Amnesty Journal 03. Juni 2014

Der Schmerz des Grenzübertritts

Auf der Flucht: Szene aus "Unsichtbare Hände"

Auf der Flucht: Szene aus "Unsichtbare Hände"

Ville Tietäväinens Graphic Novel "Unsichtbare ­Hände" begleitet einen nordafrikanischen Flüchtling nach Europa. Ein fiktiver Einzelfall zeigt, wie grausam das europäische Grenzregime ist.

Von Maik Söhler

Der europäischen Flüchtlingspolitik sind in den vergangenen Jahren Tausende Menschen zum Opfer gefallen. Charakteristisch für diese Politik ist ein System, das befestigte Anlagen, eine hochgerüstete Grenzschutz­agentur Frontex und verschiedene politische und juristische Maßnahmen umfasst. Ziel ist es, genügend Flüchtlinge in die EU zu lassen, um stets ausreichend Niedriglohnarbeiter in Branchen zu haben, in denen Europäer nicht arbeiten wollen. Alle anderen werden hingegen abgewiesen.

Indes braucht es die große Erzählung vom tödlichen europäischen Grenzsystem nicht, um von denselben Ergebnissen zu berichten. Ein genauer Blick auf einige der Einzelfälle kann das auch. Ville Tietäväinen, finnischer Autor und Illustrator, zeigt, wie es geht: Seine neue Graphic Novel "Unsichtbare Hände" nimmt sich auf mehr als 200 Seiten einen solchen Einzelfall vor und breitet eine Geschichte voller Hoffnung und Tragik vor uns aus.

Es ist die Geschichte von Rashid, einem marokkanischen Tagelöhner, dessen Einkünfte aus der Schneiderei, gelegentlichem Fischfang und ein wenig Landwirtschaft schon lange nicht mehr reichen, um das tägliche Leben von Frau, Kind und seinen gebrechlichen Eltern zu sichern. Aufgrund von Familientraditionen, religiösen Bräuchen und der schwierigen ökonomischen ­Situation Marokkos sieht Rashid kaum Chancen, seine Situation zu verbessern.

Europa lockt. Da sind die Reden jener Nachbarn und Freunde, die aus Belgien, Frankreich oder Spanien zurückgekehrt sind und die dort zeitweise ihr Auskommen gefunden haben. Dabei werden die schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migranten in Europa nicht verschwiegen: harte Arbeit im Bergbau, Gesundheitsprobleme durch Pestizide in der Obst- und Gemüseindustrie, ein Alltag in Migranten­ghettos am Rande der Großstädte, Polizeiwillkür, Diskriminierung, Rassismus. Wie groß muss das Elend sein, wenn trotz alledem Europa als Paradies erscheint? Rashid nimmt Kontakt mit Schleppern auf, lässt alles zurück und macht sich auf den Weg nach Spanien.

Der Sozialanthropologe Marko Juntunen schreibt im Vorwort des Buches: "Das Phänomen, das man in Europa illegale Einwanderung nennt, heißt in Marokko harraga. Mit dem Wort ist der Übergang oder die Grenzüberquerung gemeint, es bezieht sich aber auch auf das Verbrennen von Dokumenten und den Schmerz in der Brust eines Mannes, von dem erwartet wird, der Ernährer zu sein."

Harraga also. Bei der Überfahrt in einem überfüllten Boot kommt Rashid fast zu Tode. Seine nächste Station auf den großen Gemüseplantagen im Süden Spaniens ist gekennzeichnet von schlecht bezahlter Arbeit, einem kargen Leben im Müll am Rande der Plantagen und den Debatten, die er mit seinen arabischen Freunden führt: Warum verweigert der Staat migrantischen Arbeitern einen legalen Status? Wie kann ein gläubiger Muslim in einer solchen Situation seinen religiösen Geboten nachkommen? Warum reicht das Einkommen nicht, um die Familie in Marokko nennenswert zu unterstützen? War es in Marokko nicht doch besser?

In Tietäväinens Zeichnungen überwiegen in jenem Kapitel die Farben Ocker, Braun und Grau. Erst im weiteren Verlauf des Buches wird der Leser feststellen, dass hier – aller Not, Plackerei und Schikanen von Vorarbeitern auf den Gemüsefeldern zum Trotz – die hellsten Zeichnungen des Buches zu finden sind. Es ist ein beschwerliches Leben, das Rashid führt, doch es gibt ihm ein wenig von der Sicherheit zurück, die seit der Abreise aus Marokko verlorengegangen ist. Das gute Leben in Europa ist zwar anderswo, der Traum davon bleibt ihm jedoch vorerst erhalten.

Doch die Erntesaison endet, Rashid macht sich ohne Papiere auf den Weg in den Norden Spaniens und landet in Barcelona. Er verkauft Ramsch an Touristen, versucht sich als Kleindealer, bettelt und lebt auf der Straße, sein Verfall beschleunigt sich von Pinselstrich zu Pinselstrich, von Bild zu Bild, von Seite zu Seite. Ein alter Bekannter bringt Hoffnung und eine Perspektive auf ein anderes Leben. Hilfe naht. Doch es ist zu spät. "Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist frei erfunden, aber es gibt tausende Variationen davon, die wahr sind", heißt es im Vorspann.

Ville Tietäväinens fiktiver Einzelfall eines Flüchtlings, der in Europa sein Glück sucht und scheitert, versammelt alles, was man über die Wechselwirkungen von Migration und Politik, Ökonomie und Moral sowie das europäische Grenzregime und seine Auswirkungen auf Menschen inner- und außerhalb der EU wissen sollte. Teile der europäischen Wirtschaft bauen auf der Arbeit von Flüchtlingen auf, die aber im Alltag unsichtbar bleiben müssen, weil ihr Dasein angeblich illegal ist. Die "Festung Europa" ist aus ökonomischen Gründen durchlässig, so entstehen Träume, die nur für die wenigsten in Erfüllung gehen. Kapitalismus, Rassismus und die Abwesenheit von Moral auf der einen Seite gehören zusammen mit Vereinzelung, Entrechtung und materieller wie psychischer Not auf der anderen.

Tietäväinen hat für diesen Zusammenhang das richtige Medium, die richtige Sprache und die richtigen Bilder gefunden. "Unsichtbare Hände" ist ein Meisterwerk, weil es eine widersprüchliche Politik und vielfältige Emotionen in Zeichnungen und Sprache übersetzt. Und weil es die Komplexität von Armutsmigration zu fassen versucht und damit dem Einzelnen im brutalen, politisch und wirtschaftlich gewollten Grenzsystem jenen Raum gibt, den ihm Europa verweigert. Die Illustrationen erfassen Rashid jenseits aller ökonomischen Zurichtungen und rassistischen Zuschreibungen von Grenzbeamten, Polizisten, Vorarbeitern und Nachbarn; aber auch jenseits von romantisierenden antirassistischen Projektionen; er ist ein Mensch, der Fehler macht, und das nicht zu knapp.

Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände. Aus dem Finnischen von Alexandra Stang. Lettering: Tinet Elmgren. Avant-Verlag, Berlin 2014. 216 Seiten, vierfarbig, 34,95 Euro. Von jedem verkauften Buch gehen zwei Euro an Pro Asyl.

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