Amnesty Journal Mexiko 19. März 2014

Vergessener Blutzoll

Deportiert und vernichtet. Yaqui-Tänzer 1910 in New Mexico

Deportiert und vernichtet. Yaqui-Tänzer 1910 in New Mexico

Paco Ignacio Taibo II ist Mexikos eigenwilligster ­Autor. In seinen Kriminalromanen vermittelt er ­Geschichte und in seinem jüngsten Buch hat er einen längst vergessenen Genozid an einem indigenen Volk verarbeitet. Die Dokumentation über die Yaqui ist in Mexiko bereits ein Bestseller.

Von Knut Henkel

Die Klingel im Parterre des Gründerzeithauses in der Colonia Condesa ist nicht beschriftet. Paco Ignacio Taibo II, 65 Jahre alt, ist kein Freund von überraschenden Besuchen und hat ohnehin am liebsten seine Ruhe. "Ich habe zu tun", heißt es dann lapidar und es folgt die Armbewegung in Richtung Schreibtisch. Der steht an der Stirnseite eines geräumigen, von vollgestopften Bücherregalen gesäumten Wohnzimmers. Auf dem Schreibtisch türmt sich das Material für seine laufenden Projekte – meist zwischen sechs und einem runden Dutzend. An ihnen schreibt Mexikos derzeit wohl kreativster Schriftsteller parallel. "Je nachdem, worauf ich morgens nach dem Aufstehen eben Lust habe. Fiktion kann ja sehr viel unterhaltsamer sein als Geschichte oder ein politischer Artikel", sagt Paco Ignacio Taibo II.

In den vergangenen beiden Jahren war das allerdings anders. Da hat der Historiker und Soziologe überwiegend an einem Thema gearbeitet, das ihn nicht losgelassen hat: der Genozid an den Yaqui. "In einem Archiv bin ich bei der Recherche für ein Buch auf Papiere gestoßen, die von der Deportation eines indianischen Volkes, eben der Yaqui, berichteten. Da habe ich die Fährte aufgenommen und bin ihr gefolgt", erklärt der Schriftsteller. "Die Yaqui leben in den Bergen des Bundesstaats Sonora. Ihr Reichtum ist das Wasser. Sie leben an einem Fluss, der ihnen zwei Ernten im Jahr garantiert. Dieses lukrative Land war der Grund für eine 42 Jahre andauernde brutale Verfolgung." Die Vertreibung ereignete sich in den Jahren zwischen 1868 und 1909 und die Yaqui leisteten energisch Widerstand. Taibo II weiß von einem jungen Yaqui, der erste mehrere Wochen schuftete und dann, als er seinen kargen Lohn erhalten hatte, mehr als 350 Kilometer gen Norden in die USA wanderte, um dort neun Kugeln zu kaufen, die er, zurück in Sonora, der Yaqui-Guerilla übergab. Der Widerstand der kleinen Ethnie war kollektiv organisiert. Doch trotz aller Aufopferungsbereitschaft, der Blutzoll war immens: Von rund 30.000 Menschen um 1868 sank die Zahl der Yaqui auf rund 6.000 zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Viele von ihnen wurden zunächst nach Yucatán oder Oaxaca deportiert: "Dort mussten sie unter inhumanen Bedingungen schuften, in Steinbrüchen zum Beispiel. Sie wurden de facto versklavt. Viele starben in den ersten drei Jahren der Zwangsarbeit", erläutert der Historiker die Ergebnisse seiner Recherchen.

Für die Geschichte der Yaqui ist der Erfinder von Héctor Belascoarán Shayne, einem Detektiv im Großstadtdschungel von Mexiko-Stadt, selbst zum Detektiv geworden. Taibo II wollte wissen, wie es in der Region der Yaqui heute aussieht. Er wollte sich ein Bild der historischen Orte machen, die er in mühevoller Kleinarbeit lokalisiert hatte, und mit den Nachfahren sprechen. "Das Problem ist, dass die Yaqui keine Schriftsprache haben. Daher gibt es keine direkten Überlieferungen. Ich musste also kreuz und quer recherchieren, überlegen, wo ich auf Material stoßen könnte", sagt Taibo II.

Die Recherche ist gelungen, wie sich in dem Buch mit dem schlichten Titel "Yaquis" nachlesen lässt, das im vergangenen Herbst in Mexiko erschien. Ein Buch gegen das Vergessen, so Taibo II. Die mexikanische Revolution von 1910 drängte die ethnische Verfolgung in den Hintergrund des kollektiven Gedächtnisses. Dies hat nun ein Ende gefunden. Derzeit ist die vierte Auflage in Vorbereitung.

Paco Ignacio Taibo II gehört in Mexiko zu den angesehenen Linken. Er beteiligt sich etwa regelmäßig an den "Konferenzen der Straße", auf denen er einen Zeitungsartikel oder eine Textpassage vorliest, über den oder die dann diskutiert wird. Oft sind es Ereignisse aus der Geschichte, manchmal auch aktuelle Kämpfe der Arbeiterbewegung, die dann öffentlich analysiert werden.

Den Yaqui, in deren Gemeinden heute wieder zwischen 25.000 und 30.000 Menschen leben, hofft Paco Ignacio Taibo II mit seiner Recherche weitgehend Unbekanntes aus der eigenen Geschichte vermitteln zu können. "Ich hoffe, dass das Buch ihnen ein wenig hilft, ihnen die Augen öffnet und zugleich auch ein bisschen Aufmerksamkeit erzeugt, denn schließlich droht sich die Geschichte zu wiederholen", warnt er. Internationale Unternehmen haben das Land der Yaqui erneut im Visier, sagt Taibo II. Deshalb will er in diesem Frühjahr nach Sonora fahren – um aufmerksam zu machen auf Enteignungsvorhaben im Zusammenhang mit Staudammprojekten und industriellen Agrarprojekten am Río Yaqui.

Taibo II – sein Vater war der bekannte Fernsehjournalist und Autor Paco Ignacio Taibo I – stammt aus einer politischen Familie. Taibo II wurde 1949 im spanischen Gijón geboren. Seine Mutter stammte aus einer Arbeiterfamilie. Ihr Vater, ein anarchistischer Gewerkschafter, hatte im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft und war mit einem schwerbewaffneten Fischkutter im Gefecht auf hoher See untergegangen. Seinem Großvater hat "Pit II", wie der Autor der Kürze halber in Mexiko auch genannt wird, so manche literarische Aufwartung gemacht, und immer wieder finden sich in seinen Krimis Ausflüge in die anarcho-syndikalistische Gewerkschaftswelt der damaligen Zeit.

Paco Ignacio Taibo II, ganz in der Tradition der Familie, hält Distanz zum Staat, tritt ein für Arbeiterrechte und mehr Partizipation von unten sowie gegen die Dominanz des Kapitals. Stattdessen reist er zu den Yaqui oder engagiert sich gegen die Energiereform des Präsidenten Enrique Peña Nieto, die ihm als Ausverkauf der nationalen Schätze und als Selbstbedienung gilt.

Im literarischen Establishment Mexikos wird Taibos immenser Output eher naserümpfend zur Kenntnis genommen, sein Einfallsreichtum und seine Neugier werden hingegen neidvoll registriert. Letztere hat ihn auf die Fährte der Yaqui geführt und dafür wird der Vielschreiber nicht nur von Mexikos Linken verehrt. Grund genug, auf die Beschriftung des Klingelschilds zu verzichten.

Der Autor ist freier Journalist und berichtet regelmäßig aus Lateinamerika.

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