Aktuell 25. Februar 2015

Statement von Selmin Çalışkan zum neuen Amnesty Report

Statement von Selmin Çalışkan zum neuen Amnesty Report

Amnesty-Generalsekretärin Selmin Çalışkan (Mitte) stellte gemeinsam mit den Referentinnen Marie Lucas und Ruth Jüttner den neuen Amnesty Report in Berlin

Beitrag von Selmin Çalışkan, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, zum Amnesty Report 2014/2015

Unser Report beschreibt die Menschenrechtssituation in 160 Ländern im vergangenen Jahr. Eingeflossen sind unzählige Recherchereisen, Interviews, Berichte, Zeugenaussagen. Hinter den nüchternen Sätzen stehen das erschütternde Leid unzähliger Menschen, aber auch ermutigende Geschichten von Frauen und Männern, die für ihre Rechte eintreten, und sich mit internationaler Unterstützung, zum Teil mit unserer Hilfe, mehr Freiheiten erkämpften:

Ein Beispiel ist die Sudanesin Meriam Ibrahim. Ein Gericht verurteilte sie wegen Abwendung vom Islam zum Tode. Ihr Vater war Muslim, ihre Mutter orthodoxe Christin. Sie heiratete im Jahr 2011 einen Christen, was in ihrem Heimatland verboten ist. Nach breiten internationalen Protesten - unter anderem hatten sich über eine Million an einem Amnesty-Appell beteiligt - hob der Oberste Gerichtshof das Todesurteil auf. Schließlich durfte Meriam Ibrahim ausreisen.

Ein anderes Beispiel ist eine Resolution der Afrikanischen Menschenrechtskommission: Sie ruft zur Gleichstellung und dem Schutz von Schwulen, Lesben und Transpersonen auf - ein wegweisendes Signal für den Kontinent. Auch im internationalen Rahmen gab es hoffnungsvolle Schritte. So trat endlich der internationale Waffenhandelsvertrag in Kraft.

Trotz dieser Fortschritte, und auch wenn sich die 160 Länder nicht über einen Kamm scheren lassen, sehen wir einen erschreckenden Trend: In immer mehr Ländern gehen bewaffnete Gruppen, Milizen, oder Terrororganisationen rücksichtslos und brutal gegen zivile Personen vor. In 35 Staaten haben wir 2014 Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen festgestellt.

2014 war ein katastrophales Jahr für Millionen, die in Angst vor Entführungen, Vergewaltigungen, Attentaten, Scharfschützen, Bomben oder Artilleriebeschuss leben mussten. Die Kämpfe und Bürgerkriege führten zu einer Flüchtlingskrise, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Aber auch die Meinungsfreiheit ist weit über die Konfliktgebiete hinaus bedroht.

Irak und Syrien sind prominente Beispiele. Die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats gehen dort mit unfassbarer Brutalität vor. Sie vertreiben Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, Tausende Christen aus Mosul und Jesiden aus dem Sindschar. Hunderte unbewaffnete jesidische Männer und Jungen wurden hingerichtet. Die Kämpfer des selbsternannten Islamischen Staats haben massenhaft jesidische Frauen und Mädchen entführt, vergewaltigt und versklavt.

Der Einsatz sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen zieht sich wie ein roter Faden durch Kriege und Bürgerkriege. Im Südsudan etwa setzen beide Konfliktparteien Vergewaltigung als Kriegswaffe ein. Die Frauen und Mädchen bleiben nicht nur traumatisiert zurück, sie werden oft auch von ihren Familien verstoßen. In Somalia ist vor allem in den Flüchtlingslagern sexualisierte Gewalt an der Tagesordnung. Besonders verheerend hier: Diejenigen, die eigentlich Recht und Ordnung wieder aufbauen sollten, sind auch Täter. Soldaten der Friedenstruppe der Afrikanischen Union vergewaltigen Frauen. Sie nutzen die desolate und schutzlose Lage der Frauen in den Flüchtlingslagern aus. Sie werden dafür nicht rechtlich belangt - denn: Anzeigen von Frauen geht die Polizei in der Regel nicht nach. Die Organisation von Flüchtlingslagern werden nicht nach Schutzbedürfnissen von Frauen und Mädchen konzipiert.

Im Unterschied zur Friedens- und Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen, in der Menschenrechts- und Genderaspekte inzwischen mehr berücksichtigt werden, blendet die Außen- und Sicherheitspolitik fast aller Einzelstaaten und auch der Europäischen Union die Geschlechterfrage weitgehend aus, so auch Deutschland. Bisher gibt es bei uns keine einheitliche Strategie, wie Frauen einerseits in bewaffneten Konflikten besser vor Vergewaltigungen geschützt und andererseits als wirkungsvolle Friedensakteurinnen in die Verhütung und Bearbeitung von Konflikten einbezogen werden können.

Die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf die zunehmende bewaffnete Gewalt insgesamt und die Verzweiflung von Millionen von Flüchtlingen ist beschämend. Sie ist von Gleichgültigkeit und Wegsehen geprägt.

Zum Beispiel: Der Sicherheitsrat, eines der wichtigsten Instrumente internationaler Friedenssicherung, ist im Fall von Syrien völlig blockiert. Statt gemeinsam zu handeln, um die Zivilbevölkerung zu schützen, droht sogar so etwas wie ein neuer Kalter Krieg, der den Schutz der Menschenrechte weiter in den Hintergrund drängt.

Amnesty fordert deshalb, dass die ständigen Sicherheitsratsmitglieder im Fall von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen freiwillig und verbindlich auf ihr Veto verzichten. Das kann ein Schritt sein, endlich den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten ins Zentrum internationaler Politik zu rücken. Und den UNO-Sicherheitsrat wieder handlungsfähig zu machen für seine eigentliche Aufgabe: Die Friedenssicherung.

Aber auch ohne neue Regeln muss kurzfristig viel mehr getan werden. Insbesondere, um den Flüchtlingen zu helfen, die vor der Gewalt fliehen. 2014 gab es weltweit so viele Flüchtlinge wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr! Allein in den ersten 6 Monaten des Jahres 2014 wurden 5,5 Millionen Menschen durch Krieg, Gewalt und Verfolgung in die Flucht getrieben. Aber es sind nicht die reichen Staaten, die den Flüchtlingen vor allem helfen, sondern die Nachbarländer.

Die syrischen Flüchtlinge haben vor allem in Jordanien, dem Libanon und in der Türkei Schutz gefunden. Zusammen mit Ägypten und dem Irak haben diese Nachbarstaaten 95% der Flüchtlinge aufgenommen. Der massive Zustrom syrischer Flüchtlinge bedeutet insbesondere für die beiden kleinen Nachbarstaaten Libanon und Jordanien eine kaum zu schulternde Belastung für die Wasser-, Strom- und Gesundheitsversorgung, für den Wohnungs- und den Arbeitsmarkt, für Schulen und Ausbildungsstätten.

Bei einer Bevölkerung von 4,3 Millionen hat der Libanon mehr als 1 Million syrische Flüchtlinge aufgenommen: Jeder fünfte Bewohner des Landes ist mittlerweile ein syrischer Flüchtling. Die internationale Gemeinschaft hat die Nachbarstaaten bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge viel zu wenig unterstützt! Der regionale Hilfsplan der UN für die Flüchtlinge war bis Ende des Jahres 2014 nur zu knapp 60% finanziert. Anfang Dezember musste das Welternährungsprogramm zwischenzeitlich die Vergabe von Nahrungsmittelhilfe an syrische Flüchtlinge stoppen, weil das Geld fehlte.

Auch bei der Aufnahme schutzbedürftiger syrischer Flüchtlinge hat die internationale Gemeinschaft versagt. Die Bilanz der EU ist ebenfalls beschämend! Der Libanon hat 715mal mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als die gesamte EU in den vergangenen drei Jahren – individuelle Asylanträge und Aufnahmeprogramme zusammen genommen. Es sind drei Dinge notwendig:

  1. Deutlich mehr Unterstützung für die Nachbarstaaten!
  2. Deutlich mehr Aufnahmeplätze für syrische Flüchtlinge – insbesondere in der EU!
  3. Die EU muss den Schutz von Flüchtlingen endlich als Gemeinschaftsaufgabe begreifen.

Gleichzeitig muss sich die Politik natürlich mit den langfristigen Ursachen der Konflikte beschäftigen. Die Gründe, warum etwa Boko Haram in Nigeria oder der "Islamische Staat" im Irak stark werden konnten, kann man nicht in einem Satz zusammenfassen.
Aber eines können wir immer wieder feststellen: Die vergangenen und heutigen Verletzungen der Menschenrechte zusammen genommen sind ein Nährboden für heutige Gewalt und heizen den Konflikt weiter an.

Zum Beispiel Nigeria: Dort haben Soldaten und Polizisten Tausende mutmaßliche Boko-Haram-Unterstützer willkürlich verhaftet, gefoltert und zum Teil auf offener Straße ohne Prozess hingerichtet. Hunderte wurden verschleppt und Tausende Verdächtige starben in Militär- und Polizeigewahrsam. Eine solche Politik schützt nicht die Bevölkerung, sondern schürt neue Gewalt. Sie erzeugt ein tiefes Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger in den eigenen Staat.

Zum Beispiel Syrien: Die Verbrechen der syrischen Regierung gegen ihre eigene Bevölkerung sind bekannt. Sie waren der Auslöser für den zunächst friedlichen Aufstand in Syrien.

Zum Beispiel Irak: Hier lässt die Regierung schiitische Milizen ungestraft grausame Racheakte gegen die sunnitische Bevölkerung begehen. Es ist klar, dass sie damit dem IS in die Hände spielen: Denn irakische junge Sunniten werden sich ihm aufgrund der Erfahrung der Verbrechen an ihren Verwandten verstärkt anschließen.

Oft ist es also die vergangene Geringschätzung der Menschenrechte des immer jeweilig anderen, die zur Entstehung von Konflikten beiträgt. Umgekehrt gilt: Ein umfassender Menschenrechtsschutz beugt gewaltsamen Konflikten vor. Der Einsatz für die Menschenrechte aller Menschen, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Konfliktparteien, ist deshalb das A und O für Prävention vor neuer Gewalt – und die wichtigste Investition in Frieden und Versöhnung im Land.

Manche Politiker scheinen aber zu glauben, Menschenrechte seien ein lästiges Pflichtprogramm oder nur etwas für gute Zeiten. Nur einige wenige Beispiele:

  • Kenia hat Anti-Terror-Gesetze erlassen, welche die Meinungsfreiheit einschränken.
  • Pakistan hat nach einem Terroranschlag ein langjähriges Hinrichtungsmoratorium aufgehoben.
  • Das türkische Parlament hat im April dem Geheimdienst erlaubt, nahezu unbeschränkt und unkontrolliert die Bevölkerung zu überwachen.

Ein solches Vorgehen ist falsch. Gerade im Angesicht der Bedrohung durch Gewalt sind der Schutz der universell vereinbarten Menschenrechte die Grundlage für sozialen und politischen Frieden. Die Staaten müssen die Bevölkerung vor Terrorakten schützen, das machen die Anschläge von Paris und Kopenhagen auf Karikaturisten und auf Juden und Jüdinnen leider allzu deutlich.

Aber reflexartig drakonische Maßnahmen zu verhängen, Freiheiten zu beschneiden, auf Massenüberwachung zu setzen und ganze Bevölkerungsgruppen pauschal zu verdächtigen, das ist der falsche Weg. Der "war on terror" nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat uns doch gezeigt, dass mit Folter und Verschleppung unsere Lage nicht sicherer wird, sondern gefährlicher. Wer die Menschenrechte anderer verletzt, der bereitet den Boden für neue Gewalt.

Aber wir müssen vor allem vor unserer eigenen Türe kehren: Deutschland ist Waffenexporteur Nummer drei weltweit, hinter den USA und Russland. Unverantwortliche Rüstungsexporte tragen zu den bewaffneten Grausamkeiten bei, die wir für 2014 dokumentiert haben.

Auch deutsche Waffen tauchen immer wieder in Konfliktgebieten auf, obwohl Deutschland relativ strikte Rüstungsexportbestimmungen hat. Beispiele sind G36-Schnellfeuergewehre in Mexiko und in Libyen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf bei der Bundesregierung! Sie muss die Risiken sorgfältiger prüfen und effektive Endverbleibskontrollen, und zwar vor Ort, einführen, die dafür sorgen, dass die Waffen nicht in Hände von Milizen oder Terrorgruppen geraten. Weltweit bietet der internationale Waffenhandelsvertrag, der 2014 endlich in Kraft getreten ist, die Chance, unverantwortlichen Waffenhandel zu begrenzen – wenn er jetzt wirklich umgesetzt wird!

Und auch bei der zivilen Konfliktprävention kann die Bundesregierung sehr viel mehr tun. Deutschland hat zwar einen Aktionsplan Zivile Krisenprävention, aber er ist kein wichtiges Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern wird behandelt wie ein Luxusartikel, den niemand wirklich braucht. Daher gibt es bei der Umsetzung einiges zu verbessern und dafür muss auch Geld in die Hand genommen werden.

So kritisiert das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, dass Deutschland viel zu wenig Polizisten und Polizistinnen für Friedenseinsätze, zu wenig zivile Experten wie Richter, Staatsanwältinnen, Menschenrechtsexperten, politische Mediatorinnen, Friedensfachkräfte für den Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen in Kriegs- und Krisengebieten stellt. Rechtsstaat statt Rüstung exportieren! Das sollte das neue Motto des Exportweltmeisters Deutschland sein. Denn darin ist Deutschland gut – es ist aber fast nicht sichtbar.

Ein weiteres wichtiges Instrument ist der Menschenrechtsbeauftragte. Wer wacht bei uns über die Einhaltung der Menschenrechte, wenn Deutschland seine Waffen verkauft? Dafür bräuchten wir einen Menschenrechtsbeauftragten, der den Rang eines Staatsministers hat. Der Bundessicherheitsrat, der über Waffenexporte entscheidet, müsste dann gegenüber dem Menschenrechtsbeauftragten Rechenschaft ablegen.

Wir alle wissen: Im Moment ist eine schnelle Verbesserung nicht in Sicht. Wir dürfen uns aber nicht mit diesen Zuständen abfinden: Die Staaten könnten viel mehr tun, um den Verbrechen nicht-staatlicher bewaffneter Verbände, Milizen und Terrorgruppen entgegenzutreten und die Zivilbevölkerung zu schützen. Auch wenn es keine einfachen Lösungen gibt, eines ist klar: Dieser Kampf darf kein Vorwand sein, selbst die Menschenrechte zu missachten.

Er darf kein Vorwand sein, von den Grausamkeiten der Verbündeten aus rein geopolitischen oder Profitinteressen zu schweigen, seien es ukrainische Freiwilligenverbände oder die Regierung in Saudi-Arabien. Im Gegenteil: Ein dauerhaft erfolgreicher Kampf für friedliche, menschenwürdige Verhältnisse kann nur gelingen, wenn wir glaubwürdig für die Menschenrechte überall für alle und unter allen Umständen eintreten. Und wenn die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger endlich begreifen, dass Menschenrechte im nationalen und internationalen Interesse sind und kein lästiges Pflichtprogramm.

Erfahren Sie hier mehr zum Amnesty Report 2014/2015

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