Amnesty Journal Syrien 03. Februar 2023

Kämpfe in Einsamkeit und Trauer

Menschen protestieren auf einer Straße, sie tragen selbstgemachte Transparente, auf denen die Gesichter von Menschen zu sehen sind.

Filmszene aus "The Lost Souls of Syria"

Vor zehn Jahren schmuggelte ein syrischer Militärfotograf Tausende Bilder ermordeter Gefangener aus dem Land. Der Film The Lost Souls of Syria erzählt, wie die Angehörigen der Opfer seither um Gerechtigkeit kämpfen.

Von Hannah El-Hitami

Die verlorenen Seelen von Syrien, das sind die, die zu Hause abgeholt wurden und nie wieder auftauchten, die auf einer Demonstration oder an einem Checkpoint festgenommen und verschleppt wurden. Es sind die Menschen, die seit Jahren in unterirdischen Haftanstalten eingesperrt sind, in überfüllten Zellen, im Dunkeln, in Ungewissheit; die gefoltert wurden und deren Haftbedingungen an sich schon Folter sind: kaum Essen oder medizinische Versorgung, kein Kontakt zur Außenwelt, keine Ahnung, ob sie jemals wieder rauskommen. Es sind die, von denen keine*r weiß, ob sie noch leben.

Als ein Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar im Jahr 2014 die Fotos von 6.786 dieser Menschen veröffentlichte, bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen über ihr Schicksal. Caesars Job in Damaskus war es, die Leichen zu fotografieren, die aus den Geheimdienstabteilungen der Stadt in die Krankenhäuser geliefert wurden. Er machte mehr als 28.000 Aufnahmen von verhungerten, misshandelten Körpern und von Gesichtern, auf denen Zettel mit Häftlings- und Abteilungsnummern klebten. Diese Fotos, die so viele Menschen schockierten und so vielen syrischen Familien traurige Gewissheit brachten, sind der Startpunkt des Films The Lost Souls of Syria, der ab dem 30. Januar in den deutschen Kinos gezeigt wird.

Machterhalt mit brutalen Methoden

Der Film begleitet Angehörige der Opfer, die versuchen, die Verbrechen des Assad-Regimes vor europäische Gerichte zu bringen. Fünf Jahre lang haben die Journalistin Garance Le Caisne und der Filmemacher Stéphane Malterre diese Menschen bei ihrem langwierigen, oft frustrierenden Kampf um Gerechtigkeit begleitet: Ob in Spanien, wo eine Syrerin ihr eigenes Leben riskiert, um eine Klage für ihren ermordeten Ehemann einzureichen, oder in Frankreich, wo ein Mann verzweifelt darum kämpft, dass die Behörden sich für seinen verschwundenen Bruder und dessen Sohn einsetzen.

Der Film ist ein Rückblick auf all die Versuche, juristisch gegen ein Regime vorzugehen, das sich mit brutalen Methoden an der Macht hält. Manche dieser Versuche scheiterten, andere waren erfolgreich. Deutschland und Frankreich erließen 2018 einen internationalen Haftbefehl gegen hochrangige Vertreter des Assad-Regimes. Und in Koblenz fand ab 2020 der erste Prozess gegen ehemalige Geheimdienstmitarbeiter statt. Dort wurden auch Caesars Fotos erstmals als Beweise eingesetzt – von einem forensischen Experten im Detail analysiert."Die Caesar-Fotos sind ein Herzstück der Kämpfe so vieler Überlebender und Opfer", sagt Garance Le Caisne. "Man muss sie mit Zärtlichkeit betrachten, denn das waren Menschen, die geliebt wurden, die Familien, Kinder, Eltern, Geschwister hatten." Le Caisne war 2014 die erste Journalistin, die Caesar ausfindig machte und interviewte. Sie glaubt, dass die Fotos zwar nicht als alleinige Beweismittel ausgereicht hätten, aber zentraler Teil eines Puzzles sind, das durch Aussagen Überlebender, ehemaliger Mitarbeiter*innen, und verschiedener Expert*innen vervollständigt wurde.

Die Todesmaschinerie, die Caesar offenbart hat, läuft unverändert weiter.

Stéphane
Malterre
Filmemacher
Ein Mann steht in Jacke mit über den Kopf gezogener Kapuze auf einem Betonboden, auf dem Stofffetzen herum liegen.

Die Grausamkeiten des syrischen Regimes ans Licht bringen: Filmszene aus The Lost Souls Of Syria

Caesar selbst hat bisher vor keinem Gericht ausgesagt, das ist zu gefährlich für ihn. Seit der Veröffentlichung seiner Fotos lebt er anonym an einem unbekannten Ort in Europa. Im Film tritt er erstmals vor die Kamera und erzählt, wie er die Fotos mithilfe seines engen Vertrauten Samy auf einen privaten Computer übertrug und schließlich außer Landes schmuggelte.

Zehn Jahre ist das jetzt her, und doch ist der Film The Lost Souls of Syria heute genauso relevant wie damals. Denn das Assad-Regime ist nach wie vor an der Macht, und der Verbleib Zehntausender Gefangener noch immer ungeklärt. "Die Todesmaschinerie, die Caesar offenbart hat, läuft unverändert weiter", sagt Filmemacher Stéphane Malterre. "Diese Bilder sind nicht Bilder der Vergangenheit, sondern repräsentieren ebenso die Gegenwart und das, was in der Zukunft passieren wird."

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Zeichen großer Tapferkeit

The Lost Souls of Syria ist alles andere als leichte Kost. Es ist aber wichtig, diesen Film zu sehen, um sich daran zu erinnern, dass eine der größten humanitären Katastrophen der modernen Geschichte fortbesteht, und dass das dafür verantwortliche Regime keinen normalen Umgang erleben darf. Aber auch, weil es ermutigend ist, zu erfahren, zu welchen Kämpfen Menschen trotz schmerzhafter Verluste fähig sind. "Der Film ist düster, weil die Menschen, die wir begleiten, in Einsamkeit und Trauer leben und alleine kämpfen müssen", sagt Malterre. "Sie setzen aber auch ein Zeichen großer Tapferkeit, weil sie es trotzdem durchziehen." Er hofft, dass die persönlichen Geschichten das Publikum berühren, wütend machen und dazu anregen, aktiv zu werden.

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

The Lost Souls of Syria wird im Februar an verschiedenen Orten in Deutschland gezeigt, teils mit anschließender Podiumsdiskussion und der Gelegenheit, die Filmemacher*innen kennenzulernen. Alle Termine auf https://filmsthatmatter.net/.

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