Amnesty Journal Mexiko 28. März 2013

Lebenselixier ­Hoffnung

Der mexikanische Menschenrechtsverteidiger Vidulfo Rosales Sierra hat eine Morddrohung erhalten. Aufgeben will er aber trotzdem nicht.

Von Vanya Püschel

Die Drohung war eindeutig. Er solle aufpassen, was er tue, stand auf dem Blatt Papier. Falls er sich weiterhin "überall einmische", könne er schon mal Blumen für sein Grab sammeln. "Wir verfolgen Dich, wir wissen was Du tust und wohin Du gehst. Du wirst sterben, sterben, sterben, hahaha."

Die anonyme Morddrohung, die Vidulfo Rosales Sierra im April 2012 erreichte, war ein massiver Einschnitt in sein Leben. Seit zehn Jahren arbeitet der 35-Jährige im Menschenrechtszentrum "Tlachinollan", das im Jahr 2011 mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International ausgezeichnet wurde und sich vor allem für die Rechte der marginalisierten indigenen Bevölkerung im mexikanischen Bundesstaat Guerrero einsetzt. Vor 18 Jahren wurde die Nichtregierungsorganisation gegründet, Vidulfo Rosales Sierra leitet ihre juristische Abteilung.

Besonders zynisch war die Abschiedsfloskel des Drohbriefs: "Mit freundlichen Grüßen, das Gesetz." Immer, wenn sich Vidulfo Rosales Sierra daran erinnert, verengen sich seine Augen, und der Schock ist für eine Sekunde wieder spürbar. Weil seine Sicherheit nach dieser Drohung nicht mehr garantiert werden konnte, musste er sein Heimatland für zwei Monate verlassen. Amnesty International forderte die mexikanische Regierung damals in einer Eilaktion dazu auf, unverzüglich effektive Schutzmaßnahmen für Vidulfo Rosales Sierra und seine Kollegen zu ergreifen. Doch wirklich geschützt fühlt er sich bis heute nicht.

"Egal, welche Fälle ich betreue, ich kann in Guerrero kaum jemandem helfen, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen", sagt der Menschenrechtsverteidiger. Wie zuletzt im Falle der Studentenunruhen von Ayotzinapa: Als mexikanische Sicherheitskräfte die Proteste an einer Hochschule niederschlugen, richteten sie zwei Studenten hin – ohne Prozess und ohne Urteil. Viele weitere Demonstranten wurden willkürlich inhaftiert und gefoltert. Vidulfo Rosales Sierra verteidigte die Opfer und brachte die Fälle zur Anzeige – und schob sich damit selbst in die Schusslinie.

Bis heute kann er in Guerrero nicht allein auf die Straße gehen. Arbeitskollegen begleiten ihn. Seine drei Söhne – elf, neun und sieben Jahre alt – dürfen sich zu ihrem eigenen Schutz nicht mit dem Vater sehen lassen. Kein Eisessen, kein Spielplatz, kein Kino. "Das ist kein normales Leben mehr." Doch Vidulfo Rosales Sierra will trotzdem weitermachen. Der ruhige, zurückhaltende Mann wuchs als einer von acht Söhnen in Totomixtlahuaca auf, einem der ärmsten Dörfer des Bundesstaats, ohne Strom und ohne medizinische Versorgung. Um zur Grundschule zu gelangen, musste er stundenlang zu Fuß gehen.

Seine Eltern sind Bauern, die selbst diskriminiert wurden. "Das war meine Motivation, Jura zu studieren. Ich wollte gegen die Ungerechtigkeit aktiv werden." Als Student fällt er auf, weil er kritische Fragen stellt und unkonventionelle Antworten gibt. Er geht für Bildungsreformen und gegen die Diskriminierung der indigenen Gemeinschaften auf die Straße und knüpft schließlich Kontakt zu Menschenrechtsaktivisten, die ihm 1999 eine Stelle in einem Menschenrechtszentrum vermitteln.

Vidulfo Rosales Sierra ist ein Mensch, der seine Gedanken zu Ende denkt, bevor er sie ausspricht. "Ich habe gemeinsam mit meiner Familie beschlossen, hier zu bleiben und weiterzumachen", sagt er. Die Wochenenden hält er sich immer für seine Kinder frei. Es ist ihm ein bisschen peinlich, aber grinsend gesteht er, dass er dann gern Gitarre spielt und am liebsten die traditionellen Lieder aus den Bergen singt. Vidulfo Rosales Sierra ist ein Mensch, der sich gern freut, auch über kleine Erfolge – wenn beispielsweise ein Verfahren eingeleitet wird und bei seinen Mandanten nach langem Schmerz wieder Hoffnung aufkommt: "Das ist mein Lebenselixier."

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