Amnesty Journal 01. September 2020

Jetzt geht’s rund

Ein Mann in kurzer Hose und T-Shirt läuft mit mit einer US-amerikanischen Flagge in der Hand unter den Wasserfontänen eines Springbrunnens entlang.

Der israelische Journalist Nadav Eyal hat mit "Revolte" ein interessantes Buch über den Widerstand gegen die Globalisierung geschrieben. Leider versteht er nicht, was Globalisierung bedeutet.

Von Maik Söhler

Frühling, Sommer und Herbst haben zwei Dinge gemein. Sie sind Jahreszeiten, und sie sind nicht Winter. Ansonsten sind sie so unterschiedlich, wie es verschiedene Jahreszeiten nun mal sind. Neonazis, Umweltschützer und manche Arbeitnehmer in den USA haben zwei Dinge gemeinsam. Sie sind Menschen, und sie sind nicht einverstanden mit Folgen der Globalisierung. Ansonsten sind sie so unterschiedlich, wie es verschiedene Menschen nun mal sind.

Doch es gibt noch etwas, was sie eint: Der israelische Journalist Nadav Eyal hat sie als Akteure auserkoren, um in seinem neuen Buch "Revolte" am "weltweiten Aufstand gegen die Globalisierung" teilzuhaben, wie es im Untertitel heißt. Es ist ein interessantes Buch; interessant, weil Eyal gleich mehrfach mit sehr schrägen Grundannahmen hantiert, die in der Summe dann doch allerlei Stoff zum Nachdenken ­geben.

Schräg ist allein schon der Begriff der Globalisierung, den der Autor verwendet. Obwohl er eine gute Definition zur Hand hat, der zufolge Globalisierung "eine immer umfassendere, immer tiefere und immer schnellere Vernetzung von Staaten, Kulturen und Individuen" ist, lässt sich Eyal an vielen Stellen dazu hinreißen, Globalisierung bloß als Synonym für einen technologiebasierten weltumspannenden Kapitalismus zu verwenden.

Noch schräger ist, dass faschistischer Heimatschutz, ökologischer Aktivismus gegen den Klimawandel und Mittelschichts­ängste vor dem Jobverlust für ihn zu ein- und derselben "Revolte" gegen eben diesen technologiebasierten weltumspannenden Kapitalismus gehören. Was für ein Quatsch! Dabei sind die einzelnen Kapitel des Buches durchaus lesenswert; die Recherchen gehen tief, die Analysen sind klug, die Übergänge meist sinnvoll.

Doch dann das: "Die Absicht, das Experiment der Grenzkontrolle zu befördern und die Grenzen letztlich hermetisch abzuriegeln, zielt darauf, die verlorene Kontrolle in einer globalisierten Welt wiederzugewinnen", schreibt der Autor über nationalistische Regierungen. Die aber tun nur, was nationalistische Regierungen auch schon vor 100 oder 200 Jahren gemacht haben. Nationalisten brauchen keine "verlorene Kontrolle" als Vorwand, um sich und ihre Basis für etwas Besseres zu halten.

"Revolte" ist deshalb nur eingeschränkt zu empfehlen. Wer immer noch nicht verstanden hat, wie es zum Brexit kommen konnte, warum Donald Trump Präsident der USA wurde und weshalb die AfD in Deutschland in allen Landesparlamenten und im Bundestag sitzt, der kann es in diesem Buch nachlesen. Es nimmt zudem unfreiwillig vieles an regionalen und nationalen Befindlichkeiten vorweg, die uns im Zuge der Corona-Krise noch länger begleiten werden. Denn 90 Prozent aller Maßnahmen gegen das Virus wurden und werden im nationalen Rahmen getroffen; selten haben supranationale Institutionen wie die EU oder die UNO so tatenlos zusehen müssen, wie sich Grenzen schlossen und sich Nationen bis zum Ende der Quarantäne einigelten. Vor diesem Hintergrund wirkt Eyals Appell, die Bedeutung der Nationalstaaten endlich aufzuwerten, nur noch komisch.

Nadav Eyal: Revolte. Aus dem Hebräischen von Ruth ­Achlama. Ullstein, Berlin 2020. 496 Seiten, 29,99 Euro

 

Weitere Bücher

Vergessener Einsatz für Demokratie

von Lea De Gregorio

Der Konflikt um Hongkong kommt nicht zur Ruhe. Ende Mai hat Chinas Volkskongress das umstrittene "Sicherheitsgesetz" gebilligt. Kritiker fürchten, es könne das Ende der Autonomie und Demokratiebewegung in der Sonderverwaltungszone bedeuten. Der 1996 geborene Joshua Wong ist das jugendliche Gesicht der Demokratiebewegung. Sein Buch "Unfree Speech", das er gemeinsam mit Jason Y. Ng geschrieben hat, liest sich stellenweise wie eine Gebrauchsanweisung für Aktivisten, aber gibt auch einen guten Einblick in die Geschichte der Proteste in Hongkong: angefangen von den Schülerprotesten über die Regenschirm-Bewegung bis hin zu den Demonstrationen gegen ein Gesetz, das die Auslieferung beschuldigter Personen an China ermöglicht. Teils euphorisch, teils ernüchtert schildert Wong die Höhen und Tiefen der Demokratiebewegung und seinen Weg zum Aktivisten. Bereits als Schüler gründete er die Gruppe "Scholarism", die gegen die Einführung chinesischer, nationalistischer Tendenzen im Bildungsplan kämpfte. Das Kernstück des Buches bilden Tagebucheinträge und Briefe, die er im Gefängnis schrieb, nachdem er wegen seines Engagements inhaftiert worden war. "Nirgendwo auf der Welt wird der Kampf zwischen freiem Willen und Autoritarismus deutlicher als hier", schreibt er. Die Demokratie sei global gefährdet und müsse global verteidigt werden.

Joshua Wong, Jason Y. Ng: Unfree Speech. Aus dem ­Englischen von Irmengard Gabler und Karl Picher.

S. Fischer, Frankfurt/Main 2020. 208 Seiten, 16 Euro

Rebellische Forscher

von Lea De Gregorio

Wissenschaftliche Forschung klassifizierte Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach "Rassen". Doch gab es eine Reihe Ethnologen, die sich gegen dieses rassistische Weltbild stellten: In seinem Buch "Schule der Rebellen" porträtiert Charles King diese Forscher rund um den Anthropologen Franz Boas (1858–1942) sehr anschaulich. Sie lehnten das Konzept zivilisatorischer Entwicklungsstufen ab und wandten sich gegen eine Hierarchisierung von Kulturen. Außerdem waren sie Vorbilder für spätere Fachrichtungen wie die Gender Studies. Doch was heute als fortschrittlich gilt, führte damals zu Gegenwind. King widmet sich in seinem Buch dem Leben und Wirken der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. So begleitet der Leser etwa die Boas-Schülerin Margaret Mead auf eine Forschungsreise nach Samoa. Neben Einblicken in ihre Forschung erfährt man, was sie und andere Ethnologen einst umtrieb, und unter welch prekären Lebensumständen sie ihre Studien betrieben. "Schule der Rebellen" schildert die Entwicklung der modernen Anthropologie, die der aus Minden stammende Boas in den USA begründete. Lesenswert ist das Buch daher für alle, die sich für die Geschichte der Ethnologie und prominente Vertreter des Faches interessieren, aber auch für diejenigen, die mehr wissen wollen über frühe Begründer ­eines modernen Menschenbildes.

Charles King: Schule der Rebellen. Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. Hanser, München 2020. 480 Seiten, 26 Euro

Krieg, Frieden, Straßenbau

von Maik Söhler

Eine Straße soll gebaut werden. Eine gerade Straße, die zwei Teile eines armen Landes verbinden wird. Die verfeindeten Landesteile haben gerade ihren Bürgerkrieg beendet. Bald will der Präsident auf dieser Straße eine Militärparade abhalten. Zwei Arbeiter aus einem wohlhabenden Land reisen an, um den Straßenbelag in kurzer Zeit zu planieren und die Straße zu vollenden. Das Ziel wird erreicht, doch die Ausführung droht an allerlei widrigen Umständen vor Ort zu scheitern und der Nutzen des Bauwerks bleibt mehr als zweifelhaft. Der US-Schriftsteller Dave Eggers, der für gute Literatur ("Weit gegangen", "Zeitoun") ebenso bekannt ist wie für sein menschenrechtliches Engagement (seine Buchreihe "Voice of Witness" untersucht gefährdete Menschenrechte), legt mit "Die Parade" eine Parabel zur Arbeit von Entwicklungshelfern vor. Er stellt dabei eine wichtige Frage und bietet zugleich Antworten an: Wenn Entwicklungshelfer ihrem Auftrag gerecht werden, wem kommt das zugute? Dem Auftraggeber? Den Entwicklungshelfern? Der Bevölkerung vor Ort? Ihrem Präsidenten? Seinen Gegnern? "Die Parade" ist ein wunderbar klar konstruierter Roman mit einer bewusst einfachen Sprache und einem überschaubaren Figurenfundus. Wer wie Eggers in diesem Buch aus solch simplen Zutaten eine derart verstörende Wirkung entfalten kann, der hat verstanden, was Kunst ist.

Dave Eggers: Die Parade. Aus dem Englischen von ­Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 192 Seiten, 20 Euro

Schwankender Übergang

von Marlene Zöhrer

Der Ozean "lebte, als wäre er selbst ein eigenes, lebendiges Wesen. Er sprudelte, brüllte, schäumte und spukte Blasen und Schaum." In Alan Gratz’ Jugendroman ist das Meer weder Sehnsuchtsort noch Urlaubsziel, es ist eine Naturgewalt, die es zu überleben gilt. Eindrücklich verwebt der US-amerikanische Autor drei Fluchtgeschichten, in denen das Meer eine zentrale, tödliche Rolle einnimmt. Der fundiert recherchierte Roman ist deshalb etwas Besonderes, weil er den Kunstgriff nutzt, Fluchten aus unterschiedlichen Zeiten parallel zu erzählen, die sich trotz aller Unterschiede erschreckend gleichen. Josef und seine Familie müssen Berlin 1939 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verlassen und gehen in Hamburg an Bord der St. Louis, die sie nach Kuba bringen soll. Isabel, ihre Familie und die Familie ihres besten Freundes Ivan besteigen 1994 in der Nähe von Havanna nachts ein kleines, selbstgebautes Boot, um nach Florida zu gelangen. Mahmouds Familie flieht nach einem Bombenangriff, bei dem ihre Wohnung zerstört wird, aus Aleppo, um in Berlin ein neues Leben ohne Krieg und Zerstörung zu beginnen. In allen drei Geschichten ist das Meer ein Ort des Übergangs, der nicht nur für die Hoffnung und den Aufbruch in ein besseres Leben steht, sondern auch das Erwachsenwerden der Protagonist*innen markiert.

Alan Gratz: Vor uns das Meer. Drei Jugendliche.

Drei Jahrzehnte. Eine Hoffnung. Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel. Hanser, München 2020. 299 Seiten, 17 Euro. Ab 12 Jahren

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