Amnesty Report Libyen 19. Mai 2010

Libyen 2010

 

Amtliche Bezeichnung: Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija Staatsoberhaupt: Muammar al-Gaddafi Regierungschef: al-Baghdadi Ali al-Mahmudi Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 6,4 Mio. Lebenserwartung: 73,8 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 20/19 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 86,8%

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben stark eingeschränkt. Die Behörden zeigten wenig Toleranz gegenüber abweichenden politischen Meinungen. Personen, die Kritik an der Menschenrechtspolitik der Regierung übten, wurden bestraft. Ehemalige Insassen des US-Gefangenenlagers Guantánamo Bay, die nach Libyen überstellt worden waren, blieben weiterhin in Haft. Ein Häftling beging dem Vernehmen nach im Gewahrsam Selbstmord. Ausländische Staatsangehörige, darunter auch Flüchtlinge und Asylsuchende, die verdächtigt wurden, sich illegal im Land aufzuhalten, wurden festgenommen und misshandelt. Eine offizielle Untersuchung der Todesfälle im Abu-Salim-Gefängnis im Jahr 1996 wurde in die Wege geleitet. Die Behörden gaben aber keine Einzelheiten bekannt. Verwandte der Toten, die für eine lückenlose Aufklärung eintraten, wurden festgenommen. Hunderte Fälle von "Verschwindenlassen" und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen aus den 1970er, 1980er und 1990er Jahren wurden weiterhin nicht aufgeklärt. Der Interne Sicherheitsdienst (Internal Security Agency – ISA), der an diesen Menschenrechtsverletzungen beteiligt war, konnte noch immer straflos operieren.

Hintergrund

Im Februar 2009 wurde Muammar al-Gaddafi zum Präsidenten der Afrikanischen Union ernannt. Er sprach im September zum ersten Mal vor der UN-Generalversammlung, deren Vorsitz Libyen zu dieser Zeit führte. Ebenfalls im September feierte Libyen den 40. Jahrestag der Machtergreifung Muammar al-Gaddafis. Die Verhandlungen zwischen der EU und Libyen über ein Rahmenabkommen wurden fortgesetzt.

Am 20. August wurde der libysche Staatsangehörige Abdelbaset Ali Mohmed al-Megrahi von den schottischen Behörden freigelassen und nach Libyen überstellt, nachdem er unheilbar an Krebs erkrankt war. Al-Megrahi war der Beteiligung am Bombenattentat auf den Pan-Am-Flug 103 über Lockerbie in Schottland im Jahr 1988 in Großbritannien für schuldig befunden worden.

Im Oktober bewilligten die Behörden einen Besuch der UN-Arbeitsgruppe zum Schutz aller Personen vor dem "Verschwindenlassen", nannten aber kein Datum für einen solchen Besuch. Der UN-Sonderberichterstatter über Folter erhielt jedoch trotz einer entsprechenden Anfrage keine Einladung.

Im November fror die Schweiz ihre diplomatischen Beziehungen zu Libyen ein, nachdem die libyschen Behörden die Schweizer Geschäftsleute Rachid Hamdani und Max Goeldi vom 18. September bis zum 9. November 2009 ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert hatten. Die Anklage lautete auf Verletzung der Einreisebestimmungen. Die Männer wurden zu 16 Monaten Haft und einer Geldbuße von 2000 LYD (umgerechnet ca. 1000 Euro) verurteilt. Ende 2009 hielten sich die beiden Männer noch in der Schweizer Botschaft auf. Ihnen droht darüber hinaus eine Anklage wegen Wirtschafts- und Steuervergehen.

Unterdrückung Andersdenkender

Die Behörden ließen mindestens zwei gewaltlose politische Gefangene frei, von denen einer jedoch wieder in Haft genommen wurde. Viele weitere blieben inhaftiert. Das Strafgesetz und das Gesetz Nr. 71 aus dem Jahr 1972 stellten nach wie vor die friedliche Ausübung der Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit unter Strafe.

  • Jamal el-Haji und Faraj Saleh Hmeed kamen am 10. März 2009 frei. Sie waren seit Februar 2007 inhaftiert gewesen, weil sie versucht hatten, eine friedliche Demonstration zu organisieren. Jamal el-Haji wurde am 9. Dezember wieder in Haft genommen und angeklagt, die Justizbehörden beleidigt zu haben, weil er sich über seine Behandlung in der Haft beschwert hatte.

  • Der bekannte Regierungskritiker und gewaltlose politische Gefangene Fathi el-Jahmi befand sich seit März 2002 fast ununterbrochen in Haft. Im Gefängnis wurde ihm nur sporadische und unzureichende medizinische Betreuung zuteil. Am 5. Mai wurde er von Libyen zu einer dringenden medizinischen Behandlung nach Jordanien ausgeflogen; er starb am 21. Mai 2009. Es gibt keine Berichte darüber, ob die libyschen Behörden eine unabhängige Untersuchung der Umstände einleiteten, die zur Verschlechterung seines Gesundheitszustands geführt hatten. Die Todesursache und die weiteren Umstände seines Todes blieben ebenfalls im Dunkeln.

  • Abdelnasser al-Rabbasi war im Januar 2003 festgenommen worden. Er verbüßte seitdem im Abu-Salim-Gefängnis eine 15-jährige Haftstrafe wegen "Untergrabung des Ansehens des Revolutionsführers". Al-Rabbasi hatte eine E-Mail an die Zeitung Arab Times geschickt, in der er sich kritisch über Muammar al-Gaddafi äußerte.

  • Der Rechtsanwalt ’Adnan el-Urfi wurde am 9. Juni 2009 nach der Radiosendung Good Evening Benghazi festgenommen. Während des Programms hatte el-Urfi dort angerufen und über Menschenrechtsverletzungen berichtet, die einer seiner Mandanten erdulden musste. Außerdem hatte er das libysche Justizsystem kritisiert. Ein erstinstanzliches Gericht in Benghazi sprach ihn im September von allen Anklagepunkten frei. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen Rechtsmittel ein. Ende des Jahres war die Entscheidung über dieses Rechtsmittel noch anhängig, und Adnan el-Urfi blieb auf freiem Fuß.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Die inhaftierte Führung der Libyschen Islamischen Kampfgruppe (Libyan Islamic Fighting Group – LIFG) verzichtet dem Vernehmen nach zukünftig auf Gewalt. Dies war das Ergebnis von fortgesetzten Verhandlungen mit der Internationalen Gaddafi-Stiftung für Wohltätigkeit und Entwicklung (Gaddafi International Charity and Development Foundation – GDF) unter Saif al-Islam al-Gaddafi. Im März teilte die GDF mit, dass in den vergangenen zwei Jahren 136 Mitglieder der LIFG aus der Haft entlassen worden seien. 45 weitere Mitglieder erlangten im Oktober zusammen mit 43 mutmaßlichen Mitgliedern "dschihadistischer" Gruppierungen ihre Freiheit. Die GDF veröffentlichte im Oktober eine Liste der Freigelassenen und forderte den Generalsekretär des Allgemeinen Volkskongresses auf, ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu unterstützen.

  • Im Juni 2009 wurde Muhammad Hassan Abou Sadra nach mehr als 20 Jahren aus der Haft entlassen. Die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen hatte ihn als Opfer willkürlicher Haft anerkannt.

  • Abu Sufian Ibrahim Ahmed Hamuda und Abdelsalam Safrani, die nach ihrer Rückkehr aus US-amerikanischer Haft in Guantánamo Bay im Dezember 2006 bzw. im September 2007 in Libyen festgenommen worden waren, befanden sich noch immer im Abu-Salim-Gefängnis in Haft. Die libyschen Behörden weigerten sich, Einzelheiten über ihren rechtlichen Status bekannt zu geben. Die US-Behörden kündigten im September die Entlassung von drei weiteren libyschen Staatsangehörigen aus Guantánamo an. Ende 2009 waren sie jedoch noch nicht nach Libyen überstellt worden.

  • Abdelaziz Al-Fakheri, auch bekannt als Ibn Al Sheikh Al Libi, hat Berichten zufolge am 9. Mai 2009 im Abu-Salim-Gefängnis Selbstmord begangen. Er war in den USA in Verbindung mit Terrorismus inhaftiert und Ende 2005 oder Anfang 2006 von den US-Behörden nach Libyen überstellt worden. Seit seiner Rückkehr befand er sich ununterbrochen in Haft. Die Behörden gaben an, eine Untersuchung des Falls eingeleitet zu haben und bestätigten später, dass Al-Fakheri Selbstmord begangen habe. Weitere Einzelheiten wurden nicht bekannt.

  • Mahmoud Mohamed Aboushima wurde der Mitgliedschaft in der LIFG verdächtigt. Man hatte ihn im Juli 2005 verhaftet, kurz nachdem er aus Großbritannien zurückgekommen war. Er blieb auch Ende 2009 im Abu-Salim-Gefängnis inhaftiert, obwohl der Oberste Gerichtshof im Juli 2007 den Beschluss eines vorinstanzlichen Gerichts über seine Freilassung bestätigt hatte.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten

Es gab 2009 immer wieder Berichte über Inhaftierungen von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus. Einige von ihnen wurden, wie es hieß, misshandelt und Tausende abgeschoben. Flüchtlingen und Asylsuchenden wurde kein Schutz gemäß dem Völkerrecht gewährt. Im Mai schickten die italienischen Behörden auf See abgefangene "illegale Migranten" zurück nach Libyen, wo sie inhaftiert wurden. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) untersuchte diese Fälle und teilte mit, dass er bis September 206 der 890 von Italien nach Libyen rückgeführten Menschen als Flüchtlinge anerkannt habe. Im November kündigte die libysche Partnerorganisation des UNHCR die Eröffnung von Gesundheitszentren in den vier Hafteinrichtungen an.

Am 10. August setzten Sicherheitskräfte dem Vernehmen nach exzessive Gewalt gegen bis zu 200 ausländische Staatsangehörige ein, die versucht hatten, aus dem Ganfouda-Gefangenenlager in der Nähe von Benghazi zu fliehen. Die Insassen wurden mit scharfer Munition beschossen und mit Messern und Schlagstöcken attackiert. Es gab Tote und Schwerverletzte. Die meisten der Geflohenen wurden wieder festgenommen und nach Ganfouda zurückgebracht. Einige Insassen des Lagers berichteten, dass sie nach dem Ausbruchsversuch von Sicherheitsbeamten tätlich angegriffen worden seien.

Straflosigkeit

Im Laufe des Jahres 2009 hielten Angehörige der Hunderten von Gefangenen, die Berichten zufolge 1996 im Abu-Salim-Gefängnis getötet worden waren, in Benghazi, Ajdebia und weiteren Städten friedliche Demonstrationen ab. Sie forderten die Wahrheit über die Vorfälle zu erfahren, Gerechtigkeit und Entschädigungszahlungen. Die Behörden teilten mehreren Familien mit, dass die Gefangenen getötet worden seien, und stellten in einigen Fällen Totenscheine aus. Viele Familien lehnten eine finanzielle Entschädigung jedoch ab, weil diese an einen Verzicht auf Einlegung von Rechtsmitteln gekoppelt war. Im September beauftragten die Behörden einen Richter mit der Untersuchung des Falls. Weder sein genaues Mandat noch weitere Einzelheiten der Ermittlungen wurden bislang bekannt gemacht. Im Oktober kündigten die Behörden den Abriss des Abu-Salim-Gefängnisses an, was bei einigen der Familien für Empörung sorgte, weil sie fürchteten, dass so Beweismittel zerstört würden.

Die Sicherheitskräfte, allen voran ISA-Angehörige, konnten weiterhin straffrei operieren. Personen, die abweichende politische Meinungen vertraten oder Straftaten im Zusammenhang mit Terrorismus verdächtigt wurden, kamen in Haft und wurden verhört. Sie wurden ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten und erhielten keinen Rechtsbeistand.

  • Am 26. März 2009 wurden drei Mitglieder des Organisationskomitees der Familien der Opfer von Abu Salim in Benghazi festgenommen. Fouad Ben Oumran, Hassan El-Madani und Fathi Tourbil hatten Demonstrationen von Familien der Opfer angeführt. Zusammen mit zwei weiteren am 28. März verhafteten Personen wurden sie nach einigen Tagen ohne Anklageerhebung wieder freigelassen.

Am 28. Oktober rief das Allgemeine Volkskomitee für Gerechtigkeit die Bevölkerung auf, der Organisation Fälle zu melden, in denen Personen von "Sicherheitskräften" ohne Anklage oder nach einem Freispruch bzw. nach der Verbüßung einer Strafe inhaftiert wurden. Dieser Aufruf erfolgte im Rahmen der "nationalen Versöhnung". Der Sekretär des Komitees versprach den Opfern eine finanzielle Entschädigung für jeden unrechtmäßig im Gefängnis verbrachten Tag. Er betonte weiterhin, dass "die Tür für gerichtliche Schritte offen bliebe". Eine öffentliche Entschuldigung der Behörden für die begangenen Menschenrechtsverletzungen blieb aus. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.

Diskriminierung von Frauen

Frauen waren vor dem Gesetz und im täglichen Leben weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt. Es gab Fälle strafrechtlicher Verfolgung und Verurteilungen wegen zina-Vergehen (außereheliche Beziehungen). Mindestens eine Frau wurde zu Peitschenhieben verurteilt.

  • Am 21. Oktober 2009 demonstrierte eine Gruppe von Frauen aus einem staatlichen Pflegezentrum in Benghazi gegen mutmaßliche sexuelle Belästigungen durch Mitarbeiter des Zentrums. Nach der Demonstration übten Behördenvertreter dem Vernehmen nach Druck auf die Frauen aus, damit diese ihre Anschuldigungen fallen ließen. Am 26. Oktober erging gegen den Journalisten Mohamed Al-Sarit, der über die Demonstration berichtet hatte, Anklage wegen Verleumdung. Grundlage seiner Berichterstattung sollen die Aussagen der Frauen gewesen sein. Berichten zufolge wurden Ermittlungen zu den Vorwürfen der sexuellen Belästigung eingeleitet. Keiner der Verdächtigen wurde jedoch bislang vor Gericht gestellt.

Todesstrafe

Libyen hielt an der Todesstrafe für eine große Anzahl von Vergehen fest. Darunter fällt auch die friedliche Ausübung der Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Mindestens vier Männer wurden Berichten zufolge 2009 hingerichtet – ein Nigerianer und drei ägyptische Staatsangehörige. Die tatsächliche Zahl der Hinrichtungen dürfte aber höher liegen, da die Behörden keine Einzelheiten zu Hinrichtungen bekannt gaben. Anlässlich einer Amnestie zum 40. Jahrestag der Fateh-Revolution im September wurden alle Todesurteile, die vor dem 1. September für Straftaten ergangen waren, in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Acht zum Tode verurteilte Gefangene wurden begnadigt, und in elf Fällen wurden die Todesurteile in unterschiedlich lange Haftstrafen umgewandelt.

Amnesty International: Mission und Bericht

Eine Delegation von Amnesty International erhielt im Mai zum ersten Mal seit über fünf Jahren eine Einreiseerlaubnis nach Libyen.

Libya: Amnesty International completes first fact-finding visit in over five years (MDE 19/003/2009)

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