Amnesty Journal 28. März 2013

Teilen, herrschen und dazulernen

Der US-Journalist William J. Dobson nimmt sich in seinem neuen Buch "Diktatur 2.0" eine Reihe ­autoritär regierter Staaten vor. Ihre Fähigkeit zur ­Anpassung ist enorm, doch die Angst vor der eigenen Bevölkerung bleibt.

Von Maik Söhler

Diktatur 2.0" steht in dicken Lettern auf dem Titel und schon nach den ersten Seiten wundert man sich: Warum geht es hier nicht um Nordkorea, Iran, Weißrussland, Äquatorialguinea und Kuba – sondern um Russland, Venezuela, China, Malaysia und Ägypten?

Ganz einfach, erklärt der US-Journalist William J. Dobson ("New York Times", "Washington Post", "Foreign Policy") im Prolog: "Natürlich hat es auch eine Handvoll rückwärtsgewandter Diktaturen der alten Schule irgendwie ins 21. Jahrhundert geschafft. (…) Aber sie stehen für die Vergangenheit der Diktatur. Sie geben sich wenig bis überhaupt keine Mühe, etwas anderes darzustellen, als sie sind. Sie sind zu fernen Außenposten abgestiegen, während andere Regimes gelernt haben, sich zu entwickeln, zu verändern und in manchen Fällen auch zu florieren."

Dobson nimmt die Umbrüche des Jahres 2011 in vielen arabischen Ländern zum Anlass, die Herrschafts- und Machtstrukturen in diktatorischen und in formal demokratischen, de facto aber semidiktatorischen Staaten zu untersuchen. Besonders interessiert ihn, wie autoritäre Regime auf Veränderungswünsche der Bevölkerung reagieren und wie sie auf potenzielle Bedrohungen der Macht antworten oder ihnen sogar zuvorkommen. Der Autor ist viel gereist, hat mit Staatsvertretern und Parteifunktionären ebenso gesprochen wie mit Dissidenten und Bürgerrechtlern. So enthält "Diktatur 2.0" facetten- und detailreiche Regimeporträts und Strukturanalysen verschiedener Formen von repressiver Herrschaft.

Da ist zum Beispiel die russische Regierung. Sie ist eher mehr als weniger demokratisch legitimiert und hält sich zumindest im groben Rahmen an die Gewaltenteilung bürgerlicher Staaten. Damit genügt sie nicht einfach nur demokratischen Formalien, sondern sie hat sich, wie Dobson herausarbeitet, darauf spezialisiert, die Instrumente des Rechtsstaats als Waffe gegen ihre Gegner einzusetzen. Prozesse und nicht selten auch Haft sind die Folgen, die russische Oppositionelle zu spüren bekommen. Gleichzeitig bieten die Gesetze Dissidenten auch Möglichkeiten, die Pläne des russischen Staates teilweise zu durchkreuzen. Flexibilität und Einfallsreichtum auf beiden Seiten ­sowie ein dynamisches Rechtssystem sind die Folge.

Viel Raum nimmt in Dobsons Buch die Situation in Venezuela unter Hugo Chávez ein. Mit demokratischen Mitteln an die Macht gekommen, kann er sich dort nun seit fast 15 Jahren halten – nicht zuletzt dank seiner Medienpolitik. Wo andere Regime alle Medien verstaatlichen und kritische Stimmen mit Zensur belegen, sieht Dobson in Chávez’ Venezuela ein anderes Prinzip verwirklicht: "Indem die Regierung keine klaren Regeln vorgibt, hält sie die unabhängigen Medien in einer ständigen Ungewissheit." Fernsehsender, die heute den Präsidenten kritisieren, würden morgen nicht einfach verboten. Eine Prüfung des Finanz- oder Kartellamts könne aber zu ähnlichen Ergebnissen führen.

Auch Parteien und politische Bewegungen werden nicht einfach verboten, Konkurrenten des Präsidenten erfahren ein ganzes Sammelsurium an Benachteiligungen und Schikanen: Prozesse wegen Korruption, rückwirkende Gesetzesänderungen, seltsame Verwaltungsentscheidungen, Medienkampagnen, Einschüchterungen und Drohungen, Verbündete, die sich plötzlich abwenden.

Auch aus dem politischen System Malaysias trägt Dobson ähnliche Fälle zusammen: Oppositionsführer werden wegen "Sodomie" angeklagt, man lanciert Schmutzkampagnen wegen angeblicher Homosexualität, Abgeordnete werden bestochen oder mit zusätzlichen Privilegien ausgestattet. All dies kann den Kampf der Opposition um die Macht, bzw. in vielen Fällen zunächst einmal nur um Chancengleichheit, schwächen. Doch Dobson betont auch: "Geduld ist die wichtigste Tugend für diejenigen, die in einem repressiven politischen System in die Rolle des Oppositionsführers schlüpfen. Sie ist wichtiger als Wagemut, Tapferkeit und List. Wer einen Diktator herausfordert, lässt sich auf einen sehr langen Kampf ein."

Dobson beschreibt und analysiert Regime um Regime, Land um Land, wobei Themen wie "Opposition", "Jugend" und "Technokraten" die Struktur seines Buches prägen und nicht die einzelnen Staaten. Pathos ist ihm fremd, Emotionalität ebenso. Doch wenn es um China geht, liest man zwischen den Zeilen Verblüffung und Respekt heraus. Die Art und Weise, wie die chinesische Regierung seit vielen Jahren zugleich auf die Herausforderungen der Globalisierung und der inneren Dynamik des bevölkerungsreichsten Landes der Welt reagiert, bringt den Autor sichtlich in Verlegenheit.

Am stärksten ist Dobson dort, wo er die diversen Widerstandsbewegungen zusammenführt, wo Politikberater, Demokratie-Aktivisten, findige Rechtsanwälte und Pioniere des gewaltfreien Kampfes aufeinandertreffen. Welche Fehler wurden gemacht, welche lassen sich vermeiden? Wie ist die spezifische Situation in einem Land? Wer sind die Gegner, wer die Bündnispartner? Wann ist Handeln angesagt, wann Rückzug?

Für Bürgerrechtler und NGOs sollte "Diktatur 2.0" – trotz des leicht verstaubt klingenden Titels – zur Pflichtlektüre gehören. "Ein moderner Diktator sucht nach Wegen, um die Diktatur zu erneuern, damit sie widerstandsfähig, flexibel und in gewisser Weise auch leistungsfähig bleibt", schreibt der US-Journalist in seinem Epilog. Dobson ist ein gutes Buch gelungen, weil er auf die alten und neuen Mechanismen der Macht fokussiert. Einige seiner Argumente und Begriffe funktionieren nur im Kontext und könnten sich analytisch als schwierig erweisen. Was genau unterscheidet die mögliche Medienmanipulation in Venezuela von der in den USA? Warum steht eine Wahlrechtsreform in Russland gleich unter Verdacht, in Deutschland aber nicht? Unbeantwortete Fragen bieten den Vorteil einer weiteren, vertiefenden Debatte. Dobson wird in ihr hoffentlich mit lauter Stimme zu vernehmen sein.

William J. Dobson: Diktatur 2.0. Aus dem Amerikanischen von Enrico Heinemann und Karin Schuler. Blessing Verlag, München 2012, 496 Seiten, 19,95 Euro.

Schlagworte

Amnesty Journal

Weitere Artikel