Amnesty Journal Belarus 10. Februar 2009

Der Wald als Bühne

Das "Freie Theater Weißrussland" beweist zweierlei: Im Reich Alexander Lukaschenkos, des letzten ­Diktators Europas, rührt sich künstlerischer ­Widerstand. Doch ist er nur im Untergrund möglich.

Die Weihnachts- und Neujahrswünsche an das weißrussische Volk kamen per Videobotschaft. Der ehemalige Dissident und erste Präsident des nachkommunistischen Tschechien, Vaclav Havel, verbreitete Optimismus: "Ich bin fest davon überzeugt", sagte er, "dass, auch wenn Weißrussland derzeit nur mit einem Bein in einem freien Europa steht, das Land früher oder später dort auf zwei Beinen ankommen wird."

Nikolai Khalezin und Natalja Koljada dürften Havel besonders aufmerksam zugehört haben. Im März 2005 gründeten der Dramatiker und seine Frau, eine Journalistin und Menschenrechtsaktivistin, das "Freie Theater Weißrussland", zu dessen künstlerischen und politischen Paten Havel gehört. Das Theater ist der Versuch, dem autoritären Regime Alexander Lukaschenkos von der Bühne aus Paroli zu bieten. Khalezin und Koljada wollen ihr Projekt so lange fortführen, bis "sich die Situation in Weißrussland von einer Diktatur hin zu einer Demokratie ­gewandelt hat", wie es auf der Homepage des Theaters heißt (www.dramaturg.org).

Doch bis dahin werden die beiden mit ihrer Schauspielertruppe, deren sieben Mitglieder zwischen 25 und 46 Jahre alt sind, noch einen langen Atem brauchen. Seit 1994 herrscht der Autokrat Alexander Lukaschenko, und schon kurz nach seinem Amtsantritt machte er alle Hoffnungen auf eine Demokratisierung des seit 1991 unabhängigen Zehn-Millionen-Einwohnerstaates zunichte. Dabei ist der frühere Leiter einer Kolchose bei der Wahl der Mittel zu seinem Machterhalt alles andere als zimperlich.

Seit Ende der neunziger Jahre sind ein halbes Dutzend Regimekritiker spurlos verschwunden – ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt. Regelmäßig werden bei Anti-Lukaschenko-Kundgebungen Demonstranten von der Miliz zusammengeschlagen und mehrere Tage lang in Gewahrsam genommen. Der Vertrieb der wenigen oppositionellen Zeitungen, die meistens im Ausland gedruckt werden müssen, wird behindert, die Redaktionen und ihre Mitarbeiter werden mit Klagen überzogen.

Auch im Bildungswesen hat Lukaschenko gründlich aufgeräumt. Die Europäische Humanistische Universität, die nach europäischen Lehrplänen unterrichtete, wurde vor einigen Jahren aus dem Land getrieben, das Weißrussische Lyzeum geschlossen. Studenten werden in obligatorischen Kursen über die Staatsdoktrin Weißrusslands auf Linie gebracht. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen September gelangte kein einziger Vertreter der Opposition in die Volksversammlung. Laut OSZE, deren Beobachter dem Urnengang gnädigerweise beiwohnen durften, entsprach die Abstimmung auch dieses Mal nicht demokratischen Standards.

Angesichts eines derart repressiven Umfeldes ist es nicht überraschend, dass die Staatsmacht die Theatermacher Khalezin und Koljada schon längst ins Visier genommen hat. Denn die Inhalte, die von ihnen in Szene gesetzt werden, sind in Weißrussland mit einem Tabu belegt. Die erste Aufführung des Freien Theaters – "4,48 Psychose" der britischen Dramatikerin Sarah Kane – behandelt den geistigen Verfall einer Frau, Homosexualität und Selbstmord. Das Stück "Atemtechnik im Vakuum" der Russin Natalja Moschina erzählt vom Sterben eines krebskranken Mädchens in einem Hospiz. "Generation Jeans", ein Monolog über innere Freiheit und Rockmusik, in den Nikolai Khalezin auch seine eigenen Erfahrungen im Gefängnis einfließen lässt, ist gleichsam eine Parabel auf den Sturz des autoritären Regimes nach dem Vorbild der Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahre 2004. Das Stück "Being Harold Pinter" ist eine Collage aus der Literaturnobelpreisrede des britischen Dramatikers und Briefen weißrussischer Gefangener. Der kürzlich verstorbene Pinter – ebenfalls einer der Paten des Freien Theaters – war von der Inszenierung so angetan, dass er den Minsker Theatermachern die Aufführungsrechte an seinen Stücken unentgeltlich überließ.

Die weißrussische Journalistin und Theaterkritikerin Inna Stusinskaja hat bereits mehrere Aufführungen des Freien Theaters besucht. "Ich war zuerst geschockt, denn was ich dort sah, ist für uns sehr ungewohnt", sagt sie. Jedoch würden in dem Theater reale Geschichten aus dem Leben erzählt, die durch ihre Wahrhaftigkeit und die Schärfe der Emotionen beeindruckten. "Bestimmt sind nicht alle Aufführungen Meisterwerke", sagt Stusinskaja, "aber auf seine Art bedeutet dieses Theater in Weißrussland einen Durchbruch".

Die Journalistin muss fast ein wenig lachen, als sie berichtet, auf welch verschlungenen Wegen sie in die Vorstellungen des Theaters gelangte. Denn diese werden nicht beworben, sondern Insidern per SMS angekündigt. Doch auch diese Vorsichtsmaßnahme schützt die Schauspieler, die alle schon einmal in Haft waren und ihre Arbeit an den staatlichen Theatern verloren haben, nicht vor dem Zugriff der Staatsmacht. So stürmten Spezialeinheiten der Polizei am 7. August 2007 während der Premiere des Stückes von Edward Bond "Eleven Vests" die Vorstellung und nahmen die Schauspieler samt aller Zuschauer vorübergehend fest. Im vergangenen November wurde Andrej Koljada, Professor für Schauspiel an der Weißrussischen Kunstakademie und Vater von Natalja Koljada, wegen seiner Zusammenarbeit mit dem Freien Theater entlassen. "Sie schaden dem Ruf der Akademie", beschied ihm der Rektor.

Aus Angst vor Repressionen sind mittlerweile kein Club und keine Bar in der Hauptstadt Minsk mehr bereit, dem Theater Räumlichkeiten zu vermieten. Deshalb muss die Truppe auf Privatwohnungen, halb verfallene Häuser oder die Straße ausweichen. Auch in einem Waldstück fanden schon Aufführungen statt. Da verwundert es nicht, dass auch die Finanzierung vor allem eine private Angelegenheit ist: Ein Großteil der Gelder stellt der Bruder von Natalja Koljada, der als Geschäftsmann in den USA lebt, zur Verfügung.

Das Theater ist häufig in Westeuropa, aber auch in den USA und Australien auf Tournee und wurde kürzlich in London mit dem Preis für die Freiheit des künstlerischen Schaffens (Freedom to Create Award) ausgezeichnet. Derzeit arbeitet das Team mit "Euretika Challenge" an einem europäischen Epos. Daran beteiligt sind vierzehn Dramaturgen aus Europa, den USA, Russland und Weißrussland, die durch das Prisma der letzten Diktatur in Europa auf die Welt blicken. Das Stück soll am 28. Februar im schwedischen Lund uraufgeführt werden.

"Natürlich stehen wir alle hier unter enormem Druck", sagt Natalja Koljada. Die Tatsache, dass die EU vor einigen Monaten mehrere Sanktionen gegen Weißrussland gelockert hat – im vergangenen Frühjahr waren einige politische Gefangene freigelassen worden – hält sie "für einen Verrat Europas an den demokratischen Werten". Trotz dieses Rückschlags will sie nicht aufgeben. "Auch hier gibt es Menschen, die Veränderungen wollen, wenn auch auf ganz verschiedene Art", sagt sie. "Deshalb kämpfen wir weiter."

Von Barbara Oertel.
Die Autorin ist Osteuropa-Redakteurin und lebt in Berlin.

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