärt Exel Roparo von "Ascomat".

Diskrepanzen in den Statistiken sind allerdings in Kolumbien alles andere als selten, bestätigt Gustavo Gallón. Der Direktor der renommierten kolumbianischen Juristenkommission begrüßt zwar den Rückgang der Morde in Kolumbien, verweist aber gleichzeitig auf die Tatsache, dass die Zahl der politisch motivierten Morde nicht gesunken ist. "Seit dem Amtsantritt von Präsident Álvaro Uribe Vélez haben 13.000 Zivilisten in Kolumbien ihr Leben gelassen. Darunter auch viele Gewerkschafter", sagt Gallón. Gerade bei diesen Morden weist die Statistik 2008 wieder eine steigende Tendenz auf. Nach Angaben der CUT, des größten Gewerkschaftsdachverbandes des Landes, starben im vergangenen Jahr 49 Gewerkschafter eines gewaltsamen Todes. Zehn mehr als im Vorjahr, doch in der Statistik der Regierung liest sich das ganz anders. "Da wird von 37 ermordeten Gewerkschaftern berichtet, denn in einem Dutzend Fällen werden gewöhnliche Straftaten für den Tod unserer Mitglieder vorgeschoben", kritisiert Luis Alberto Vanegas. Der Menschenrechtsbeauftragte der CUT vermutet eine Strategie dahinter. Schließlich liegt das längst unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen den USA und Kolumbien auf Eis, weil die US-amerikanische Gewerkschaftsbewegung Partei für die Kollegen in Kolumbien ergriffen hat.

Die stehen trotz der Demobilisierung von rund 32.000 Paramilitärs auch weiterhin im Fokus der Verfolgung. Vom Konzept der "demokratischen Sicherheit", oberste Leitlinie des kolumbianischen Präsidenten, die angeblich dem Schutz aller Bürger des Landes dient, haben die Gewerkschaften nur zum Teil profitiert. 482 Morde an Gewerkschaftern sind seit dem Amtsantritt von Álvaro Uribe Vélez dokumentiert worden und die Zahl der Morddrohungen hat im vergangenen Jahr wieder zugenommen. Diese Entwicklung führt Menschenrechtsanwalt Gustavo Gallón auf eine Neuformierung der Paramilitärs zurück.

Unabhängige Organisationen schätzen, dass zwischen 9.000 und 11.000 Mann erneut unter Waffen stehen. Von der Regierung in Bogotá wird diese Tatsache zwar nicht bestritten, aber das Kind wird ungern beim Namen genannt. Als "bandas emergentes", als "entstehende Banden" werden sie bezeichnet, obgleich nicht nur in Catatumbo die mittlere Führungsebene der alten Paramilitärs oftmals mit von der Partie sind, wie lokale Vertreter von Opferorganisationen kritisieren.

Gleichwohl gibt es auch unbestreitbare Erfolge der Strategie des Präsidenten, wie der nicht gerade als Regierungssympathisant bekannte Journalist Hollmann Morris bestätigt: "Es ist richtig, dass die Guerilla geschwächt wurde; es ist richtig, dass die Zahl der nicht politisch motivierten Morde abgenommen hat, und es ist auch richtig, dass es weniger Angriffe auf die Zivilbevölkerung gibt. Und viertens stimmt es auch, dass es weniger Entführungen gibt und dass die Leute wieder reisen können. " Vier positive Elemente, auf die auch das kolumbianische Außenministerium auf Anfrage zur Menschenrechtsbilanz 2008 verweist. Für viele Kolumbianer ist allein die Möglichkeit, wieder zwischen den großen Städten wie Bogotá und Medellín oder Cartagena zu reisen, ein immenser Erfolg der "demokratischen Sicherheit".

Davon profitieren aber lange nicht alle Kolumbianer, wie Hollmann Morris zu bedenken gibt. "Die Politik der demokratischen Sicherheit hat eine negative Kehrseite. So ist die Zahl der willkürlichen Verhaftungen steil nach oben geschnellt", erklärt der Journalist. "Ich spreche dabei nicht von zehn oder 20, sondern von tausend Menschen, die ein, zwei oder mehr Jahre weggesperrt werden, bis sie wegen Mangels an Beweisen freigelassen werden."

Unzählige Fälle, über die kaum berichtet wird, und die genauso wie die so genannten "falsos positivos", "falsche Erfolgsmeldungen" der Armee, die Regierungsbilanz trüben. Demnach hatten Militärs Leichen mit einem Kampfanzug, einer Pistole oder einem Gewehr präpariert und sie als im Kampfe gefallene Guerilleros ausgegeben. "In Wahrheit sind diese jungen Männer oftmals von der Armee willkürlich ermordet worden, um sie als Erfolg im Kampf gegen die Guerilla zu verkaufen", schildert Menschenrechtsanwalt Gustavo Gallón eine Strategie, für die in den vergangenen Jahren immer häufiger Beweise gefunden wurden.

Einer der Fälle wurde publik, als ein Gerichtsmediziner bei einem toten Jugendlichen ein Mobiltelefon fand und die zuletzt angerufene Nummer wählte. Es meldete sich die Mutter in Soacha, einem Vorort von Bogotá. Der Tote lag allerdings im Leichenschauhaus von Ocaña, einer Gemeinde im Flussbecken des Catatumbo und war verschleppt und von der Armee ermordet worden, wie sich herausstellte. Der Fall machte im September vergangenen Jahres Schlagzeilen, denn bald stellte sich heraus, dass noch mehr Jugendliche aus Soacha in und um Catatumbo ermordet und als gefallene Guerilleros deklariert wurden. Menschenrechtsanwälte haben landesweit insgesamt 1.100 Fälle dokumentiert, in denen die Armee vermutlich Zivilisten als gefallene Guerilleros ausgegeben hat.

Das führte zwar zur Absetzung mehrerer Generäle, doch derartige Erfolge reichen den Opferorganisationen in Kolumbien schon lange nicht mehr. "Wir fordern detaillierte Aufklärung und ein Ende der Straflosigkeit in Kolumbien", sagt Iván Cepeda mit fester Stimme. Er ist einer der Initiatoren der "Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen" (Movice) und dieser Organisation hat sich auch Maria Mercedes Villas angeschlossen. Sie hat aus dem Besuch der Delegation europäischer Anwälte neuen Mut geschöpft. "Immerhin haben sie mich angehört, die Papiere kopiert und mir zugesichert, dass sie nachhaken werden. Vielleicht tut sich nach sieben Jahren endlich etwas", sagt sie und macht sich nach einem anstrengenden Tag gemeinsam mit ihrem Mann und dem zwölfjährigen Sohn auf den Heimweg.

Von Knut Henkel
Der Autor ist Journalist und lebt in Hamburg.

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