Amnesty Journal Schweiz 04. Februar 2010

Minarett-Verbot: Gemeint sind die Menschen

57,5 Prozent haben sich bei einer Volksabstimmung in der Schweiz gegen den Bau neuer Minarette ausgesprochen. Bei einer Beteiligung von 53 Prozent sind das rund 30 Prozent aller stimmberechtigten Schweizer. Es ging dabei um mehr als um ein simples Bauverbot, das machte Ueli Maurer, der für die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) in der Bundesregierung sitzt, nach der Abstimmung klar: "Das ist die erste Überfremdungsinitiative, die angenommen wurde." Mit dem Verbot sind eigentlich nicht Bauwerke gemeint, sondern Menschen: im konkreten Fall die Muslime, aber allgemeiner "die Ausländer" insgesamt.

Der Schock sitzt immer noch tief, denn kaum jemand hatte mit einem Erfolg der Initiative gerechnet. Die Schweizer Regierung und – mit Ausnahme der SVP – alle größeren Parteien hatten aufgerufen, mit Nein zu stimmen. Das war’s allerdings auch schon. Weder hatte das Parlament einen Gegenvorschlag ausgearbeitet, noch engagierten sich die Parteien im Abstimmungskampf. Dabei hätte es gar nie zu dieser Abstimmung kommen dürfen: Schuld an der Situation ist ein schwaches Parlament, dem einmal mehr die Zivilcourage fehlte, eine Initiative für ungültig zu erklären, die gegen nationales und internationales Recht verstößt.

Die direkte Demokratie der Schweiz bringt es mit sich, dass hin und wieder Stimmungen an die Oberfläche gespült werden, die in anderen Ländern allzu leicht unter den Teppich gekehrt werden können. Ein im Dezember 2009 veröffentlichter Bericht der EU-Agentur für Grundrechte zeigt, wie weitverbreitet die Diskriminierung von Minderheiten in der EU ist. Demnach wurde einer von drei Muslimen in den letzten zwölf Monaten diskriminiert. Der Applaus der extrem rechten Parteien in anderen europäischen Staaten – wie Dänische Volkspartei, Lega Nord, FPÖ, Front National und NPD – macht deutlich, dass die Schweiz auch in Bezug auf Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Rassismus kein Sonderfall ist. Das ist allerdings weder Trost noch Entschuldigung.

Wie der Konflikt zwischen direkter Demokratie und Rechtsstaat entspannt werden kann, hat Liechtenstein 1992 vorgemacht. Das Fürstentum führte vor dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum die Vorprüfung von Volksinitiativen ein, um zu verhindern, dass übergeordnetes Recht verletzt wird. Eine solche Vorprüfung ist auch in der Schweiz nötig. Der entsprechende Verfassungsartikel könnte gemäß Alain Griffel, Staatsrechtler an der Universität Zürich, lauten: "Eine Volksinitiative, die gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, gegen andere Menschenrechtsgarantien oder gegen die Grundwerte dieser Verfassung verstößt, ist ungültig."

Das Bauverbot für Minarette wird – daran bestehen kaum Zweifel – beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchfallen. Für diesen Fall hat die SVP angekündigt, sie werde die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangen. Die Abstimmung vom 29. November zeigt, dass einmal erstrittene Errungenschaften immer wieder verteidigt werden müssen, damit sie Bestand haben. Es geht nach dieser ­Abstimmung darum, die Bedeutung von rechtsstaatlichen Prinzipien, Völkerrecht und Menschenrechten in Erinnerung zu rufen und fest im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Denn sie sind die Basis der ­Demokratie und wer sie in Frage stellt, stellt die Demokratie in Frage.

Von Jürg Keller.
Der Autor ist Redakteur des Schweizer Amnesty-Magazins.

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