Kolumne: Iran - Die Furcht verloren
Was geschah mit Sohrab Aarabi? Auf diese Frage hat die Mutter des 19-Jährigen bis heute keine klare Antwort bekommen. Wochenlang hatte sie mit dem Bild ihres Sohnes vor dem Evin-Gefängnis ausgeharrt, nachdem er von einer Demonstration gegen die Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad nicht zurückgekehrt war. Dann rief man die Mutter vor ein Revolutionsgericht und reichte ihr einen Stapel mit 60 Fotos von Toten. Eines davon zeigte Sohrab. "Verstorben infolge einer Schusswunde im Brustbereich", stand im beiliegenden Bericht eines Gerichtsmediziners.
Doch die Mutter will es genau wissen: Wer hat auf Sohrab geschossen? Ist er auf der Straße verblutet, weil ihm niemand zu Hilfe kam? "Die Behörden spielen mit mir, aber ich werde keine Ruhe geben", sagte sie, als sie ihren Sohn Mitte Juli zu Grabe trug. Auf der Beerdigung riefen Hunderte Trauernde "Gott ist groß". Einer hielt ein Plakat hoch, auf dem stand: "Mein Märtyrer-Bruder, wir werden deine Stimme zurückholen."
Die Welle der Repression, mit der das Regime den Protest gegen den umstrittenen Wahlsieg niederschlagen wollte, hat den Geist des Widerstands nicht brechen können. Die Legitimität der Herrschenden in der Islamischen Republik Iran ist schwer beschädigt. Auch wenn Mahmud Ahmadinedschad am 2. August planmäßig in eine zweite Amtszeit eingeführt wird: Ruhe wird das Land auf absehbare Zeit nicht finden. Im Inneren des Regimes ist ein Machtkampf entbrannt, dessen Ausgang noch offen scheint.
An der Spitze der verfeindeten Lager stehen sich zwei alte Gefährten aus Revolutionstagen gegenüber: Der Geistliche Führer Ali Khamenei, der seine politische Zukunft nun untrennbar mit der seines Günstlings Ahmadinedschad verbunden hat; und Akbar Haschemi Rafsandschani, der Ex-Präsident und Vorsitzende des Schlichtungsrates, eines Gremiums, das theoretisch sogar den Geistlichen Führer abberufen kann. Dass sich Rafsandschani bei seinem ersten Auftritt als Freitagsprediger Wochen nach der Wahl öffentlich hinter die Protest-Bewegung gestellt hat, ist ein direkter Affront gegen den Geistlichen Führer.
Ganz gleich, welches Lager im Gezerre um die Macht die Oberhand behält: Mit revolutionären Veränderungen quasi über Nacht ist wohl nicht zu rechnen. Bei aller Polarisierung hat doch keine der Fraktionen innerhalb des Regimes ein Interesse daran, den Erhalt des Systems selbst ernsthaft zu gefährden. Nach den öffentlichen Erschütterungen in den Wochen nach der Wahl wird die Teheraner Macht-Elite wohl weiter bemüht sein, ihre Flügelkämpfe hinter den Kulissen auszufechten.
Die Regierungen des Westens tun gut daran, Zurückhaltung zu üben. Die Welle der Verhaftungen und politischen Morde muss deutlich verurteilt werden. Doch niemand im Ausland sollte sich der Illusion hingeben, die innere Entwicklung des Iran lasse sich damit entscheidend beeinflussen.
Die Zukunft der Islamischen Republik liegt in den Händen der Iraner, heute mehr denn je. Denn Hunderttausende Bürger haben die Furcht und den Respekt vor den Mächtigen im Staat verloren, so wie die Mutter von Sohrab Aarabi. Ihr ungebrochener Protest, trotz Schlägertrupps und Scharfschützen auf den Dächern, macht dem Regime in Teheran mehr zu schaffen als alle Sanktionen und aller Druck des Westens.
Von Steffen Gassel. Der Journalist ist Nahost-Korrespondent des "Stern" und berichtet regelmäßig aus dem Iran.