Positionspapiere Deutschland 26. Mai 2023

Amnesty-Stellungnahme zum Referent*innenentwurf des Selbstbestimmungsgesetzes

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Es sind grundlegende Menschenrechte, über den eigenen Körper, die eigene Gesundheit sowie über die rechtliche Anerkennung der Geschlechtlichkeit und der Geschlechtsidentität zu verfügen. Das geplante Selbstbestimmungsgesetz soll diese grundlegenden Menschenrechte gesetzlich verankern und das diskriminierende Transsexuellengesetz (TSG), das am 1. Januar 1981 in Kraft trat, ersetzen.

Auch wenn der Gesetzentwurf zentrale Punkte beinhaltet, welche die Selbstbestimmung von trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen stärkt, weist Amnesty International in dieser Stellungnahme darauf hin, dass es an einigen Stellen Nachbesserungsbedarf gibt.

Vorbemerkung

Amnesty International bedankt sich für die Möglichkeit, Stellung zu dem Selbstbestimmungsgesetzentwurf zu nehmen, welches das Transsexuellengesetz (TSG), das am 1. Januar 1981 in Kraft trat, ersetzen soll.

Selbstbestimmung als Menschenrecht

Amnesty International begrüßt ausdrücklich, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die im TSG festgeschriebene oftmals langwierige und diskriminierende Prozedur ersetzt wird. Stattdessen soll die Angleichung des gesetzlichen Namens und des Geschlechtseintrages durch ein schnelles, zugängliches und transparentes Verfahren ermöglicht werden, das die Selbstbestimmung in den Vordergrund stellt.

Als Meilensteine sind der Wegfall der Anforderungen einer pathologisierenden Diagnose und des Begutachtungsprozesses durch Dritte zu betrachten. Anstelle der Gerichtsentscheidung, die auf Basis der Gutachten eine Geschlechtszugehörigkeit anerkennt, soll die Selbstauskunft der betreffenden Personen über die Angleichung des Namens und Geschlechtseintrages gelten.

Es sind grundlegende Menschenrechte, über den eigenen Körper, die eigene Gesundheit sowie über die rechtliche Anerkennung der Geschlechtlichkeit und der Geschlechtsidentität zu verfügen. Im Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes erhalten diese grundlegenden Menschenrechte eine gesetzliche Verankerung.

Durch den Gesetzentwurf werden oftmals diskriminierende Praktiken beendet. Die bislang gesetzlich geforderte Begutachtung durch Psycholog*innen oder Psychiater*innen kann dazu führen, dass das Recht von trans Personen auf Schutz vor erniedrigender Behandlung verletzt wird. Trans Personen berichteten häufig von aufdringlichen und unpassenden Praktiken durch Gutachter*innen, einschließlich körperlicher Untersuchungen oder Fragen zu ihrer Sexualität, die ihre geschlechtliche Identität beweisen sollte. Sowohl die Beurteilung durch die Gutachter*innen als auch die gerichtliche Entscheidungsfindung basieren zudem oftmals auf stereotypen Vorstellungen von Männlich- und Weiblichkeit.

Die relativ langwierigen Verfahren, die für trans Personen derzeit noch erforderlich sind, um ihren Namen und ihren Geschlechtseintrag anzugleichen, führen regelmäßig zu einer Verletzung ihres Menschenrechts auf Privatleben (Art. 12 AEMR, Art. 8 EMRK). Dazu gehört besonders die Praxis des sogenannten "Alltagstests". In der Zeit bis zur gerichtlichen Anerkennung und der Angleichung der Dokumente sind trans Personen regelmäßig Situationen ausgesetzt, in denen sie Dokumente vorlegen müssen, die nicht mit ihrer Geschlechtsidentität und ihrem äußeren Erscheinungsbild übereinstimmen.

Es ist deshalb ein wichtiger Schritt, dass ebenfalls die Notwendigkeit nach einer ärztlichen Bescheinigung bei der Änderung des Geschlechtseintrags für Menschen mit einer Variation der Geschlechtsentwicklung entfällt. Auch diese Anforderung steht bisher dem Recht nach Selbstbestimmung entgegen. Sie setzt außerdem die schädliche Pathologisierung intergeschlechtlicher Menschen fort, welche lange in der medizinischen Praxis weit verbreitet war und zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen geführt hat.

Ein weiterer positiver Schritt ist, dass der Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes die Streichung des Geschlechtseintrages und die Eintragung von "divers" auch nicht-binären Personen ermöglicht, die keine Variante der Geschlechtsentwicklung aufweisen oder die sich der bisher notwendigen ärztlichen Begutachtung nicht unterziehen wollen.

Auch wenn der Gesetzentwurf zentrale Punkte beinhaltet, welche die Selbstbestimmung von trans, intergeschlechtliche und nicht-binären Menschen stärkt, bittet Amnesty International im weiteren Gesetzgebungsverfahren folgende Punkte zu berücksichtigen. Es braucht einen umfassenden Rahmen, um die Menschenrechte von trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen zu stärken und den Schutz vor Diskriminierung und Gewalt aufgrund der körperlichen Geschlechtsentwicklung, der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks zu gewährleisten.

Selbstbestimmungsrechte von Minderjährigen stärken

Amnesty International begrüßt ausdrücklich, dass der Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz die Rechte Minderjähriger und Personen mit Betreuer*innen adressiert (§ 3). Sehr positiv ist weiterhin, dass die Bundesregierung im Begründungstext zum Gesetzentwurf das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Vorhaben betont, Beratungsangebote auch für Minderjährige sowie ihre Familienmitglieder auszubauen und zu stärken.

Trans, intergeschlechtliche und nicht-binäre Kinder und Jugendliche, die keine rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts erlangen können, sind häufig weiteren Diskriminierungen und Schikanen ausgesetzt. Das betrifft beispielsweise den Bereich der Schule, wenn sie nicht entsprechend ihrer Geschlechtsidentität eingeschult werden können.

Aus diesem Grund ist Amnesty International besorgt darüber, dass für minderjährige Personen, die geschäftsunfähig sind oder die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, es keine andere Möglichkeit gibt, als dass ein*e gesetzliche Vertreter*in die Erklärungen zur Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen für die betreffende Person abgibt.

Auch der Verfahrensvorschlag, dass sich beschränkt geschäftsfähige minderjährige Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, im Falle der Nicht-Zustimmung der gesetzlichen Vertreter*innen an das Familiengericht wenden sollen, sollte hinsichtlich der folgenden Forderung überprüft werden: Um dem Recht auf Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, fordert Amnesty International zur Angleichung von Namen und Geschlechtseintrag ein frei zugängliches, reibungsloses Verfahren auch für Minderjährige, das ihre frei geäußerten Ansichten und die sich entwickelnden Fähigkeiten berücksichtigt.

Ein starkes Offenbarungsverbot für alle

Amnesty International begrüßt das Vorhaben, ein Offenbarungsverbot im Selbstbestimmungsgesetz zu verankern (§§ 13 und 14). Mit der Angleichung einer Geschlechtsidentität ist weiterhin eine hohe gesellschaftliche Stigmatisierung verbunden. Demzufolge sind trans, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen durch eine ungewollte Offenbarung von Informationen zu ihrer Namens- oder Geschlechtsangleichung gefährdet, belästigt, diskriminiert oder sogar körperlich angegriffen zu werden.

Amnesty International fordert deshalb dazu auf, sicherzustellen, dass alle Informationen über Änderungen des rechtlichen Namens und des Geschlechts vertraulich behandelt werden; solche Informationen sollten Dritten ohne die ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Personen generell nicht zugänglich sein.

Aus diesem Grund kritisiert Amnesty International, dass in § 11 des Selbstbestimmungsgesetz-entwurfes zur Regelung des Eltern-Kind-Verhältnisses aktuell festgelegt ist, dass für das Rechtsverhältnis zwischen einer Person und ihren Kindern der Geschlechtseintrag der Person im Personenstandsregister zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes maßgeblich sein soll – beziehungsweise – dass für das Rechtsverhältnis zwischen einer Person und ihren angenommenen Kindern der Geschlechtseintrag der Person im Personenstandsregister zum Zeitpunkt der Annahme des Kindes maßgeblich sein soll.

Diese Regelung schränkt das Offenbarungsverbot von trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Eltern ein, da auf der Geburtsurkunde ihrer Kinder, der Prozess der Geschlechtsangleichung sichtbar sein kann.

Auch die im Artikel 4 des Selbstbestimmungsgesetzentwurfs geplante Neuregelung zur Änderung der Personenstandsverordnung verschafft hier nicht in allen Fällen den notwendigen Schutz des Privatlebens. So soll es trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Elternteilen zwar möglich sein, nach einer Angleichung ihres Namens und Geschlechtseintrages in der Geburtsurkunde die Bezeichnung "Mutter" oder "Vater" durch "Elternteil" ersetzen zu lassen. Da diese Regelung zuerst ausschließlich von Personen in Anspruch genommen werden kann, die entweder ihren Geschlechtseintrag geändert haben oder ohne Änderung des Geschlechtseintrags weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet sind, besteht weiterhin eine Offenbarung der Angleichung des Geschlechtseintrages durch die Geburtsurkunde der Kinder.

Selbstbestimmung braucht Schutz

Amnesty International erinnert daran, dass es für die Verwirklichung von Selbstbestimmung mehr als die rechtliche Anerkennung des Geschlechts bedarf. Der Schutz vor Diskriminierung und Gewalt ist ein wesentlicher Bestandteil. Abgesehen vom Offenbarungsverbots sind im Gesetzentwurf keine Schutzbedarfe für trans, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen adressiert. Trans, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen sind aber in Deutschland weiterhin Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Nach erhobenen Daten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), die 2020 veröffentlicht wurden, gaben 66% der befragten trans und nicht-binären Personen aus Deutschland an, im Jahr vor der Umfrage Diskriminierungen in unterschiedlichen Bereichen des Lebens erfahren zu haben. Dazu gehören Diskriminierungen bei der Arbeitssuche, an der Arbeitsstelle, bei der Wohnungssuche, im Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem und an öffentlichen Orten wie Cafés, Restaurants, Nachtclubs und Einkaufsläden. Für trans Frauen ist die Angabe zur Erfahrung von Diskriminierung mit einem Anteil von 69% sogar noch einmal leicht erhöht.

Auf die Frage nach der Erfahrung von physischer oder sexualisierter Gewalt innerhalb der letzten 5 Jahre vor der Umfrage gaben 35% der befragten trans und nicht-binären Personen aus Deutschland an, mindestens eine entsprechende Situation von physischer oder sexualisierter Gewalt erlebt zu haben.

Deshalb fordert Amnesty International zeitgleich mit der Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes weitere Maßnahmen zur Beendigung von Diskriminierungen zu ergreifen:

  • Maßnahmen zur Sensibilisierung und Aufklärung der Bevölkerung für trans, intergeschlechtliche und nicht-binäre Identitäten und die Diskriminierung von trans Personen zu ergreifen;
  • Geschlechtsmerkmale, Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck ausdrücklich als verbotenen Diskriminierungsgrund in die Antidiskriminierungsgesetzgebungen aufzunehmen;
  • sicherzustellen, dass Geschlechtsidentität und -ausdruck ausdrücklich als Gründe für die Verfolgung von vorurteilsmotivierter bzw. politisch motivierter Kriminalität aufgenommen werden.

Statt vor Diskriminierung zu schützen, fokussiert sich der Gesetzesentwurf an vielen Stellen, die im Folgenden besprochen werden sollen, nicht auf die Selbstbestimmung von trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen, sondern nimmt einen mutmaßlichen potentiellen Missbrauch der selbstbestimmten Namens- und Personenstandsangleichung in den Blick. Durch diesen Fokus besteht zum einen die Gefahr, dass sich verbreitete Vorurteile gegenüber trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen ausgerechnet durch Formulierungen in einem Gesetzestext bzw. in dessen Begründung verbreiten und verfestigen. Des Weiteren besteht die Gefahr, dass die konkreten Schutzbedarfe von trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen als besonders vulnerable Personengruppe aus dem Fokus geraten.

Anerkennung von Selbstbestimmung statt Misstrauen: klares Zeichen gegen Vorurteile setzen

Ein starkes Selbstbestimmungsrecht sollte die rechtliche Anerkennung des Geschlechts auf der Grundlage der Selbsterklärung einer Person in den Vordergrund stellen und stärken. Durch das gehäufte Auftreten mehrerer Regelungen im Gesetzentwurf, die auf einen sogenannten "Übereilungsschutz" abzielen, wird jedoch eher Misstrauen gegenüber der Fähigkeit einer informierten Entscheidungsfähigkeit von trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen erkennbar. Damit wird ein weit verbreitetes Vorurteil gegenüber diesen Personengruppen im Gesetzestext und deren Begründung fortgeschrieben. Dieses Vorurteil ist die Grundlage für die bisher geltenden oftmals diskriminierenden Praktiken der Begutachtung und Beurteilung durch Dritte im TSG und lässt sich im Gesetzentwurf an folgenden Stellen wiederfinden:

  • Die Person hat mit ihrer Erklärung zu versichern, dass ihr die Tragweite der durch die Erklärung bewirkten Folgen bewusst ist. (§ 2 Abs. 2 Satz 2)
  • Laut der Begründung zum Gesetzestext dient die vorgeschlagene Frist von drei Monaten bis zur Wirksamkeit der Änderung des Geschlechtseintrags oder der Vornamen (§ 4) "als Überlegungs- und Reflexionsfrist und soll die Wirksamkeit nicht ernsthaft gemeinter Erklärungen verhindern" (S. 41).
  • Auch die in § 5 benannte Sperrfrist, die verhindert, dass vor Ablauf eines Jahres nach der Eintragung der Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen eine erneute Erklärung abgeben werden kann, wird in der Gesetzesbegründung mit der Funktion begründet, "dass insbesondere volljährige Personen sich der Tragweite ihrer Erklärung bewusst sind, weil klar ist, dass sie an die Erklärung mit den entsprechenden Einträgen mindestens ein Jahr gebunden sind. Die Vorschrift dient damit als Übereilungsschutz und verdeutlicht der erklärenden Person die Ernsthaftigkeit ihrer Erklärung." (S.41)
  • In der Begründung zu § 10 Zu Absatz 3 heißt es außerdem, dass "die Kostentragungspflicht für die Neuausstellung der Dokumente [...] neben der Sperrfrist des § 5 SBGG faktisch einen weiteren Übereilungsschutz [bewirkt] und [...] eine etwaige zweckwidrige Inanspruchnahme des SBGG [erschwert]."

Vorurteile bekämpfen statt vulnerable Personengruppen aus dem Fokus nehmen

Obwohl in der Begründung zum Gesetzentwurf an mehreren Stellen deutlich betont wird (S. 24, 25, 44), dass aus Deutschland und anderen Ländern keine Missbrauchsfälle der bestehenden oder vergleichbaren Rechtslagen bekannt sind, beinhaltet der vorgeschlagene Gesetzestext an mindestens zwei Stellen explizite Regelungen zur Abwendung mutmaßlicher potentieller Missbräuche des Selbstbestimmungsgesetzes.

So soll § 6 (2) klarstellen, dass Personen durch Änderung des Namen- und Geschlechtseintrages weiterhin keinen Anspruch auf Zugang zu Einrichtungen und Räumen sowie die Teilnahme an Veranstaltungen gelten machen können, die durch Hausrecht geregelt werden. In der Begründung zum Gesetzestext wird ausgeführt (ab. S. 44), dass es hierbei um den Zugang zu folgenden Räumen geht:

  • Zugang zu geschlechtsspezifischen Toiletten und Umkleideräumen
  • Zugang zu geschlechtsspezifischen Saunen
  • Frauenhäuser
  • Frauenparkplätze
  • Sportvereine
  • Unterbringung im Justizvollzug

Besonders die Ausführungen zur Unterbringung im Justizvollzug zeigen durch die Wahl des Beispiels auf, dass hier der Schutz vor sexualisierter Gewalt an Frauen adressiert werden soll, die im Szenario von Männern bedroht würden, die sich durch einen veränderten Geschlechtseintrag Zugang zu Schutzräumen von Frauen verschaffen könnten.

Dabei stellt der § 6 keine neuen wirksamen Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen vor, sondern ist lediglich eine Feststellung, dass das Hausrecht weiterhin gilt.

Durch die Betonung eines mutmaßlichen Missbrauchspotentials des Selbstbestimmungsgesetzes besteht die Gefahr, dass ausgerechnet trans Frauen und Personen, die stereotypen Vorstellungen von Männlich- und Weiblichkeit nicht entsprechen unter Verdacht geraten, keine echten Anliegen zu haben, sondern Personen zu sein, die das Selbstbestimmungsgesetz missbrauchen würden. Dies entbehrt jeglicher Faktenlage.

Trans Personen haben immer noch mit weit verbreiteten Vorurteilen zu kämpfen haben, die zu Diskriminierungen und Gewalt in unterschiedlichen Lebensbereichen führen. Die durch die Festschreibung im TSG jahrelang ausgeübte Praktik der pathologisierenden Begutachtung hat bis heute die Vorstellung geprägt, dass trans Personen krank und nicht in der Lage seien, selbst über ihre Geschlechtsidentität bestimmen zu können. Hinzu kommt, dass sowohl trans als auch intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen häufig aufgrund weit verbreiteter Vorurteile und geschlechtsspezifischer Stereotypen diskriminiert werden, die auf standardisierten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit beruhen. Die Betonung des mutmaßlichen Missbrauchspotentials durch eine Festschreibung in der Gesetzesbegründung kann zu einer Festschreibung von Vorurteilen insbesondere gegenüber trans Frauen und Personen, die nicht den gängigen Vorstellungen von Männlich- und Weiblichkeit entsprechen, führen. Sie könnten sich damit konfrontiert sehen, dass ihre Geschlechtsidentität von Dritten nicht anerkannt und infrage gestellt wird.

Als staatliche Autorität kommt der Gesetzgeber*in hier eine besondere Verantwortung zu und es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den Verpflichtungen zur Beendigung schädlicher, auf Geschlechterstereotypen basierender Praktiken nachzukommen.

Auch § 9 hat den Zweck, ein mutmaßliches Missbrauchspotential des Selbstbestimmungsgesetzes abzuwenden. So soll im Spannungs- und Verteidigungsfall die Möglichkeit von männlich zugewiesenen Personen ausgesetzt sein, den Geschlechtseintrag von "männlich" zu "weiblich", "divers" oder die Streichung der Angabe zum Geschlecht zu erklären. Nach dem Begründungstext des Gesetzentwurfes hat diese Regelung den Zweck "einer Umgehung der Dienstpflicht mit der Waffe im Spannungs- oder Verteidigungsfall entgegenzutreten" (S. 50).

Hierzu stellt Amnesty International zum einen klar, dass die Gesetzgeber*in in der Verpflichtung steht, keine Person gegen ihr Gewissen, ihre Religion oder ihre Überzeugung dazu zu zwingen, Militärdienst zu leisten. Verweiger*innen aus Gewissensgründen sollten vom Militärdienst befreit werden und nicht dafür bestraft werden, dass sie ihr Recht auf Gewissensfreiheit wahrnehmen. Die Behörden müssen mindestens sicherstellen, dass Kriegsdienstverweiger*innen die Möglichkeit haben, in einer zivilen Verteidigungseinheit zu arbeiten, z. B. im Rettungsdienst, in der Ersten Hilfe oder in ähnlichen Notdiensten.

Zum anderen muss sichergestellt sein, dass auch auf die besonderen Belange von Personen eingegangen wird, die einem erhöhten Risiko von Gewalt innerhalb des Militärs ausgesetzt sind, z. B. in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität. So besteht auch bei dieser Regelung die Gefahr, dass mit der Fokussierung auf ein mutmaßliches Missbrauchspotential ausgerechnet trans Frauen und nicht-binären Personen ein Recht auf Selbstbestimmung verwehrt oder erschwert wird, wenn ihr Angleichungsprozess mit einem Spannungs- und Verteidigungsfall zusammenfällt.

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