Amnesty Report Libyen 18. Mai 2009

Libyen 2009

 

Amtliche Bezeichnung: Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija Staatsoberhaupt: Muammar al-Gaddafi Regierungschef: al-Baghdadi Ali al-Mahmudi Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 6,3 Mio. Lebenserwartung: 73,4 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 20/19 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 84,2%

Libyens verbesserte diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten wurden überschattet von anhaltenden Menschenrechtsverletzungen. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben stark eingeschränkt. Regierungskritiker wurden unterdrückt und es gab keine unabhängigen Nichtregierungsorganisationen. Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten befanden sich weiterhin auf unbegrenzte Zeit in Haft und wurden dort misshandelt. Mindestens acht ausländische Staatsangehörige wurden hingerichtet. Die Regierung versäumte es erneut, schwerste Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit untersuchen zu lassen.

Hintergrund

Die internationalen diplomatischen Beziehungen zwischen Libyen und den USA sowie zu den europäischen Ländern haben sich im Laufe des Berichtsjahrs weiterhin verbessert. Im September 2008 reiste US-Außenministerin Condoleeza Rice nach Tripolis. Zuvor hatten die beiden Staaten im August u.a. eine Einigung auf Schadenregulierung im Fall des Bombenanschlags von Lockerbie erzielt. Außerdem wurde ein Freundschafts-, Partnerschafts- und Kooperationsvertrag mit Italien unterzeichnet, der u.a. Regelungen für die beiderseitigen Bemühungen um die Bekämpfung von "illegaler Zuwanderung" zum Ziel hatte. Im November begannen Verhandlungen mit der EU über eine Rahmenvereinbarung für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Zuwanderungspolitik. Im selben Monat fanden auf höchster Ebene Verhandlungen mit Russland statt, die die Zusammenarbeit in Energiefragen, die zivile Nutzung der Atomenergie und die Außenpolitik zum Inhalt hatten.

Trotz mehrfacher Aufforderung versäumte es die libysche Regierung, den UN-Sonderberichterstatter über Folter und die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen ins Land einzuladen.

Unterdrückung von Andersdenkenden

Die Regierung duldete keinerlei Kritik oder abweichende Meinungen und hielt zur Bekämpfung von Andersdenkenden an drakonischen Gesetzen fest. Das Strafgesetz und das Gesetz Nr. 71 aus dem Jahr 1972 stellen die Gründung von Parteien unter Strafe. Demnach ist es untersagt, unabhängige andere politische Meinungen zu vertreten sowie politisch aktive Gruppierungen zu bilden. Menschen, die ohne Anwendung von Gewalt von ihren Rechten auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit Gebrauch machen, droht die Todesstrafe. Die Behörden gingen weiterhin gegen alle Personen vor, die sich offen zu sensiblen Themen wie Menschenrechtsverletzungen oder zum Führungsstil Muammar al-Gaddafis äußerten.

  • Der gewaltlose politische Gefangene Fathi al-Jahmi blieb weiterhin im Medizinischen Zentrum von Tripolis (Tripoli Medical Centre) inhaftiert. Er war im März 2004 festgenommen worden, nachdem er politische Reformen angemahnt und das libysche Staatsoberhaupt in Interviews mit internationalen Medien kritisiert hatte. Als er im September 2006 vor Gericht gestellt wurde, erklärte man ihn für geistesgestört. Im März 2008 erfolgte im Namen der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights (Ärzte für Menschenrechte) eine medizinische Untersuchung durch einen unabhängigen Arzt. Der Arzt bescheinigte, dass Fathi al-Jahmi keinerlei Anzeichen für eine psychische Erkrankung aufweise. Er stellte jedoch fest, dass sich der Gefangene in einem schlechten Allgemeinzustand befand und dringend operiert werden müsse.

  • Idriss Boufayed und elf weiteren Personen wurde vor dem Staatssicherheitsgericht (State Security Court – SSC) der Prozess gemacht. Dieses Gericht war im August 2007 eingesetzt worden und untersucht Fälle von Einzelpersonen, die ohne Erlaubnis politisch tätig waren und wegen Vergehen gegen die Staatssicherheit angeklagt sind. Die Verhandlungen vor dem SSC entsprechen nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Idriss Boufayed und zehn weitere Personen wurden zu Haftstrafen von bis zu 25 Jahren verurteilt, nachdem man sie nach vage formulierten Anklagen für schuldig befunden hatte. Angeblich sollen sie "versucht haben, das politische System zu stürzen", "falsche Gerüchte über die libysche Regierung verbreitet" sowie "mit feindlichen Mächten in Verbindung gestanden haben". Der zwölfte Angeklagte wurde freigesprochen. Die Angeklagten hatten außerhalb des Gerichtssaals keinen Zugang zu einem vom Gericht zu bestimmenden Rechtsbeistand. Nur ein einziger Angeklagter durfte einen Rechtsanwalt seiner Wahl benennen. Idriss Boufayed und seine Mitangeklagten waren im Februar 2007 verhaftet worden, nachdem er und drei weitere Personen eine Erklärung über eine geplante friedliche Demonstration herausgegeben hatten. Die Kundgebung sollte zum Gedenken an zwölf Menschen stattfinden, die während einer Demonstration in Benghazi im Jahr 2006 zu Tode gekommen waren. Zwei weitere Personen, die zur selben Zeit festgenommen worden waren, wurden nicht angeklagt: Jum’a Boufayed kam am 27. Mai 2008 nach mehr als einem Jahr Haft ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Gerichtsverfahren aus dem Ain Zara-Gefängnis frei. Das Schicksal und der Aufenthaltsort von Abdelrahman al-Qateewy blieben im Dunkeln. Idriss Boufayed wurde im Oktober freigelassen, acht seiner Mitangeklagten kamen im November frei. Ihre Freilassungen wurden nicht weiter begründet. Zwei der mit ihnen verurteilten Personen blieben weiterhin in Haft.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Das Recht auf Vereinigungsfreiheit wurde von der Regierung weiterhin stark eingeschränkt und untersagte die Bildung von unabhängigen NGOs. Lediglich einer Organisation war es gestattet, die Lage der Menschenrechte anzusprechen: der Menschenrechtsvereinigung der Internationalen Gaddafi-Stiftung für Wohltätigkeit und Entwicklung (Society of Human Rights of the Gaddafi International Charity and Development Foundation – GDF), die von Saif al-Islam al-Gaddafi, einem Sohn Muammar al-Gaddafis, geleitet wird. Im Juli startete die GDF den "al-Gaddafi-Aufruf" ("al-Gaddafi Call"). Diese Initiative soll Menschen ermuntern, Informationen und Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen einzureichen.

  • Im März 2008 beantragte eine Gruppe von Rechtsanwälten, Journalisten und Schriftstellern die Zulassung einer neuen NGO, dem Zentrum für Demokratie (Center for Democracy), das sich "für die Verbreitung demokratischer Werte und Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit in Libyen" einsetzen wollte. Kurz darauf wurde der Antrag jedoch zurückgezogen. Nach Angaben des Vorsitzenden des Gründungskomitees hatten die Behörden gegen zwölf der Gründungsmitglieder der Organisation Einwände erhoben. Außerdem wurde Dhow Al Mansouri, der Vorsitzende des Gründungskomitees der Rechtsvereinigung für Menschenrechte (Justice Association for Human Rights) des Zentrums für Demokratie Opfer eines Angriffs. Er war im Juni von drei unbekannten Angreifern überfallen und entführt worden, die ihn davor warnten, die NGO zu gründen.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Im April 2008 gab die GDF bekannt, dass 90 Angehörige der Libyschen Islamischen Kampfgruppe (Libyan Islamic Fighting Group – LIFG) nach Verhandlungen zwischen der GDF und der Führung der Gruppe aus dem Gefängnis entlassen worden waren. Die GDF stellte fest, dass es sich hierbei um ein Drittel der gesamten Mitgliedschaft der LIFG handelte.

Die Behörden legten keine Einzelheiten über zwei libysche Staatsbürger– Abdelsalam Safrani und Abu Sufian Ibrahim Ahmed Hamuda – offen, die nach ihrer Rückführung aus US-amerikanischer Haft in Guantánamo im Dezember 2006 bzw. im September 2007 festgenommen worden waren. Dieser Mangel an Informationen gibt Anlass zur Befürchtung, dass die Sicherheit der beiden Männer nicht gewährleistet sein könnte. Dasselbe gilt für weitere Libyer, die unter ähnlichen Umständen in ihr Land zurückgeschickt werden. Insgesamt befinden sich noch mindestens sieben libysche Staatsangehörige in Gewahrsam der US-Behörden in Guantánamo Bay.

Straflosigkeit

Die Behörden versäumten es, der langjährigen Praxis der Straflosigkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen. Es gab keine Informationen über eine Untersuchung von Vorfällen, die sich 1996 im Abu Salim-Gefängnis in Tripolis zutrugen, als Hunderte von Gefangenen Berichten zufolge getötet wurden. Die GDF kündigte an, dass ein vorläufiger Bericht über die strafrechtliche und juristische Verantwortung für diesen Vorfall den Justizbehörden übergeben werden solle, nannte aber kein Datum. Im Juni wurde berichtet, dass das Gericht von Nord-Benghazi die Behörden aufgefordert habe, das Schicksal von rund 30 Gefangenen zu klären, von denen befürchtet wurde, dass sie während der Vorfälle im Abu Salim-Gefängnis ums Leben gekommen waren. Bislang wurden keine Informationen veröffentlicht. In einigen Berichten hieß es, die Behörden hätten der Zahlung einer endgültigen finanziellen Entschädigung an die etwa 35 Familien der getöteten Gefangenen zugestimmt, vorausgesetzt, die Familien legten keine Rechtsmittel ein. Die Behörden unternahmen keine Schritte, um schwerste Menschenrechtsverletzungen vor allem in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren zu untersuchen. Darunter fällt auch das "Verschwindenlassen" von Hunderten von Regierungskritikern. Es wird befürchtet, dass viele von ihnen während der Haft gestorben sind oder ermordet wurden.

Die Behörden unterließen es, eine genaue Untersuchung zum Fall eines Gefangenen einzuleiten, der im Jahr 2008 unter ungeklärten Umständen in Gewahrsam gestorben war.

  • Mohammed Abdel Abu-Ali starb Berichten zufolge im Mai 2008 in Gewahrsam, nachdem man ihn zu Beginn des Monats aus Schweden ausgewiesen hatte. Bei seiner Ankunft in Libyen wurde er festgenommen. Die Behörden gaben an, er hätte Selbstmord begangen. Eine Untersuchung, die vom schwedischen Außenministerium in Auftrag gegeben worden war, kam zu dem Schluss, dass die genaue Todesursache nicht feststellbar sei.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten

Es gab immer wieder Berichte über Folterungen und Misshandlungen von inhaftierten Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden. Letzteren wurde kein Schutz gemäß dem internationalen Flüchtlingsrecht gewährt. Am 15. Januar 2008 gaben die Behörden ihre Absicht bekannt, alle "illegalen Migranten" abzuschieben. Im Anschluss daran erfolgte eine Massenausweisung von Staatsangehörigen aus Ghana, Mali, Nigeria und anderen Ländern. Mindestens 700 Eritreer – Männer, Frauen und Kinder – wurden festgenommen. Ihnen drohte die Abschiebung in ihr Heimatland, obwohl zu befürchten war, dass sie in Eritrea schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein könnten.

  • Am 21. Juni 2008 informierten die Behörden rund 230 Eritreer, die in einem Haftzentrum in Misratah, 200 km östlich von Tripolis, interniert waren, dass sie noch am selben Tag zur Umsiedlung nach Italien ausgeflogen werden sollten. Sie wurden aufgefordert, sich auf eine medizinische Untersuchung und den Transfer zum Flughafen vorzubereiten. Dies alles stellte sich jedoch als Täuschung heraus. Die Behörden hatten offensichtlich geplant, die Menschen zwangsweise nach Eritrea zurückzuführen. Bis zum Ende des Berichtszeitraums war nicht bekannt, ob die Menschen auch tatsächlich abgeschoben wurden. Wahrscheinlich kam ihnen eine Intervention des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) zugute. Viele der Migranten hatten Eritrea offensichtlich in der Absicht verlassen, im Ausland Zuflucht zu suchen.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Die Behörden erteilten Amnesty International keine Besuchserlaubnis. Libya: Mass expulsion of irregular migrants would be a violation of human rights (18 January 2008) Libya: Prisoner of conscience Idriss Boufayed released (MDE 18/008/2008)

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