Strafverfolgung friedlichen Protests endlich einstellen

Zeichnung einer Figur mit Mütze und Jacke, auf der "Polizei" steht

Nachdem die russischen Behörden zahlreiche Kandidierende der Opposition von den Kommunalwahlen in Moskau ausgeschlossen hatten, gingen im Juli und August Zehntausende Menschen aus Protest weitgehend friedlich auf die Straße. Die Demonstrierenden skandierten Parolen, schwenkten Plakate und unterbrachen in einigen Straßen vorübergehend den Verkehrsfluss. Die Proteste blieben friedlich, bis die Behörden damit begannen, Teilnehmende willkürlich zu schlagen und festzunehmen. Gegen mehr als ein Dutzend Personen, hauptsächlich junge Leute, wurden haltlose Anschuldigungen erhoben, die mit langen Haftstrafen geahndet werden können.

Appell an

Leiter der russischen Ermittlungsbehörde

Alexander Ivanovich Bastrykin

Tekhnichesky per. 2

105005 Moscow

RUSSISCHE FÖDERATION

Sende eine Kopie an

Botschaft der Russischen Föderation

S. E. Herrn Sergei Nechaev


Unter den Linden 63-65

10117 Berlin

Fax: 030 – 2299 397


E-Mail: info@russische-botschaft.de

Amnesty fordert:

  • Bitte lassen Sie die haltlosen Anklagen gegen die friedlichen Protestierenden fallen und setzen Sie die Festgenommenen umgehend wieder auf freien Fuß.
  • Leiten Sie keine weiteren strafrechtlichen Schritte gegen Personen ein, die lediglich von ihrem Recht auf friedliche Versammlung Gebrauch gemacht haben.

Sachlage

Daniil Konon, Valery Kostenok, Egor Zhukov und mindestens zehn weitere Personen befinden sich derzeit in Haft und werden strafrechtlich verfolgt, weil sie an den weitgehend friedlichen Protesten vom 27. Juli, 3. August und 10. August in Moskau teilgenommen hatten. Die meisten von ihnen sind wegen "Teilnahme an Massenunruhen" angeklagt, obwohl es sich bei den Veranstaltungen nicht um Unruhen handelte. Solche Maßnahmen laufen eindeutig dem Recht auf friedliche Versammlung zuwider, das in der russischen Verfassung und internationalen Menschenrechtsverträgen verankert ist. Die Teilnahme an einer friedlichen Protestveranstaltung ist nicht strafrechtlich zu verfolgen, egal ob die Behörden der Veranstaltung zugestimmt haben oder nicht. Alle friedlichen Protestierenden müssen umgehend freigelassen und die gegen sie erhobenen Anklagen fallengelassen werden.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Die Proteste in Moskau begannen im Juli 2019, nachdem die Moskauer Wahlkommission zahlreiche Kandidierende – insbesondere solche, die sich kritisch über lokale oder nationale Behörden geäußert hatten – von der Kommunalwahl am 8. September ausgeschlossen hatte. Die Wahlkommission führte an, dass den nicht zugelassenen Kandidierenden die notwendigen Unterschriften fehlten, die sie laut Gesetz zur Unterstützung ihrer Kandidatur vorlegen müssen. Die Betroffenen bestreiten dies und sind stattdessen der Ansicht, dass ihre Kandidatur aus rein politischen Gründen verhindert wurde.

Seit dem 14. Juli finden im Zentrum von Moskau jedes Wochenende Protestveranstaltungen statt. Die städtischen Behörden genehmigten die Demonstrationen am 20. Juli und 10. August, andere Veranstaltungen erhielten jedoch keine offizielle Erlaubnis. Die größte "nicht genehmigte" Protestveranstaltung fand am 27. Juli statt, als Tausende Demonstrierende versuchten, sich vor dem Büro des Moskauer Bürgermeisters zu versammeln. Allerdings sperrten Tausende Angehörige der Bereitschaftspolizei und Nationalgarde (eine polizeiliche Spezialeinheit) das Stadtzentrum ab und versuchten, die Demonstration aufzulösen. Dies ging in vielen Fällen mit dem Einsatz von Gewalt gegen friedliche Protestierende einher. Einige Demonstrierende reagierten ebenfalls mit Gewalt und bewarfen die Polizei z. B. mit Plastikflaschen und in einem Fall mit einem Mülleimer. Die meisten Teilnehmenden blieben jedoch friedlich. Einige Dutzend Protestierende wurden schwer verletzt und mehr als 1.300 Personen wurden festgenommen. Die Polizei meldete an jenem Tag keine schweren Verletzungen.

Die russischen Behörden weigern sich bisher, die Fälle von Polizeigewalt zu untersuchen. Hierzu zählt zum Beispiel ein Vorfall, in dem ein Mann willkürlich von der Polizei angehalten wurde, als er mehrere Stunden vor der Veranstaltung in der Nähe des Büros des Bürgermeisters joggte. Die Beamt_innen zwangen ihn zu Boden, wobei er sich einen Knochenbruch am Bein zuzog. Mindestens 13 Personen wurden festgenommen und mit Strafanzeigen überzogen. Man wirft ihnen gemäß Paragraf 212 des Strafgesetzbuches vor, an "Massenunruhen" teilgenommen zu haben. Drei von ihnen müssen sich darüber hinaus unter Paragraf 318 wegen "Gewaltanwendung gegen einen Staatsbediensteten" verantworten, weil einer von ihnen das Helmvisier eines Polizisten berührt hat und die beiden anderen eine Plastikflasche bzw. einen Mülleimer in Richtung der Polizei geworfen haben. Gegen zwei Personen, die an den Veranstaltungen vom 3. bzw. 10. August teilgenommen haben, wurde ebenfalls Anklage erhoben. Die erste Person wurde unter Paragraf 318 angeklagt, nachdem ein Polizist bei der gewaltsamen Festnahme über die Protestierenden stolperte und sich dabei eine Schulterverletzung zuzog. Der zweiten Person wird gemäß Paragraf 212.1 vorgeworfen, "wiederholt gegen die Vorschriften zum Abhalten öffentlicher Veranstaltungen verstoßen" zu haben. Dieser Paragraf wurde 2013 eingeführt, um die wiederholte Teilnahme an "nicht genehmigten" Versammlungen zu kriminalisieren, egal wie friedlich diese Versammlungen ablaufen.

Bei einer Verurteilung drohen den Protestierenden, denen "Teilnahme an Massenunruhen" vorgeworfen wird, bis zu acht Jahre Haft. Bei weiteren künftigen Strafanzeigen könnte sich diese Gefängnisstrafe noch erhöhen. Freisprüche erfolgen im russischen Strafjustizsystem nur äußerst selten (in etwa 0,2% aller Fälle). In den meisten Gerichtsverhandlungen ist ein Schuldspruch daher vorhersehbar.

Das Vorgehen der Behörden gegen die friedlichen Protestierenden und die Missachtung des Rechts auf friedliche Versammlung zeigt einmal mehr, wie schlecht es um die Menschenrechte in Russland steht. Seit 2012 haben die russischen Behörden drakonische Gesetze eingeführt, um das Abhalten einer "genehmigten" Versammlung zu erschweren und die Strafen bei Zuwiderhandlung zu verschärfen. Die Strafe für eine friedliche Protestveranstaltung ohne offizielle Genehmigung (die routinemäßig vorenthalten wird) liegt beispielsweise bei bis zu zehn Tagen Gefängnis oder einer hohen Geldstrafe, selbst wenn die Veranstaltung weder die öffentliche Ordnung gefährdet noch den Verkehr behindert. Wer wiederholt gegen diese Vorschriften verstößt, riskiert bis zu fünf Jahre Haft. Selbst wer sich nur zufällig am Ort einer "nicht genehmigten" Veranstaltung aufhält, muss mit Strafverfolgung rechnen. Hinzu kommt, dass die Polizei bei der Auflösung von Protestveranstaltungen häufig unverhältnismäßige Gewalt anwendet. Protestierende werden während und nach ihrer Festnahme geschlagen, dürfen oft nicht zur Toilette gehen oder etwas trinken, müssen ihre Telefone abgeben und erhalten keinen Zugang zu Rechtsbeiständen. Darüber hinaus bedrohen Polizist_innen die Festgenommenen häufig und erheben haltlose Vorwürfe gegen sie. Diese Menschenrechtsverstöße werden von den Behörden so gut wie nie untersucht.