Amnesty Journal 18. Juli 2013

Menschenrechte sind grenzenlos

Auszüge aus dem Vorwort zum Amnesty Report 2013. Von Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International

Am 9. Oktober 2012 schossen Taliban in Pakistan der 15-jährigen Malala Yousafzai in den Kopf. Ihr Verbrechen war es, sich für die Bildung von Mädchen einzusetzen. Ihr Medium war ein Blog. Wie bei dem Tunesier Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung 2010 Proteste im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika auslöste, hatte auch Malalas Entschlossenheit Auswirkungen weit über die Grenzen Pakistans hinaus.

Menschen wie sie auf der ganzen Welt haben – unter großem persönlichem Risiko sowohl auf der Straße als auch in der digitalen Welt – Unterdrückung und Gewalt durch Regierungen und andere einflussreiche Akteure aufgedeckt. Über Blogs, andere soziale Medien und mithilfe der traditionellen Presse haben sie eine internationale Solidarität geschaffen, damit die Erinnerung an Mohameds und Malalas Träume nicht in Vergessenheit gerät.

Der Mut vieler Menschen verbunden mit der Möglichkeit, ein starkes Verlangen nach Freiheit, Gerechtigkeit und Rechten auf neuen Wegen zu kommunizieren, hat die Machthaber alarmiert. Solidaritätsbekundungen mit denjenigen, die gegen Unterdrückung und Diskriminierung protestieren, stehen in deutlichem Gegensatz zu dem Verhalten vieler Regierungen, die mit großer Härte gegen friedliche Demonstrierende vorgehen und immer wieder versuchen, die Kontrolle über die digitale Welt zu gewinnen – nicht zuletzt auch durch das Schaffen digitaler Landesgrenzen. (…)

Souveränität und Solidarität

(…) Einer der Schwerpunkte der Menschenrechtsarbeit ist das Recht aller Menschen auf Schutz vor Gewalt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die strikte Begrenzung der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in das Privat- und Familienleben. Dazu gehört auch der Schutz der Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Gewissensfreiheit. Dies bedeutet zudem, dass der Staat nicht über den Körper und den Umgang mit ihm bestimmen darf – was auch die Wahl der Kleidung, die Entscheidung Kinder zu bekommen und die sexuelle und geschlechtliche Identität einschließt.
Allein das Jahr 2012 hat uns eine Vielzahl von Beispielen dafür geliefert, dass Regierungen die Rechte ihrer eigenen Bevölkerung verletzen.

In den ersten Tagen des Jahres 2012 wurden 300 Familien aus einem Stadtteil der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh vertrieben und waren in der Folge obdachlos. Nur wenige Wochen später erlitten 600 Menschen im Armutsviertel Pinheirinho im brasilianischen Bundesstaat São Paulo dasselbe Schicksal. Im März wurden insgesamt 21 Menschen von Polizisten in Jamaika erschossen und mehrere Musiker in Aserbaidschan geschlagen, festgenommen und in Haft gefoltert. Die westafrikanische Republik Mali stürzte im selben Monat nach einem Putsch in der Hauptstadt Bamako in eine schwere Krise.

Und so ging es weiter: In Nigeria kam es zu Zwangsräumungen. In Somalia, Mexiko und anderen Ländern wurden Journalisten getötet. Frauen wurden zu Hause, auf der Straße oder während sie ihr Recht zu protestieren wahrnahmen, vergewaltigt und sexuell missbraucht. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle wurden verprügelt und daran gehindert, Gay-Pride-Festivals zu veranstalten. Menschenrechtsverteidiger wurden ermordet oder auf Grundlage konstruierter Anklagen inhaftiert. Im September ließ die japanische Regierung zum ersten Mal seit mehr als 15 Jahren eine Frau hinrichten. Im November eskalierte der Konflikt zwischen Israel und dem Gazastreifen abermals, zur gleichen Zeit flohen in der Demokratischen Republik Kongo Tausende Zivilpersonen aus ihren Unterkünften, als die von Ruanda unterstützte bewaffnete Bewegung M23 in Richtung der Hauptstadt der Provinz Nordkivu marschierte.

In Syrien dauerte der bewaffnete Konflikt 2012 unvermindert an. Bis Ende des Jahres war die Anzahl der Toten laut Angaben der UNO bereits auf 60.000 gestiegen.

Untätigkeit

(…) Der syrische Präsident Bashar al-Assad sicherte sich, wie schon sein Vater vor ihm, sein Amt, indem er die Armee und die Sicherheitskräfte des Landes gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, die seinen Rücktritt forderte. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied: Zur Zeit des Massakers von Hama im Jahre 1982 geschahen diese Massentötungen trotz des Einsatzes von Amnesty International und vielen anderen weitgehend außerhalb des Blickfeldes der restlichen Welt. Im Gegensatz dazu war es mutigen syrischen Bloggern und Aktivisten in den vergangenen Monaten möglich, der ganzen Welt direkt und unmittelbar zu erzählen, was in ihrem Land passiert.

Seit nunmehr fast zwei Jahren führen die syrischen Streit- und Sicherheitskräfte immer wieder willkürliche Angriffe durch und inhaftieren, foltern und töten Menschen, die sie für Unterstützer der bewaffneten Opposition halten. Trotz der steigenden Zahl der Todesopfer – und trotz reichlich vorhandener Beweise für begangene Verbrechen – ergriff der UNO-Sicherheitsrat erneut keine Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung. In einem Bericht von Amnesty International werden in diesem Zusammenhang 31 verschiedene Arten der Folter und anderweitiger Misshandlungen dokumentiert. Bewaffnete Oppositionsgruppen sind ebenfalls für Massentötungen und Folterungen verantwortlich, wenngleich in wesentlich geringerem Ausmaß. Dass der UNO-Sicherheitsrat bisher nicht eingegriffen hat, liegt vor allem am Widerstand der Vetomächte Russland und China, die ihre Haltung damit begründen, dass man die staatliche Souveränität Syriens achten müsse. (…)

Schutz oder Ausbeutung

Eines der prägnantesten Beispiele für die problematische Auslegung staatlicher Souveränität ist der weltweite Umgang mit indigenen Bevölkerungsgruppen in den vergangenen Jahrzehnten. Eine Wertvorstellung, die indigene Gemeinschaften rund um den Globus verbindet, ist ihre Ablehnung des Konzeptes von "Grundbesitz". Sie betrachten sich stattdessen traditionell als Hüter des Landes, auf dem sie leben. Dafür zahlen sie jedoch einen hohen Preis. Wie sich im Laufe der Zeit herausgestellt hat, leben viele indigene Gemeinschaften in Gebieten, die reich an Bodenschätzen sind. Die Regierungen, die eigentlich zum Schutz der Rechte dieser Gemeinschaften verpflichtet sind, beanspruchen deswegen oftmals deren traditionelles Land für den "souveränen Staat", verkaufen oder verpachten es oder ermöglichen es anderen, die Bodenschätze auszubeuten. Anstatt die Vorstellung der Gemeinschaften, Wächter des Landes und aller zugehörigen Ressourcen zu sein, zu respektieren, sind Staaten und Unternehmen in diese Gebiete eingedrungen, haben die ­indigene Bevölkerung vertrieben und Eigentum am Land oder aber die daran geknüpften Abbaurechte beansprucht.

Besonders erschreckend ist, wie viele Staaten und Unternehmen die UNO-Erklärung über die Rechte der Indigenen Völker einfach ignorieren. Darin werden Staaten ausdrücklich dazu aufgefordert, indigene Gemeinschaften in vollem Umfang und wirksam an allen Angelegenheiten zu beteiligen, die sie betreffen. (…)
Aktivisten, die sich für die Rechte ihrer indigenen Gemeinschaften einsetzen, laufen Gefahr, angegriffen und sogar getötet zu werden.

Derartige Diskriminierung, Marginalisierung und Gewalt beschränkten sich 2012 nicht nur auf den amerikanischen Kontinent, sondern waren weltweit zu beobachten – von den Philippinen bis Namibia (…).

Globalisierung und Menschenrechte

Der Kampf um Ressourcen ist nur eines der Merkmale unserer globalisierten Welt. Ein anderes ist der Kapitalfluss über Landesgrenzen und Ozeane hinweg in die Taschen der Machthaber. ­Natürlich stimmt es, dass die Globalisierung für einige zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand geführt hat. Doch müssen nicht nur indigene Bevölkerungsgruppen, sondern zahlreiche weitere Gemeinschaften zusehen, wie Regierungen und Unternehmen Profit aus dem Land schlagen, auf dem sie leben – während sie selbst hungern.

Trotz eines signifikanten Wirtschaftswachstums in vielen Ländern Subsahara-Afrikas leben dort noch immer Millionen von Menschen in lebensbedrohlicher Armut. Nach wie vor sind zwei der Hauptgründe dafür Korruption und der Abfluss von Kapital in Steuerparadiese außerhalb Afrikas. Der Reichtum der Region an Bodenschätzen heizt Geschäfte zwischen Unternehmen und Politikern an. Fehlende Transparenz hinsichtlich abgeschlossener Lizenzverträge und keinerlei Verpflichtungen zur Rechenschaftslegung führen zu unrechtmäßiger Bereicherung sowohl der Unternehmenseigner als auch der Politiker, die auf Kosten derjenigen geschieht, deren Arbeitskraft ausgebeutet wird, deren Land abgetragen wird und deren Rechte verletzt werden. Gerechtigkeit ist für sie nicht einmal ansatzweise erreichbar. (…)

Sobald Arbeitsmigranten die Grenzen ihrer Herkunftsländer hinter sich gelassen haben, fühlen diese sich nicht länger für sie verantwortlich. Gleichzeitig sprechen ihnen die Aufnahmeländer alle Rechte ab, weil sie eine fremde Staatsbürgerschaft haben. Die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen von 1990 gehört noch immer zu den Menschenrechtsabkommen mit den wenigsten Vertragsstaaten. Keiner der Staaten in Westeuropa, die Migranten aufnehmen, hat das Abkommen bisher ratifiziert und auch andere wichtige Aufnahmeländer wie die USA, Kanada, Australien, Indien, Südafrika und einige der Golfstaaten gehören nicht zu den Vertragsstaaten.

Besonders schutzlos sind Personen, die keine Staatsbürgerschaft besitzen. Weltweit gibt es zwölf Millionen Staatenlose, was der Einwohnerzahl großer Ballungsräume wie London, Lagos oder Rio de Janeiro entspricht. Etwa 80 Prozent der Staatenlosen sind Frauen. Sie unterstehen nicht dem Schutz eines "souveränen Staates". Ihr Schutz obliegt uns allen. Die Menschenrechte müssen für alle Menschen gelten, ob sie ein Heimatland haben oder nicht.

Manche Staaten fühlen sich nicht zuständig, wenn Frauen in Lagern im Südsudan vergewaltigt, Asylsuchende von Australien bis Kenia in Hafteinrichtungen oder Metallverschlägen eingesperrt werden, Hunderte Flüchtlinge in undichten Booten auf ihrer verzweifelten Suche nach einem sicheren Hafen sterben.

Afrikanischen Flüchtlingen vor der Küste Italiens wurde 2012 abermals das Anlegen an den sicheren Ufern Europas verweigert. Die australische Regierung fing weiterhin Boote von Flüchtlingen und Migranten auf hoher See ab. Auch die US-Küstenwache verteidigte dieses Vorgehen: "Das Abfangen von Migranten auf hoher See ermöglicht eine schnelle Rückführung in ihre Herkunftsländer, wodurch kostspielige Prozesse vermieden werden, die nach einer Einreise in die USA erforderlich werden würden." In all diesen Fällen hatte die staatliche Souveränität Vorrang vor dem Recht des Einzelnen, Asyl zu beantragen.

Etwa 200 Menschen sterben jedes Jahr bei dem Versuch, auf dem Weg in die USA die Wüste zu durchqueren – eine direkte Folge von Maßnahmen der US-Regierung, ungefährlichere Wege über die Grenze für Migranten unpassierbar zu machen. Obwohl die Einwanderung in die USA stetig abnimmt, ist die Zahl der Todesopfer in etwa gleich geblieben.

Diese Beispiele zeigen auf besonders drastische Weise, wie die Verantwortung, die Menschenrechte – einschließlich des Rechts auf Leben – zu schützen, verleugnet wird. Die Abschottung der Grenzen steht in starkem Kontrast zum freien und grenzüberschreitenden Kapitalfluss.

In ebenso starkem Kontrast stehen Einwanderungskontrollen zum weitgehend unbeschränkten internationalen Handel mit konventionellen Waffen, zu denen auch Kleinwaffen und leichte Waffen gehören. Hunderttausende Menschen werden infolge dieses Handels verletzt, vergewaltigt, gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen, oder getötet. Darüber hinaus hat der Waffenhandel direkten Einfluss auf Diskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und auf die Bemühungen um Frieden und Sicherheit sowie Gleichberechtigung der Geschlechter. Es ist oftmals einfach, an Waffen zu gelangen, sie werden gekauft und verkauft, getauscht und weltweit versandt. Und viel zu häufig landen Waffen in den Händen von Regierungen und ihren Sicherheitskräften, die Menschenrechte missachten, oder bei Kriegsherren und kriminellen Banden. Die weltweiten Rüstungstransfers sind ein lukratives Geschäft mit einem Volumen von rund 70 Milliarden US-Dollar. Natürlich versuchen daher diejenigen, die besonders von diesem Geschäft profitieren, Handelsschranken zu verhindern. Als dieser Bericht in den Druck ging, waren die Regierungen der Länder, die am stärksten in den Handel mit Rüstungsgütern eingebunden sind, zu Verhandlungen über einen Waffenkontrollvertrag bereit. Amnesty International fordert, dass Waffen nicht exportiert werden dürfen, wenn die Gefahr besteht, dass mit ihnen schwere Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts begangen werden könnten.

Der Fluss von Informationen

Positiv an den bisher genannten Beispielen ist, dass sie uns überhaupt bekannt sind. Schon seit einem halben Jahrhundert dokumentiert Amnesty International Menschenrechtsverletzungen rund um die Welt und setzt alle verfügbaren Mittel ein, um solche Verletzungen zu stoppen, ihnen vorzubeugen und die Menschenrechte zu schützen. Heutige Kommunikationsformen eröffnen Möglichkeiten, die sich die Gründer der modernen Menschenrechtsbewegung niemals erträumt hätten. Durch sie wird es für Regierungen und Unternehmen zunehmend schwieriger, sich hinter den Grenzen der "Souveränität" zu verstecken. (…)

Die modernen Kommunikationsmittel verschaffen uns Zugang zu unzähligen Informationen und ermöglichen es Aktivisten, sicherzustellen, dass Menschenrechtsverstöße nicht unbemerkt bleiben. Informationen schaffen jedoch auch einen gewissen Handlungszwang. Schon bald wird sich entscheiden, ob wir auch in Zukunft uneingeschränkten Zugang zu diesen Informationen haben werden oder ob Staaten und andere einflussreiche Akteure diesen Zugang einschränken werden. Ein Ziel von Amnesty International ist es, sicherzustellen, dass jeder die Möglichkeit hat, Informationen zu erhalten und zu verbreiten und somit den Missbrauch von Macht und Souveränität zu bekämpfen. Das Internet bildet ein wichtiges Gegengewicht zu dem Konzept der Souveränität und den an Staatsbürgerschaft gebundenen Rechten. Es eröffnet uns die Möglichkeit, das Modell eines Weltbürgertums zu kreieren. (…)

Amnesty International Report 2013. S. Fischer, Frankfurt/Main. 544 Seiten, 14,99 Euro.

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