Amnesty Journal 12. Februar 2010

"Wir wollen unsere Geschichten selbst erzählen"

An Filmstoff gibt es in Afrika keinen Mangel, allerdings fehlen Geld und ein kritisches Bewusstsein gegenüber Medien. Ein Gespräch mit der Afrika-Beauftragten der Berlinale Dorothee Wenner.

Dorothee Wenner ist Delegierte der Berlinale für Afrika südlich der Sahara und Indien. 2007/2008 leitete die 48-jährige Filmkritikerin und Regisseurin den Berlinale Talent Campus. Ihr jüngster Film "Peace Mission", eine Dokumentation über Nigerias Filmindustrie, lief auf über 30 Festivals.

Wie hat man sich den Filmkontinent Afrika vorzustellen?
Es gibt derzeit einige tolle Filme über Afrika von westlichen Filmemachern – etwa "D’Arusha à Arusha" von Christophe Gargot über die Folgen des Bürgerkrieges in Ruanda. Aber es sind viel zu wenige – im Vergleich zu der Relevanz, die etwa Ruanda für die Weltpolitik und für uns alle haben sollte. Die Leute, die als Westler in Afrika Filme machen, haben meist eine sehr persönliche Motivation – zum Beispiel Bettina Haasen, die Regisseurin des Films "Hotel Sahara". Sie hat drei Jahre für den Deutschen Entwicklungsdienst in Westafrika gearbeitet, bevor sie diesen Film in Mauretanien gedreht hat. Oder auch der Schweizer Berni Goldblatt, der schon seit vielen Jahren in Burkina Faso lebt und nun einen Film über Goldminenarbeiter gemacht hat. Häufig beginnen solche Projekte dank eines großen individuellen Engagements, das es schon allein deswegen braucht, weil es wahnsinnig schwierig ist, für solche Filme Produzenten oder Geldgeber zu finden. So wichtig diese Filme für uns sind – es sind Filme über Afrika, die für Afrika zumeist keine wichtige Rolle spielen. In Afrika dagegen ist einiges ins Rollen gekommen, seit eine wachsende Zahl von jungen Filmschaffenden vehement fordert: Wir wollen und müssen unsere Geschichten selbst erzählen, für unser eigenes Publikum. Und an Geschichten gibt es in Afrika keinen Mangel. An der Speerspitze dieser neuen Bewegung steht dabei die nigerianische Filmindustrie, die unter dem nicht ganz unumstrittenen Label "Nollywood" bekannt wurde.

Das Medium Film scheint sehr wichtig, gerade hinsichtlich der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen.
Unbedingt. Ich finde aber auch, dass die politischen Entwicklungen in den afrikanischen Medien bei uns – wenn überhaupt – fälschlicherweise nur im Kulturbereich diskutiert werden. Dabei braucht man sich nur an Ruanda zu erinnern: Eine kleine Radiostation hat eine entscheidende Rolle bei diesem Völkermord gespielt. Einen ungleich größeren Einfluss auf die afrikanischen Gesellschaften insgesamt üben logischerweise Filme aus, die derzeit zwar noch vor allem in Nigeria produziert werden, aber auf dem ganzen Kontinent gesehen werden. Neben vielen säkularen Regisseuren – guten und weniger guten – produzieren dort etwa auch radikale Christen Filme. Und die verkünden, dass diese oder jene Kirche das Allheilmittel gegen Aids sei, dass es ohne Glauben keinen Weg aus der Arbeitslosigkeit gibt und dass, wer sich daran nicht hält, in der Hölle landet. Vor einiger Zeit ist ein Film entstanden, in dem Waisenkinder als Hexen verflucht werden, und in Nigeria und anderen Ländern gibt es viele Waisenkinder, Kinder mit Problemen, Kindersoldaten.
Wenn seither Kinder vermehrt als Hexen verfolgt werden, ist das nur ein Beispiel dafür, wie unmittelbar die gesellschaft­lichen Konsequenzen dieser Filme sein können, viel krasser und direkter oft als bei uns. Es gibt – hier wie dort – zu wenig kritische Medien, zu wenig kritisches Bewusstsein für die enorme Bedeutung der Medien.

Film also als Propagandainstrument.
Man darf und sollte den afrikanischen Film keineswegs darauf reduzieren. Aber – ja, Film wird auch in Afrika immer mehr ganz bewusst als politisches Propagandainstrument eingesetzt, im Schlechten wie im Guten. Ein Beispiel: Die populärste Darstellerin Nigerias ist Genevieve Nnaji. Sie nutzte ihre Berühmtheit und führte einen Friedensmarsch an, als sich die Verhandlungen im Bürgerkrieg von Sierra Leone festgefahren hatten, in dem Nigeria eine große Rolle spielte. Diese Geschichte zeigt, dass Filme auch anders bewegen können. Es gibt ja auch Filme mit progressivem Inhalt. Einige Nigerianerinnen mit feministischem Background haben mir gesagt, dass sich dank Nollywood die Situation der Frauen maßgeblich verbessert hat. Die meisten Menschen in Afrika sind sich sehr bewusst, dass sie im Medienzeitalter leben. Mit Filmen ist es so: Einerseits wollen die Menschen die universelle Geschichte. Andererseits möchten sie sich ganz konkret wiedererkennen. Filme haben die Funktion, "role models" und Zukunftsvisionen zu prägen. Hier ist Afrika auf der Suche.

Welche Auswirkungen hat dies für Ihre Arbeit?
Wir können nicht mehr so wie früher hier sitzen und darauf warten, dass uns die Afrikaner ihre Filme schicken, und wir entscheiden dann, das gefällt uns, das gefällt uns nicht. Wir haben einiges in den letzten Jahren etabliert, um die Filmschaffenden in Ländern mit schwachen Infrastrukturen zu unterstützen. Zum Beispiel gibt es in Kooperation mit der Deutschen Welle ein Programm für Festivalorganisatoren aus Afrika und Asien. Wir bei der Berlinale brauchen diese Kontakte dringend. Und andersherum bietet unser Festival – eines der größten der Welt – Organisatoren von kleineren Festivals hervorragende Möglichkeiten, sich international zu profilieren: Sie können Filme sehen und mit Produzenten und Regisseuren aus aller Welt direkt in Kontakt kommen.

Nun driften Festival- und Kinobetrieb ja sehr stark auseinander.
In Afrika spielen Festivals eine extrem wichtige Rolle dabei, eine fast tote Kinolandschaft mit einer neuen Medienkultur wiederzubeleben. Deswegen ist es eine wichtige Aufgabe, afrikanischen Festivalmachern zu ermöglichen, sich überhaupt kennenzulernen. Denn ein großes Problem ist, dass es so gut wie keinen innerafrikanischen Austausch gibt.
Dieses Kontaktnetz herzustellen und die Berlinale als Plattform plus Management-Kurse dafür anzubieten, das ist ein ganz wichtiges Anliegen dieses Programms. Darüber hinaus haben wir den Berlinale Talent Campus, der sich dezidiert mit einem nachhaltigen Programm an junge Filmemacher aus aller Welt richtet, zudem kooperieren wir mit dem Filmfestival im südafrikanischen Durban. Dank der Unterstützung durch die Deutsche Botschaft in Pretoria und das Goethe-Institut in Johannesburg konnte im Juli 2009 der zweite Campus in Durban erfolgreich durchgeführt werden.
Das vielleicht folgenreichste Förderinstrument ist der Berlinale World Cinema Fund, der als gemeinsame Initiative mit der Kulturstiftung des Bundes und in Kooperation mit dem Goethe-Institut gegründet wurde: Er bietet unter anderem afrikanischen Filmschaffenden die Möglichkeit, finanzielle Förderung für ihre Filme zu bekommen. Das Geld fließt an einen deutschen Produzenten, wird aber im jeweiligen Ursprungsland ausgegeben. So konnte zum Beispiel der Film "Faro – La Reine des Eaux" in Mali gedreht werden. Es war nach mehreren Jahren Produktionspause endlich wieder ein Film, der in diesem Land von einem einheimischen Filmemacher realisiert werden konnte. Wichtig ist uns aber auch, dass diese Filme dann vom deutschen Publikum gesehen werden können, nicht nur auf der Berlinale.

Kann man sagen: Für große Festivals führt kein Weg an afrikanischen Ländern vorbei?
Dort lebt immerhin ein Fünftel der Menschheit! Im Globalisierungszeitalter zu denken, dass wir nichts damit zu tun haben, was heute im Kongo oder im Sudan passiert, ist Augenwischerei. Und nicht nur, weil in Teneriffa die Leichen von Migranten angeschwemmt werden. Jedes Tässchen Kaffee, jede Weintraube, jeder Keks ist unmittelbar in diesem Kontext zu sehen. Die Bilder, die Filme, die wir über und aus Afrika sehen, haben einen enormen Einfluss darauf, wie sich unser Verhältnis zu Afrika weiterentwickelt. Mindestens genauso wichtig sind afrikanische Filme für fast alles, was in nächster Zukunft auf dem Kontinent passieren wird.

Interview: Jürgen Kiontke

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