Amnesty Report 20. Mai 2010

Tschad 2010

Amtliche Bezeichnung: Republik Tschad Staatsoberhaupt: Idriss Déby Itno Regierungschef: Youssouf Saleh Abbas Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 11,2 Mio. Lebenserwartung: 48,6 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 220/201 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 31,8%

Die Lage im Osten des Tschad war auch 2009 von Menschenrechtsverstößen und Instabilität gekennzeichnet, obwohl dort eine UN-Friedensmission stationiert war. Zivilpersonen und Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen wurden verschleppt und ermordet. Frauen und Mädchen waren Vergewaltigungen und anderen Formen von Gewalt ausgesetzt. Kinder wurden weiterhin als Soldaten eingesetzt. Die Behörden ergriffen keine geeigneten Maßnahmen, um die Zivilbevölkerung gegen Angriffe krimineller Banden und bewaffneter Gruppen zu schützen. Vermeintliche politische Gegner wurden widerrechtlich festgenommen, willkürlich in Haft gehalten und gefoltert oder in anderer Weise misshandelt. Menschenrechtsverteidiger und Journalisten waren weiterhin Einschüchterungen und Schikanen ausgesetzt. Tausende Menschen wurden obdachlos, da ihre Häuser abgerissen wurden.

Hintergrund

Es wurde weiterhin über die auf 2010 verschobenen Parlamentswahlen und die auf 2011 verschobenen Präsidentschaftswahlen diskutiert. Auch die Umsetzung der politischen Vereinbarung, die 17 tschadische Parteien am 13. August 2007 in der Hauptstadt N’Djamena unterzeichnet hatten, war Gegenstand von Diskussionen. Die für die Wahlen erforderliche Volkszählung endete am 30. Juni. Am 16. Juli stimmte die Nationalversammlung über ein neues Parteiengesetz ab. Ungeachtet der Proteste der Opposition ernannte der Präsident im Juli die 30 Mitglieder der Wahlkommission sowie deren Leiter. Am 25. Juli unterzeichnete die Regierung ein Friedensabkommen mit der Nationalbewegung (Mouvement National), einem Bündnis von drei bewaffneten Oppositionsgruppen im Tschad. Mehrere Friedensabkommen, die zwischen dem Tschad und dem Sudan ausgehandelt worden waren, wurden nicht umgesetzt. Am 3. Mai unterzeichneten die beiden Staaten in Doha ein weiteres Abkommen, das auf Vermittlung der Regierung von Katar zustande gekommen war. Die Diskussion über die Umsetzung aller unterzeichneten Friedensabkommen dauerte das gesamte Jahr über an. Außer den Flüchtlingen im Osten des Tschad (siehe unten) lebten im Süden des Landes noch mindestens 56000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik in Lagern.

Situation im Osten

Die Sicherheitslage im Osten des Landes war weiterhin angespannt. Es kam zu zahlreichen Übergriffen trotz der Anwesenheit von 806 Sicherheitskräften der Détachement Integré de Securité (DIS). Aufgabe der von den UN ausgebildeten tschadischen Polizeieinheit war es, die Sicherheit in den Städten und in den Lagern für Binnenflüchtlinge in der Region zu gewährleisten. Auch die Präsenz der UN-Mission in der Zentralafrikanischen Republik und im Tschad (MINURCAT) änderte wenig an der unsicheren Lage. Am 14. Januar verlängerte der UN-Sicherheitsrat das Mandat der MINURCAT bis März 2010 und beschloss eine militärische Komponente, um die Europäische Überbrückungsoperation EUFOR abzulösen. Im Februar unterzeichnete die MINURCAT mit der tschadischen Regierung eine gemeinsame Absichtserklärung und mit der EUFOR eine technische Vereinbarung zur Übergabe von Einrichtungen der EUFOR an die MINURCAT. Mitte September belief sich das Kontingent der MINURCAT auf 2665 Soldaten. Es umfasste damit etwas mehr als die Hälfte der zugesicherten Truppenstärke.

Im Januar schlossen sich acht bewaffnete Oppositionsgruppen zum Bündnis der Widerstandskräfte (Union des Forces de la Résistance – UFR) zusammen. Die Führung übernahm Timane Erdimi, ein Neffe und ehemaliger Berater von Präsident Idriss Déby Itno. Anfang Mai brachen nahe der Ortschaft Am Dam an der Grenze zum Sudan Kämpfe zwischen der UFR und der Regierungsarmee aus. Nach Angaben der Regierung wurden dabei 225 oppositionelle Kämpfer getötet und 212 gefangen genommen. In den Reihen der Armee gab es den Angaben zufolge 22 Todesopfer. Im Anschluss flog die tschadische Luftwaffe Bombenangriffe auf sudanesischem Staatsgebiet. Als Vergeltung bombardierten die sudanesischen Streitkräfte ihrerseits Ende Mai die tschadische Kleinstadt Bahai. Der Sudan legte wegen der Angriffe des Tschad bei den Vereinten Nationen Beschwerde ein.

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen

Bewaffnete Gruppen aus dem Tschad und dem Sudan sowie kriminelle Banden, die im Osten des Landes operierten, verübten zahlreiche Menschenrechtsverstöße. Sie töteten und vergewaltigten Angehörige der Zivilbevölkerung und entführten Menschen, um Lösegeld zu erpressen, darunter auch Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen. Nach UN-Angaben gab es im Osten des Tschad zwischen Januar und Mitte Oktober 2009192 Angriffe bzw. Überfälle auf Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen. Aufgrund der steigenden Zahl von Übergriffen stellten sechs regierungsunabhängige Hilfsorganisationen ihre Tätigkeit in der Region am 13. November ein.

  • Am 26. Oktober 2009 wurde Michel Mitna, der Leiter des Büros der tschadischen Behörde für die Aufnahme und Wiedereingliederung von Flüchtlingen (CNAR) in Guéréda, von Banditen erschossen. Er war zwischen Guéréda und Abeché im Osten des Tschad in einem Auto unterwegs, das deutlich als Fahrzeug des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) gekennzeichnet war. Sein Fahrer wurde bei dem Überfall verletzt. Die Angreifer entkamen.

  • Am 9. November 2009 verschleppten Bewaffnete in der Ortschaft Kawa, 20 km von der Grenze zur sudanesischen Region Darfur entfernt, den französischen Agrarwissenschaftler Laurent Maurice. Er arbeitete für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Das IKRK stellte daraufhin seine Tätigkeit in der Region ein.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen wurden im Osten des Landes nach wie vor Opfer von Vergewaltigungen und anderen Formen sexueller Gewalt. Die Verantwortlichen für diese Verbrechen genossen Straffreiheit.

Kindersoldaten

Im Osten des Landes wurden weiterhin Kinder als Soldaten rekrutiert, und zwar sowohl von der Armee als auch von bewaffneten tschadischen Oppositionsgruppen, aber auch von bewaffneten Gruppen aus dem Sudan.

  • Bei den Kämpfen gegen die UFR im Mai machte die Armee unter den Kämpfern der UFR 84 Kindersoldaten ausfindig. Sie wurden dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) übergeben und später in ein Durchgangslager gebracht.

Flüchtlinge und Vertriebene

2009 befanden sich im Osten des Tschad noch immer über 260000 Flüchtlinge aus der sudanesischen Region Darfur. Sie waren auf zwölf Flüchtlingslager verteilt. Es gab außerdem mindestens 180000 Binnenflüchtlinge an 38 verschiedenen Orten. Die Flüchtlinge und die intern Vertriebenen lebten unter schwierigen Umständen und waren weitgehend schutzlos, vor allem wenn sie sich außerhalb der Lager bewegten. Sie wurden häufig von bewaffneten Gruppen aus dem Tschad und dem Sudan sowie von Angehörigen der tschadischen Sicherheitskräfte und von kriminellen Banden überfallen.

["Verschwindenlassen"

]Der Aufenthaltsort zahlreicher Männer, die zwischen 2006 und 2008 nach ihrer Festnahme durch Regierungskräfte "verschwanden", blieb unbekannt. Zu ihnen zählte auch der Oppositionsführer Ibni Oumar Mahamat Saleh, der am 3. Februar 2008 festgenommen worden war. Es gab Befürchtungen, dass er nicht mehr lebt.

Willkürliche Festnahmen und Haft

Die Behörden nahmen Menschen häufig willkürlich fest und hielten sie ohne Anklage in Haft. Einige waren in Einrichtungen der Sicherheitskräfte inhaftiert, in denen Besuche verboten waren.

  • Am 20. Juli 2009 wurde Haroun Mahamat Abdoulaye, Sultan des Departments Dar Tama im Osten des Tschad, in seinem Haus von Polizisten festgenommen. Anschließend hielt man ihn in N’Djamena in einer Einrichtung der Sicherheitskräfte in Haft, ohne Anklage gegen ihn zu erheben. Im November 2007 war er schon einmal festgenommen worden, weil man ihn verdächtigte, Verbindungen zur ehemaligen bewaffneten Oppositionsgruppe Vereinigte Front für den Wandel (Front Uni pour le Changement) zu unterhalten.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen waren weiterhin verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt, darunter Genitalverstümmelungen und Zwangsverheiratungen. Mädchen, die gerade einmal 13 Jahre alt waren, wurden zur Heirat gezwungen. Dies betraf auch Mädchen in den Lagern für Flüchtlinge und Vertriebene.

  • Im August 2009 forderte der UN-Menschenrechtsausschuss das Land auf, ein Mädchen vor sexuellem Missbrauch im Gefängnis zu schützen. Es war im Alter von 13 Jahren zur Ehe gezwungen worden und befand sich seit 2004 im Gefängnis, da es seinen 70 Jahre alten Ehemann vergiftet haben soll. Das Mädchen wurde im Gefängnis mehrfach vergewaltigt, wurde daraufhin schwanger und brachte ein Kind zur Welt.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Nach wie vor waren Journalisten Einschüchterungen und Schikanen ausgesetzt. Der vom Präsidenten während des Notstands im Februar und März 2008 verfügte Erlass Nr. 5 blieb in Kraft. Der Erlass schränkte die Pressefreiheit ein und erhöhte das Strafmaß bei Verstößen. So konnten Journalisten für die Veröffentlichung "falscher Informationen" zu Haftstrafen von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Dies galt auch für den neuen Straftatbestand der "Beleidigung des Staatspräsidenten, des Regierungschefs, von Ministern und ausländischen Diplomaten".

  • Innocent Ebode, der aus Kamerun stammende Chefredakteur der Zeitung La Voix du Tchad, wurde am 14. Oktober 2009 in einem Schnellverfahren aus dem Tschad ausgewiesen. Die Behörden warfen der Zeitung vor, sie habe Verwaltungsvorschriften zur Herausgabe von Zeitungen im Tschad missachtet. Außerdem habe sich der Chefredakteur seit seiner Ankunft im Juni 2009 illegal im Land aufgehalten. Die Ausweisung von Ebode erfolgte, nachdem in einem Artikel eine Äußerung des tschadischen Umweltministers kritisiert worden war. Dieser hatte gesagt, der Friedensnobelpreis hätte eigentlich an Präsident Idriss Déby Itno gehen müssen für dessen Verdienste zum Schutz der Umwelt.

  • Am 28. November 2009 wurde Eloi Miandadji, ein Reporter von La Voix du Tchad, festgenommen und mehrere Stunden inhaftiert. Er hatte sich zuvor dem Minister für Inneres und Öffentliche Sicherheit vorgestellt und um ein Interview gebeten. Die Festnahme erfolgte, nachdem der Reporter den Minister zur Verwendung von Polizeifahrzeugen befragt hatte, woraufhin der Minister ihn beschimpfte. Eloi Miandadji wurde später dazu gebracht, ein Dokument zu unterschreiben, in dem er erklärte, nichts über seine Festnahme oder die Frage nach den Polizeifahrzeugen zu schreiben. Sicherheitskräfte beschlagnahmten außerdem die Speicherkarte seiner Kamera. Der Minister sagte ihm, La Voix du Tchad würde demnächst geschlossen. Am 3. Dezember ordnete ein Gericht in N’Djamena die Schließung der Zeitung und die Beschlagnahmung sämtlicher Ausgaben an.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger liefen 2009 weiterhin Gefahr, bedroht, überfallen oder festgenommen zu werden.

  • Am 13. Oktober wurde Michel Barka, der Vorsitzende der großen Gewerkschaft Union Syndicale du Tchad, auf einer Autofahrt verfolgt und schließlich zum Anhalten gezwungen. Er wendete seinen Wagen und entkam. Am selben Tag wurde er ein weiteres Mal verfolgt, und zwar von einem Motorradfahrer, der ein Gewehr auf ihn richtete.

  • Ebenfalls am 13. Oktober wurde Masalbaye Tenebaye, der Vorsitzende der Tschadischen Liga für Menschenrechte (Ligue tchadienne des droits de l’homme), von Unbekannten verfolgt, als er sich auf dem Heimweg von einem Treffen mit einer internationalen Partnerorganisation befand. Dieselben Personen verfolgten ihn auch am Tag darauf. Staatsvertreter sicherten Masalbaye Tenebaye bei einem Treffen am 20. Oktober zu, man werde Maßnahmen zu seinem Schutz ergreifen und den Vorfällen nachgehen.

Zwangsräumungen

Auch 2009 wurden Menschen in mehreren Stadtteilen von N’Djamena mit Gewalt aus ihren Wohnungen vertrieben, so z. B. in den Vierteln Moursal, Chagoua und Goudji. Die Häuser wurden abgerissen, und Tausende von Menschen wurden obdachlos.

Mit Hilfe von kommerziellen Satellitenaufnahmen dokumentierte Amnesty International das Ausmaß der Zerstörungen in N’Djamena. So wurden im Zeitraum zwischen Januar 2008 und Ende Januar 2009 mehr als 3700 Gebäude abgerissen. Einige Bewohner hatte man rechtzeitig gewarnt, dass ihre Häuser abgerissen werden sollten, die meisten Betroffenen wurden jedoch nicht informiert. Einige Häuser wurden abgerissen, obwohl gerichtliche Unterlassungsverfügungen vorlagen. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Betroffenen erhielt Ersatzunterkünfte bzw. eine Entschädigung.

  • Apollinaire Nodjohoudou Djeria, dessen Haus Ende 2008 trotz einer gerichtlichen Verfügung abgerissen worden war, erhielt die Zusage des Bürgermeisters von N’Djamena, er werde 2009 eine Entschädigung bekommen. Bis zum Ende des Berichtsjahrs war dies aber noch nicht geschehen.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International hielten sich im März im Osten des Tschad auf und besuchten im April und Mai N’Djamena.

Chad: Open letter to the Security Council (AFR 20/003/2009)

Chad: Broken Homes, Broken Lives (AFR 20/007/2009)

"No place for us here" – Violence against refugee women in eastern Chad (AFR 20/008/2009)

Human Rights Council adopts Universal Periodic Review outcome on Chad (AFR 20/011/2009)

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