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"Was wahr ist": Über die schwierige Suche nach der Wahrheit in Kriegs- und Krisengebieten
Die Amnesty-Researcherin Donatella Rovera dokumentiert Kriegsschäden in der syrischen Stadt Rakka (Archivaufnahme vom 21. Januar 2019).
© Andrea DiCenzo/Panos
Recherchen in Kriegs- und Krisengebieten bringen jede Menge Herausforderungen mit sich – für die Journalistin Carolin Emcke ebenso wie für Amnesty-Researcherin Donatella Rovera. In einem Online-Event für Amnesty-Mitglieder diskutierten die beiden über die schwierige Suche nach der Wahrheit und die dafür nötige Selbstkritik.
Von Hannah El-Hitami
Wenn Carolin Emcke in Krisengebieten unterwegs war, stellten ihr Menschen vor Ort immer wieder die gleiche Frage: "Schreibst du das auf?" Dahinter stecke eine Kernerfahrung von Gewaltopfern, glaubt Emcke: "Dass sie ihrer Subjektivität beraubt wurden, dass sie nicht zählen als Menschen mit Rechten, deren Geschichte es wert ist erzählt zu werden." Emcke schrieb also auf und sie veröffentlichte, früher als Reporterin in Kriegs- und Krisengebieten, bis heute als Philosophin und Autorin.
Aber wie berichtet man eigentlich richtig über die Entrechtung, die Menschen erleiden? Wie geht man als Autorin mit Betroffenen um, die Schreckliches berichten? Wo lässt sich die menschliche Würde inmitten unmenschlicher Gewalt finden? Diese Fragen, die Emcke seit Jahren umtreiben, sind auch für die Arbeit von Amnesty International zentral.
"Wir machen Fehler. Und wir müssen darüber sprechen, damit wir unsere Glaubwürdigkeit nicht verlieren": Die Journalistin Carolin Emcke.
© Andreas Labes
Um den Antworten näherzukommen, lud Amnesty am 9. April 2024 zu einer Online-Diskussion für die Amnesty-Mitgliedschaft mit dem Titel "Was wahr ist. Wie und warum über Gewalt berichten?" ein. Moderiert von Amnesty-Generalsekretärin Julia Duchrow tauschten Carolin Emcke und Amnesty-Researcherin Donatella Rovera ihre Erfahrungen aus: über die Suche nach der Wahrheit in Krisengebieten, den verantwortungsvollen Umgang mit Gesprächspartner*innen und die Pflicht, immer selbstkritisch zu bleiben.
Die meisten wollen erzählen
In ihrem neuen Buch "Was wahr ist" reflektiert Emcke aus philosophischer Sicht über ihre journalistischen Recherchen. Ein Thema, das sie dabei umtreibt, ist der Umgang mit Gesprächspartner*innen in Krisengebieten: wie diesen respektvoll begegnen, wie sie schützen, wie klarmachen, dass man ihnen nichts anbieten kann, außer aufzuschreiben. "Wichtig ist, dass ich die Person nicht nur als Opfer einer Gewalttat ernstnehme, sondern mich auch dafür interessiere, wer diese Person war, bevor sie vertrieben, bombardiert oder gequält wurde", so Emcke. "Ich glaube, dass das die Würde des Menschen in den Vordergrund stellt."
Amnesty-Researcherin Donatella Rovera bei einer Pressekonferenz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Mai 2022
© Amnesty International
Auch Amnesty kann Betroffenen von Krieg, Gewalt und Entrechtung wenig Handfestes anbieten. Das müsse von Anfang an klargestellt werden, sagt Donatella Rovera. Sie ist seit 30 Jahren Amnesty-Researcherin, anfangs in Tunesien, Marokko und Algerien, aktuell für Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete. Zuletzt untersuchte sie Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine, dem Sudan und Gaza.
"Wenn Menschen mich fragen, was es ihnen bringt, mit uns zu sprechen, sage ich: Vermutlich leider nichts. Es wird dir nicht deinen Sohn zurückbringen oder dein Haus wiederaufbauen. Hoffentlich wird es dazu beitragen, dass es irgendwann Gerechtigkeit gibt, aber möglicherweise wirst du nicht mehr selbst davon profitieren." Die meisten Menschen, so Rovera, wollen ihre Geschichte trotzdem erzählen.
Doch was, wenn Researcher*innen Zweifel an den Geschichten haben? Diese Frage beschäftigt Emcke in ihrem Buch und im Amnesty-Gespräch. "Es wird viel über die Gefahr durch Falschinformationen gesprochen, "dass wir eine Geschichte glauben, die nicht stimmt", sagt Emcke – aber viel zu wenig über das Gegenstück: "Mich hat die Erfahrung viel mehr umgetrieben, dass mir jemand von einer Gewalterfahrung erzählt hat, die so grauenhaft klang, dass ich sie nicht glauben konnte."
Das sei ihr in den Jahren als Kriegsreporterin manchmal passiert, später habe sie herausgefunden, dass die Personen ihr die Wahrheit erzählt hatten. Dabei wurde ihr klar, "dass es Situationen gibt, wo man in eine Logik des Terrors hineingeworfen wird und erstmal komplett überfordert ist." Umso wichtiger sei es, die eigenen Vorannahmen, "was wir für glaubwürdig oder unglaubwürdig halten", immer wieder neu zu hinterfragen.
"Wir machen Fehler"
Auch Donatella Rovera begegnen Geschichten unvorstellbarer Gewalt. Zeug*innenaussagen spielen für ihre Recherchen eine wichtige Rolle, sind aber nicht immer zuverlässig. "Sie können zu 100 Prozent wahr sein, zu 100 Prozent falsch oder irgendwo dazwischen."
Gründe, warum Gesprächspartner*innen die Unwahrheit erzählen, gibt es viele, dahinter stecke nicht immer böser Wille. "Ihre ganze Welt wurde auf den Kopf gestellt", erklärt Rovera. Da sei es oft schwierig, die Lage richtig zu interpretieren. Eigene Erinnerungen vermischten sich mit den Erzählungen anderer. "Manche lügen auch aus Angst oder weil sie die Wahrheit nicht ertragen können."
Darum nutzt Amnesty zusätzliche Quellen wie Satellitenbilder, Videos und Posts aus den sozialen Medien. "Bei meiner Arbeit stelle ich mir die Frage nach Glauben oder Nicht-Glauben nicht", erklärt Rovera im Gespräch mit Emcke. "Wir nehmen erstmal alles mit und gucken dann, ob es sich mit anderen Beweisen untermauern lässt." Eine objektive Wahrheit gibt es, glaubt sie. Aber meistens sei diese nicht erreichbar. "Wir müssen bescheiden sein und uns unser Unwissen immer wieder bewusst machen." Auch Carolin Emcke wünscht sich einen offeneren Umgang mit den Lücken der Recherche: "Wir machen Fehler. Und wir müssen darüber sprechen, damit wir unsere Glaubwürdigkeit nicht verlieren."
Nach einem russischen Luftangriff in der ukrainischen Stadt Borodjanka führt die Amnesty-Researcherin Donatella Rovera Interviews mit einem Augenzeugen (Mai 2022).
© Amnesty International
Toxische Ablehnung seriöser Recherchen
Im letzten Drittel des Online-Gesprächs beantworteten die beiden Gäste Fragen aus dem Publikum, zum Beispiel wie sie mit der wachsenden Flut an gefälschten Bildern und Videos umgehen. Die Geschwindigkeit, mit der sich Falschinformationen verbreiten, sei schockierend, so Emcke. "Diese Ablehnung von seriöser Recherche ist toxisch." Um dem etwas entgegenzusetzen, sei sie auf Organisationen wie Amnesty angewiesen, die mit ihren digitalen Recherche-Teams immer mehr Faktencheck-Expertise aufbauen. "Je besser die Fälschungen werden, desto besser werden die Methoden der Verifizierung", bestätigt Rovera – auch wenn die Masse der Informationen immer mehr Arbeit bedeute.
Eine weitere Frage bezog sich auf den Schutz von Gesprächspartner*innen in Krisengebieten: was wird aus ihnen, nachdem Journalist*innen wie Emcke oder Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty ihre Aussagen veröffentlichen? "Dass wir niemandem schaden, ist absolut grundlegend für unsere Arbeit", so Rovera. Nicht jedes Risiko könne verhindert werden. Doch sie und ihre Kolleg*innen schützen Gesprächspartner*innen, indem sie ihre Aussagen anonymisieren, Namen und Nummern verschlüsselt im Handy speichern oder Rechercheergebnisse sofort hochladen und dann von ihren Geräten löschen. "Es gibt auch Situationen, wo wir recherchieren möchten, aber es nicht tun, weil es eine Gefahr für die Leute vor Ort wäre."
Emcke will zudem über den emotionalen Schutz der Betroffenen nachdenken: "Sie vertrauen uns etwas an, das ihnen passiert ist, und dann sind wir einfach wieder weg. Wer kümmert sich danach um sie?" Auf diese Frage habe sie auch nach vielen Jahren Recherchearbeit keine befriedigende Antwort gefunden.