Georgien 2023
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Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023
Die Meinungsfreiheit geriet 2023 unter Druck. Ordnungskräfte setzten unnötige und unverhältnismäßige Gewalt ein, um friedliche Proteste aufzulösen. Oppositionelle wurden weiterhin Opfer selektiver Rechtsanwendung und politisch motivierter strafrechtlicher Verfolgung. Die Polizei ergriff keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Teilnehmenden einer Pride-Veranstaltung. Gewalt gegen Frauen und Mädchen war nach wie vor alltäglich. Berichten zufolge wurden in den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien/Zchinwali weiterhin Zivilpersonen willkürlich inhaftiert.
Hintergrund
Die Regierungspartei setzte die Konsolidierung ihrer Macht fort und versuchte durch verschiedene Maßnahmen, Freiheiten weiter einzuschränken und den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft zu untergraben. Unter anderem brachte sie einen Gesetzesvorschlag ein, der dem russischen Gesetz über "ausländische Agenten" ähnelte.
Angesichts der immer engeren Beziehungen mit Russland und einer zunehmend antiwestlichen Rhetorik kamen in der georgischen Bevölkerung immer stärkere Zweifel an dem Bekenntnis der Regierung zur EU-Mitgliedschaft auf. Dies hatte eine verstärkte politische Spaltung und zunehmende öffentliche Proteste zur Folge. Unter Verweis auf den Rückhalt in der Bevölkerung empfahl die Europäische Kommission im November 2023, Georgien den Status eines EU-Bewerberlandes zu gewähren, unter der Voraussetzung, dass Maßnahmen u. a. zur Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit, der Überwindung der politischen Polarisierung und der Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz ergriffen werden. Im Dezember 2023 wurde dem Land der Status zuerkannt.
Die Zuwanderung aus Russland infolge des russischen Einmarschs in die Ukraine trug in Georgien weiterhin zu steigenden Inflationsraten, höheren Lebenshaltungskosten und verstärkter wirtschaftlicher Ungleichheit bei.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde immer stärker eingeschränkt, insbesondere nach den Massenprotesten im März 2023, durch die sich die Regierung gezwungen sah, den Gesetzentwurf zur "Transparenz ausländischer Einflussnahme" zurückzuziehen. Das Gesetz sah vor, dass sich aus dem Ausland finanzierte Organisationen und Medienkanäle als "ausländische Einflussagenten" registrieren müssen.
Im April 2023 nutzte das Parlament neu verabschiedete Bestimmungen zur Presseakkreditierung, die es Journalist*innen verbieten, Parlamentsmitglieder ohne ihre Zustimmung zu interviewen, um die Akkreditierung von sechs Journalist*innen auszusetzen. Berichten zufolge war dies eine Vergeltungsmaßnahme für von ihnen gestellte kritische Fragen.
Menschenrechtsverteidiger*innen und andere Akteur*innen der Zivilgesellschaft berichteten über Angriffe sowie zunehmende Drohungen, Verleumdungen und Schikanen wegen ihrer Kritik an der Regierung. Im Juli 2023 erklärten mindestens sechs Regierungskritiker, dass sie tätlich angegriffen worden seien. Die Angriffe schienen miteinander in Verbindung zu stehen und wurden öffentlich von führenden Mitgliedern der Regierungspartei gebilligt. Berichten zufolge wurden am 17. Juni 2023 Studierende, die in der Staatlichen Universität Tiflis während einer Vorlesung des Vorsitzenden der Regierungspartei protestierten, von einer Gruppe Regierungsanhänger verprügelt. Einer der Studierenden gab an, dass er im Krankenhaus von einem Polizisten mit einer Schusswaffe bedroht worden sei. Eine zu dem Vorfall eingeleitete Untersuchung war Ende 2023 noch nicht abgeschlossen.
Im Oktober 2023 mussten mehrere Aktivist*innen, die an einer Schulung der NGO CANVAS (Center for Applied Nonviolent Actions and Strategies) teilgenommen hatten, bei den Sicherheitsbehörden zum Verhör erscheinen. Grund dafür war, dass die Behörden den Schulungsleiter*innen vorwarfen, einen gewaltsamen Sturz der Regierung vorzubereiten. Sowohl die Organisator*innen als auch die UN-Sonderberichterstatterin über die Lage von Menschenrechtsverteidiger*innen wiesen die Anschuldigung als haltlos zurück und sahen darin einen Versuch, ein negatives Bild der Zivilgesellschaft zu zeichnen.
Recht auf Versammlungsfreiheit
Die georgischen Behörden setzten 2023 zunehmend unnötige und unverhältnismäßige Gewalt ein, um friedliche Proteste aufzulösen. Zudem führten sie neue restriktive Maßnahmen ein, insbesondere nach den großflächigen Protesten gegen den Gesetzentwurf zur "Transparenz ausländischer Einflussnahme". Im Gegensatz dazu blieben gewalttätige Gruppen, die Mitglieder der politischen Opposition und der LGBTI-Gemeinschaft bei Pride-Veranstaltungen angriffen, weitgehend straflos und wurden von der Polizei nicht aufgehalten. Am 17. Oktober 2023 legte die Präsidentin ihr Veto gegen eine Änderung des Gesetzes über Versammlungen und Demonstrationen ein. Durch die vorgeschlagene Änderung wäre es Protestierenden verboten worden, "temporäre" und als für die Versammlung "nicht erforderlich" erachtete "Strukturen" (z. B. Zelte) zu errichten, was eine rechtswidrige Einschränkung der Versammlungsfreiheit bedeutet hätte.
Am 2. März 2023 löste die Polizei eine Kundgebung auf, die im Rahmen der weitgehend friedlichen Proteste gegen den Gesetzentwurf zur "Transparenz ausländischer Einflussnahme" stattgefunden hatte. 36 Personen wurden dabei wegen mutmaßlicher Ordnungswidrigkeiten festgenommen, darunter zwei Journalist*innen, die über die Demonstration berichteten. Am 7. und 8. März setzte die Polizei ohne Vorwarnung Tränengas und Wasserwerfer gegen Tausende Menschen ein, die vor dem Parlament protestierten. 146 Protestierende wurden wegen mutmaßlicher Ordnungswidrigkeiten festgenommen und Dutzende mit Geldstrafen zwischen 500 Lari (etwa 170 Euro) und 2.000 Lari (etwa 670 Euro) wegen geringfügigen Rowdytums oder Ungehorsams gegenüber der Polizei belegt. Mindestens ein Demonstrierender, Lazare Grigoriadis, kam wegen Gewaltanwendung gegen die Polizei in Untersuchungshaft. Am 10. März 2023 zog das Parlament den Gesetzentwurf zurück.
Am 2. Juni 2023 wurden sieben Aktivisten, die einen friedlichen Sitzstreik vor dem Parlament abhielten, bei dem sie Transparente und leere Zettel in der Hand hielten, von der Polizei festgenommen. Sie durften keinen Kontakt zu ihren Familien oder Rechtsbeiständen aufnehmen und wurden wegen Rowdytums und Ungehorsams gegenüber der Polizei mit Geldstrafen von bis zu 2.000 Lari (etwa 670 Euro) belegt.
Unfaire Gerichtsverfahren
Das Justizsystem befand sich nach wie vor in einer Situation, die lokale NGOs als Legitimitäts- und Vertrauenskrise beschrieben, da nach wie vor Sorge über die selektive Anwendung des Rechts und politisch motivierte Strafverfolgungen herrschte. Am 5. April 2023 verhängte das US-Außenministerium Sanktionen gegen vier hochrangige georgische Richter wegen Korruption, Amtsmissbrauchs und Untergrabung des Justizsystems.
Der Prozess gegen den ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili, der sich u. a. aufgrund von Anklagen wegen Korruption und Machtmissbrauchs in Haft befand, wurde fortgesetzt. Am 6. Februar 2023 lehnte ein Gericht seine Freilassung aus humanitären Gründen ab, obwohl sich sein Gesundheitszustand stark verschlechtert hatte und er Berichten zufolge keine angemessene medizinische Versorgung erhielt.
Am 23. Juni 2023 wurde Nika Gvaramia, Mitbegründer des der politischen Opposition nahestehenden Fernsehsenders Mtavari TV, von der Präsidentin begnadigt und freigelassen. Er war aufgrund haltloser Anklagen wegen Machtmissbrauchs zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden. Eine Woche vor seiner Freilassung hatte der Oberste Gerichtshof ein von ihm eingelegtes Rechtsmittel abgewiesen.
Am 29. September 2023 erließ ein Gericht eine Haftanordnung gegen Lazare Grigoriadis (siehe "Recht auf Versammlungsfreiheit") wegen Anklagen, die sich auf Vorkommnisse im Jahr 2021 bezogen. Die Haftanordnung erging kurz bevor die gesetzlich erlaubte Maximaldauer seiner Untersuchungshaft im Zusammenhang mit den Protesten vom März 2023 erreicht worden wäre. Nach seiner Festnahme am 29. März bezeichneten hochrangige Regierungsmitglieder ihn wiederholt als Kriminellen und gaben abfällige Kommentare über sein Aussehen und seine vermeintliche sexuelle Orientierung ab.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
Die von Regierungsmitgliedern und ihren Unterstützer*innen betriebene Anti-LGBTI-Propaganda nahm zu, und die Polizei schützte LGBTI-Kundgebungen nicht angemessen vor gewalttätigen Demonstrierenden.
Am 8. Juli 2023 stürmten etwa 2.000 LGBTI-feindliche Demonstrierende eine private Pride-Veranstaltung in Tiflis, zerstörten und plünderten Eigentum, verwüsteten die Bühne und setzten Regenbogenfahnen und Plakate in Brand. Anwesende Polizeikräfte griffen nicht ein, um diese gewalttätigen Ausschreitungen zu verhindern.
Rechte von Frauen und Mädchen
Gewalt gegen Frauen – einschließlich Femiziden und anderer Formen geschlechtsspezifischer Gewalt – war nach wie vor alltäglich. Am 15. Juni 2023 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Gaidukevich gegen Georgien, dass die georgische Regierung gegen das Recht auf Leben und das Diskriminierungsverbot verstoßen hatte. Laut EGMR hatte die Regierung keine Maßnahmen zum Schutz einer von häuslicher Gewalt betroffenen Frau ergriffen und keine wirksame Untersuchung ihres mutmaßlichen Suizids durchgeführt.
Gewalt gegen politisch aktive Frauen war nach wie vor weit verbreitet. Eine neue Studie der Vereinten Nationen kam zu dem Ergebnis, dass die georgische Regierung trotz der Häufigkeit und der Schwere solcher Angriffe nichts zur Lösung dieses Problems unternahm. Frauen in der politischen Opposition waren weiterhin sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen sowie geschlechtsspezifischer Diskriminierung ausgesetzt, insbesondere durch hochrangige Mitglieder der Regierungspartei.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Die Regierung veröffentlichte ihre "Langfristige Strategie für eine emissionsarme Entwicklung", mit der sich Georgien verpflichtete, bis 2050 "klimaneutral" zu werden.
Abchasien und Südossetien/Zchinwali
Die Freizügigkeit zwischen den von der Regierung kontrollierten Gebieten und den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien war 2023 weiterhin eingeschränkt. Nach wie vor gab es Berichte über die Tötung, willkürliche Inhaftierung und Misshandlung von Zivilpersonen durch die De-facto-Behörden der abtrünnigen Regionen. Am 6. November 2023 erschossen russische Truppen an der Verwaltungsgrenze zu Südossetien einen Mann und nahmen einen weiteren fest. Beide Männer hatten dort eine Kirche besucht.
Folter und andere Misshandlungen
Berichten zufolge war der Gesundheitszustand von Irakli Bebua kritisch, einem ethnischen Georgier mit Wohnsitz in der in Abchasien gelegenen Stadt Gali, der wegen Verbrennung einer abchasischen Flagge zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Irakli Bebua litt an schweren chronischen Krankheiten und wurde in der Haft nicht angemessen medizinisch versorgt. Mindestens sieben Personen wurden von den De-facto-Behörden der abtrünnigen Regionen weiterhin willkürlich und unter unzulänglichen Bedingungen in Haft gehalten.