Amnesty Journal Brasilien 17. September 2014

Weder Aufstand noch Trauma

Eine Kolumne von Andreas Behn

Die Fußball-WM hat Brasilien verändert. Kein radikaler Umbruch, auch keine direkte Auswirkung des Sports auf die Politik. Doch das angebliche Land des Fußballs ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Die Proteste des vergangenen Jahres, aber auch die Tatsache, dass die schmachvolle Niederlage gegen Deutschland kein neues Trauma ausgelöst hat, deuten auf gesellschaftliche Veränderungen hin, die zwar schwer einzuschätzen, aber durchweg positiv sind. Dass die erwartete Fortsetzung der Proteste während der WM nicht stattfand, ändert nichts an ihrer Sprengkraft für die politische Landschaft im größten Land Lateinamerikas. Aus zahlreichen Gründen gingen die Menschen nicht mehr auf die Straße: Angst vor der angedrohten Polizeigewalt, Unlust auf Randale des Schwarzen Blocks, Gastfreundschaft und Spaß am Fußball. Doch die Kritik an unnützen Milliardeninvestitionen, am Buckeln vor der FIFA-Arroganz und an den sozialen Missständen war dennoch präsent. Es kam einfach keine richtige Begeisterung auf, irgendetwas stimmte an dieser WM, an der Inszenierung von Brot und Spielen nicht. Auch wenn plötzlich alle schrieben, es sei doch ein umjubeltes Fußballfest geworden, stimmt dies nur insofern, als dass die Fans aus aller Welt die Party schmissen und dass packender Fußball geboten wurde. Die Brasilianer aber waren keine Protagonisten, nicht auf dem Spielfeld und auch sonst nicht.

Die Proteste waren vieles, nur kein sozialer Aufstand. Sie wurden von der Mittelschicht getragen, die nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs und erfolgreicher Sozialpolitik einforderte, was die Regierung bisher nicht erreicht hat: Dass das Land zusammenwächst, dass das viele Geld für bessere öffentliche Dienstleistungen verwendet wird, anstatt dass es in den Taschen korrupter Politiker verschwindet. Die vielzitierte Meinung der Straße lässt sich auch nicht in ein Links-Rechts-Schema einordnen, dafür war das Spektrum der Forderungen zu vielfältig.
Beeindruckend auch, dass alle Versuche der Parteipolitik, die Proteste und die WM für sich zu vereinnahmen, scheiterten. Zuerst versuchte die Rechte, die Protestwelle einseitig gegen die Regierung und Präsidentin Dilma Rousseff zu wenden. Danach malten Presse und Opposition ein Scheitern der WM aufgrund organisatorischer Mängel und "Unfähigkeit" der Regierung an die Wand. Doch ab dem Anpfiff konnte Rousseff zurecht damit protzen, dass alles bestens lief. Sogar die unflätigen Buhrufe im Stadion gegen sie fielen eher auf das Publikum zurück: Den ausschließlich weißen Oberschichtlern wurde zu Recht vorgeworfen, dass sie keine echten Fans seien und die Mannschaft im Stich gelassen hätten.

Bei der dramatischen Niederlage gegen Deutschland im Halbfinale war das Trauma von 1950 plötzlich wieder in den Köpfen, das einen Minderwertigkeitskomplex ver­ursacht hat, der die Kultur bis heute prägt. Doch schon vor dem Ende des Spiels quollen die sozialen Netzwerke über vor grandiosem Humor und genüsslicher Selbstironie. Traurig und peinlich, ja! Aber wieder war zu spüren, dass diese WM nicht die WM der Brasilianer war, dass die FIFA und die Regierung ihnen den Spaß an dem Fußball-Fest schon lange vorher genommen hatten, dass sie von dieser WM von ­vornherein ausgeschlossen waren – also auch von der bitteren Schmach.

Es ist unwahrscheinlich, dass nach der WM die Proteste plötzlich wieder aufflammen. Im Oktober stehen Wahlen an, die Politik wird pragmatischer. Insbesondere die traditionellen sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften, die noch vor der WM mit Streiks und Demonstrationen der Regierung zahlreiche Zugeständnisse abrangen, setzen jetzt trotz aller Kritik auf den Schulterschluss mit der Arbeiterpartei von Rousseff, um einen Sieg der Rechten zu verhindern. Doch die Politiker sind gewarnt. Es hat eine Politisierung stattgefunden, die jederzeit wieder in druckvolle Unmuts­äußerungen umschlagen kann.

Andreas Behn ist Auslandskorrespondent und lebt in Rio de Janeiro.

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