Amnesty Journal Deutschland 25. Juli 2016

Lieder einer versunkenen Welt

Zeichnung von Symbolen der Religionen Christentum, Islam, Judentum und Hinduismus

Das Repertoire des jüdischen Musik-Labels "Semer" aus Berlin wurde in der Reichspogromnacht 1938 zerstört. Nun ist es neu aufgenommen worden.

Von Daniel Bax

In der Nacht des 9. November 1938 griff der organisierte Mob nicht nur zahlreiche Synagogen an und brannte sie nieder. Auch andere Zentren jüdischen Lebens in Deutschland wurden angegriffen, darunter die "Hebräische Buchhandlung" im Berliner Scheunenviertel. Deren Besitzer Hirsch Lewin betrieb den Musikverlag "Semer", der Aufnahmen jüdischer Musiker herausgab. In seinem Geschäft verkaufte Lewin Gegenstände des religiösen Alltags wie Gebetsschals und Kerzen, aber auch Geschichts- und Kinderbücher sowie Grammophonplatten. In der Pogromnacht verbrannten die Nazi-Schergen vor dem Laden unzählige Bücher, Schallplatten und Möbel auf einem Scheiterhaufen mitten auf der Straße. 4.500 Schallplatten und 250 Matrizen wurden dabei zerstört.

Hirsch Lewin war im Ersten Weltkrieg als Zwangsarbeiter aus Vilnius verschleppt worden, um in einer Lokomotivfabrik zu arbeiten, und anschließend in Berlin geblieben. Erst 1930 hatte er sich mit seinem Buchladen selbstständig gemacht, 1932 gründete er das Label "Semer" (Hebräisch für "Gesang"). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verboten diese jüdischen Musikern, mit nicht-jüdischen Musikern zu spielen und aufzutreten. Bei "Semer" fanden sie Aufnahme, im doppelten Wortsinne, das Programm der Veröffentlichungen reichte von jiddischen Schlagern und Volksliedern über Opernarien bis hin zu kantoraler Musik. Gesungen wurde auf Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Russisch und Italienisch.

1939 wurde Hirsch Lewin verhaftet und im Lager Sachsenhausen bei Oranienburg inhaftiert. Nach einem halben Jahr wurde er unter der Bedingung entlassen, das Land sofort zu verlassen. Über Umwege gelangte er nach Palästina, wo sich die ganze Familie 1944 wiedertraf – sie gehörte zu den wenigen, die vollzählig den Holocaust überlebte. Mit Hilfe seines Sohnes Zeev stieg Hirsch Levin in Israel wieder ins Musikgeschäft ein, nach seinem Tod 1958 führte jener die Geschäfte weiter.

2012 beauftragte das Jüdische Museum in Berlin den Klezmer-Experten und Musiker Alan Bern damit, das "Semer"-Repertoire neu zu interpretieren. Zuvor hatte es der Musikethnologe Rainer E. Lots geschafft, den gesamten Katalog aus allen Ecken der Erde zusammenzutragen: Viele Originalaufnahmen wurden nur gerettet, weil Auswanderer sie im Koffer ins Exil mit­genommen hatten. Mit namhaften Künstlern wie Lorin Sklamberg (The Klezmatics), Daniel Kahn und Paul Brody aus Berlin stellte Allen Bern ein All-Star-Ensemble zusammen, das den verschollenen Weisen neues Leben einhaucht. In drei Exklusiv-Konzerten im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters wurden sie eingespielt: Opernarien und jiddische Chansons, Cabaret-Schlager, russische Volksweisen und liturgische Gesänge. Es sind Lieder von Liebe, Affären und Eifersucht, von Krieg, Religion und Sozialismus, Zeugnisse einer versunkenen Welt. So wie der populäre jiddische Schlager "Lebka fährt nach Amerika", der von einem ­Familienvater erzählt, der Frau und Kinder in Europa sitzen lässt, in die Neue Welt auswandert und dort wieder heiratet.

Semer Ensemble: Rescued Treasure (Piranha / Indigo / K7)

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