Drohende Hinrichtung

Mehrere Galgenstricke, im Hintergrund ein großes Banner mit der Aufschrift "Stop Child Executions"

Amnesty-Aktion 2006 in Berlin gegen Hinrichtungen von Kindern im Iran

Dem 21-jährigen Iraner Abolfazl Naderi droht die Hinrichtung im Gefängnis von Arak. Abolfazl Naderi war zum Zeitpunkt seiner Festnahme erst 16 Jahre alt. Er ist nach einem grob unfairen Verfahren zum Tode verurteilt worden. Die "Geständnisse", die dem Gericht als Grundlage dienten, entstanden Abolfazl Naderis Angaben zufolge unter Folter.

Appell an

Stellvertretender Generalsekretär des Hohen Rats für Menschenrechte im Iran

Kazem Gharib Abadi

Esfandiar Boulevard

Tehran, IRAN

Sende eine Kopie an

Sprecher des Parlamentarischen Rechtsausschusses

Haj Hassan Norouzi


Islamic Consultative Assembly

Baharestan Square

Tehran, IRAN

Botschaft der Islamischen Republik Iran

S.E. Herrn Ali Majedi

Podbielskiallee 65-67

14195 Berlin

Fax: 030–83 222 91 33

E-Mail: info@iranbotschaft.de

Amnesty fordert:

  • Ich bitte Sie, die Hinrichtungspläne gegen Abolfazl Naderi zu stoppen und sicherzustellen, dass sein Todesurteil ohne Verzögerungen für nichtig erklärt wird und dass er ein faires Neuverfahren in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Jugendstrafverfahrens erhält. Ein solches Verfahren darf nicht auf die Todesstrafe zurückgreifen oder sich auf Aussagen stützen, die unter Folter oder anderweitiger Misshandlung und in der Abwesenheit eines Rechtsbeistands gewonnen wurden.
  • Bitte führen Sie außerdem eine unparteiische und transparente Untersuchung der von Abolfazl Naderi erhobenen Folter- und Misshandlungsvorwürfe durch und ziehen Sie die Verantwortlichen in Prozessen, welche internationale Standards für faire Gerichtsverfahren erfüllen, zur Rechenschaft.
  • Ändern Sie bitte Paragraf 91 des Islamischen Strafgesetzbuches von 2013 ab, sodass die Todesstrafe für Personen, die zum Tatzeitpunkt jünger als 18 Jahre alt waren, uneingeschränkt und in Übereinstimmung mit den iranischen Verpflichtungen gemäß des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und der Kinderrechtskonvention abgeschafft wird. Dieser Grundsatz darf nicht durch Ermessensspielräume von Gerichten oder andere Ausnahmeregelungen umgangen werden können.
  • Erlassen Sie bitte umgehend ein Hinrichtungsmoratorium mit dem Ziel, die Todesstrafe ganz abzuschaffen.

Sachlage

Der 21-jährige Abolfazl Naderi sitzt seit 2013 im Todestrakt des Gefängnisses von Arak, der Hauptstadt der Provinz Markazi im Zentral-Iran. In dem Jahr war er in Zusammenhang mit dem Tod eines Freundes zum Tode verurteilt worden. Zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Straftat im Juni 2012 war er 16 Jahre alt. Seitdem hat er durchgehend seine Unschuld beteuert. Am 6. Februar 2018 erfuhr Amnesty International, dass die Behörden ihn am 23. Januar 2018 in Vorbereitung auf seine Hinrichtung in Einzelhaft verlegt hatten. Die Hinrichtung war jedoch verschoben worden, nachdem die Familie des Opfers eingewilligt hatte, Abolfazl Naderi zu begnadigen und auf ihren Vergeltungsanspruch gemäß dem Prinzip der "Vergeltung gleicher Art" (qesas) zu verzichten. Stattdessen forderten sie ein "Blutgeld" (diyah) in der Höhe von drei Milliarden Iranischen Rial (umgerechnet etwa 66.000 Euro), das die Familie von Abolfazl Naderi binnen zwei Monaten zahlen sollte.

Abolfazl Naderi war im Juli 2013 im Alter von 17 Jahren nach einem grob unfairen Verfahren von der Abteilung 1 des Strafgerichts in der Provinz Markazi wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Das Gericht nutzte für das Urteil "Geständnisse", die laut wiederholter Aussagen von Abolfazl Naderi unter Folter entstanden waren. Er war im Juli 2012 festgenommen worden und danach 14 Tage lang auf einer Polizeiwache in Einzelhaft festgehalten worden, ohne Kontakt zu seiner Familie oder einem Rechtsbeistand. Er sagt, dass Polizeiangehörige ihn während dieser Zeit von der Decke hängen ließen, ihm Schläge auf die Fußsohlen versetzten, ihn mit einer hölzernen Rute schlugen und ihm nichts zu trinken gaben. Abolfazl Naderis Angaben zufolge versuchte er, seine "Geständnisse" zurückzunehmen, als man ihn einem Ermittler der Staatsanwaltschaft vorführte, doch der Ermittler drohte ihm, dass man ihn in diesem Falle zur Polizeiwache zurückbringen und erneut foltern werde. Beim Gerichtsverfahren jedoch brachte Abolfazl Naderi seine Foltervorwürfe vor und beteuerte seine Unschuld. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Gericht seinen Anschuldigungen nachgegangen ist und Ermittlungen eingeleitet hat. Abolfazl Naderi sagt, dass die Behörden ihn etwa zwei Jahre lang nicht über sein Todesurteil informiert hätten, um ihm Verzweiflung zu ersparen. Erst nachdem er ins Gefängnis in Arak verlegt wurde, erfuhr er von seiner Verurteilung zum Tode.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Im iranischen Strafrecht hat die Familie eines Mordopfers das Recht, die Verurteilung zum Tode und die Vollstreckung des Urteils der Mörderin oder des Mörders zu fordern. Dies geschieht nach dem islamischen Prinzip qesas, also "Vergeltung gleicher Art". Die Familie hat aber auch die Macht, dem oder der Schuldigen zu vergeben und stattdessen die Zahlung einer Kompensationszahlung zu akzeptieren. Diese Zahlung wird als diyah ("Blutgeld") bezeichnet.

Abolfazl Naderi war im Juni 2012 festgenommen worden, nachdem er zur Polizei gegangen war, um den Suizid seines Freundes zu melden. Die Polizei wies die Behauptung, der Verstorbene habe sich selbst getötet, zurück und bestand darauf, dass er ermordet worden war. Also wurde Abolfazl Naderi des Mordes angeklagt, außerdem legte man ihm Alkoholkonsum und "Geschlechtsverkehr mit einem Mann" (lavat) zur Last. Letzterer Anklage lag ein forensischer Bericht zugrunde, welcher Anzeichen von analen Blutungen bei dem Verstorbenen feststellte und diese auf eine mögliche Penetration zurückführte.

Später wurde Abolfazl Naderi von diesem Vorwurf freigesprochen. Das Gericht entschied, dass die Analblutungen auch das Ergebnis einer stumpfen Gewalteinwirkung auf die Hoden gewesen sein könnten. Stattdessen verurteilte die Abteilung 1 des Strafgerichts ihn aufgrund "gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakts ohne Penetration" (tafkhiz) zu 100 Peitschenhieben. Die Beweisgrundlage für diesen Schuldspruch wird in der Urteilsschrift, die Amnesty International einsehen konnte, nicht deutlich. Das Gericht verurteilte Abolfazl Naderi weiterhin zu 80 Peitschenhieben wegen des Konsums von Alkohol. Die Strafen sind bisher noch nicht vollstreckt worden.

Abolfazl Naderi sagt, dass die Behörden ihn nie über sein Recht, eine Neuverhandlung zu beantragen, aufgeklärt haben. Dieses Recht ist in den Regelungen zu Jugendstrafverfahren im Islamischen Strafgesetzbuch des Iran von 2013 festgelegt. Abolfazl Naderi erfuhr davon jedoch nur zufällig durch einen Zeitungsartikel, etwa im Jahr 2016. Allerdings besaß er sowieso nicht die Mittel, um einen Rechtsbeistand zu bezahlen, der den Antrag für ihn hätte einreichen können. Anfang 2017 nahm sich ein Rechtsbeistand auf ehrenamtlicher Basis seines Falles an und reichte einen Antrag auf das Wiederaufnahmeverfahren ein. Der Antrag wurde vom Obersten Gericht im Juni oder Juli 2017 abgelehnt.

Bei der Strafverfolgung und Verurteilung von Abolfazl Naderi hat die Abteilung 1 des Strafgerichts in der Provinz Markazi eine entscheidende Regelung außer Acht gelassen: In Artikel 91 des Islamischen Strafgesetzbuchs des Irans von 2013 gibt es Regelungen zur Verurteilung von Jugendlichen, die es der Richterperson überlassen, zu ermessen, ob das Todesurteil durch eine andere Bestrafung ersetzt werden soll. Gründe hierfür können sein, dass der_die jugendliche Straftäter_in die Natur seines_ihres Verbrechens oder dessen Konsequenzen nicht verstanden hat, oder Zweifel an der "mentalen Reife" des_der Jugendlichen zum Zeitpunkt der Straftat. Die Regelungen über jugendliche Strafbarkeit im iranischen Strafrecht verletzen die fest etablierten Prinzipien der Jugendstrafverfahren, welche besagen, dass Individuen unter 18 Jahren grundsätzlich als weniger reif behandelt werden müssen, und dass sie nie genauso wie Erwachsene bestraft werden dürfen.

Iran ist Mitgliedstaat des Übereinkommens über die Rechte des Kindes und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Beide verbieten ohne Ausnahme die Anwendung der Todesstrafe gegen Personen, die zum Zeitpunkt der Straftat das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Dennoch wenden die iranischen Behörden weiterhin bei jugendlichen Straftäter_innen die Todesstrafe an. Zwischen 2005 und 2018 hat Amnesty International im Iran die Hinrichtungen von 88 Personen dokumentiert, die zum Zeitpunkt ihrer Straftat noch nicht 18 Jahre alt waren. Vier Personen davon wurden 2017 hingerichtet, im Jahr 2018 waren es bereits drei Personen. Die tatsächlichen Zahlen liegen mit einiger Wahrscheinlichkeit noch deutlich höher.

Amnesty International hat auch die Namen von mindestens 80 Todeskandidat_innen ermittelt, die zum Zeitpunkt der Straftaten, für die sie verurteilt wurden, ebenfalls noch keine 18 Jahre alt waren. Viele von ihnen haben für lange Zeiträume im Todestrakt gesessen und ihre Hinrichtung erwartet; manche sogar länger als ein Jahrzehnt. Einige hatten schon wiederholt Termine für ihre Hinrichtungen, die dann jedoch wieder verschoben wurden – manche davon in letzter Minute. Dieses Vorgehen steigert die Qual der Todeskandidat_innen noch erheblich.