Amnesty Journal Indien 26. Juli 2021

Staatsfeind Amnesty

Protestierende mit Schildern und Kerzen, darunter mit der Botschaft "Keep Human Rights Alive"

Amnesty-Mitglieder beim "Marsch für die Menschenrechte" in der indischen Stadt Bangalore am 10. Dezember 2018

Eine spezielle Maßnahme der indischen Regierung hat dazu geführt, dass Amnesty International die Arbeit in Indien im vergangenen Jahr einstellen musste. Fragen und Antworten zum Menschenrechtsengagement unter widrigen Bedingungen.

Von Theresa Bergmann

Amnesty International ist seit rund 50 Jahren in Indien aktiv. Doch seit Narendra Modi im Jahr 2014 Premierminister wurde, legte seine Regierung die Arbeit der Organisation immer wieder lahm. Im September 2020 kam sie vollends zum Erliegen: Eine dem indischen Finanzministerium unterstellte Behörde fror die Bankkonten von Amnesty Indien ein. 140 Mitarbeiter_innen verloren mitten in der Corona-Pandemie ihre Jobs und damit auch ihre Krankenversicherungen.

Was macht Amnesty in Indien?

"Die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für Menschenrechtsstandards sind das Herzstück unserer Arbeit", sagt der Vorstandssprecher von Amnesty Indien Aakar Patel. Die Organisation ist seit den 1970er Jahren in dem Land aktiv und widmet sich vielen Themen: den Rechten der indigenen Adivasi-Bevölkerung, der neuen Macht der Sicherheitskräfte durch das Gesetz über besondere Befugnisse der Streitkräfte im Bundesstaat Jammu und Kaschmir, dem Vorgehen gegen regierungskritische Stimmen auf Grundlage des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Aktivitäten sowie Hass und Belästigung von Politiker_innen auf Twitter, um nur einige zu nennen.

Neben großen Rechercheprojekten hat ein kleines Team von Mitarbeitenden immer wieder auch kurzfristig auf akute Menschenrechtsverletzungen reagiert, so zum Beispiel auf Lynchmorde, denen seit 2015 vermehrt Menschen zum Opfer fielen, die mit Rindfleisch gehandelt oder Kühe geschlachtet hatten. Kurz vor der Schließung der Organisation hatte die indische Amnesty-Sektion einen Bericht über Polizeigewalt während der Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz und einen Bericht über die miserable Menschenrechtslage in Jammu und Kaschmir veröffentlicht.

Wie kam es zur Schließung von Amnesty?

Das Einfrieren der Konten war offenbar ein gezielter Vergeltungsschlag gegen die Organisation. Die indische Regierung ­bewertete die beiden Amnesty-Publikationen wohl als einen ­solchen Affront, dass sie beschloss, der Organisation Geld­wäsche vorzuwerfen und sie komplett zu schließen. Bis heute liegt Amnesty Indien keine offizielle Anklageschrift vor.

Amnesty war bereits in den Jahren zuvor Repressionen der Regierung ausgesetzt. So wurden im Oktober 2018 die Büros der Organisation in Bengaluru durchsucht, Mitarbeitende stundenlang verhört und wie Kriminelle behandelt. Schon damals froren die Behörden Bankkonten von Amnesty ein. Sie wurden ­später unter strengen Auflagen teilweise wieder zugänglich gemacht, bevor die Behörden 2019 erneut Büroräume durchsuchen ließen. Selbst der private Wohnsitz eines Amnesty-Direktors war von den Razzien in den Jahren 2018 und 2019 betroffen. In beiden Fällen hatte Amnesty zuvor kritische Berichte veröffentlicht.

Was sagt Amnesty Indien dazu?

"Wir begreifen uns nicht als Gegner des indischen Staats, sondern versuchen, mit den staatlichen Behörden in einen Dialog zu treten. Das ist allerdings schwierig, wenn der Staat die Menschenrechte als Gefahr betrachtet und denen, die sich dafür einsetzen, feindliche Absichten unterstellt", sagt Aakar Patel. Diese Haltung habe sich im Laufe der Jahre verhärtet, während gleichzeitig Bemühungen der Regierung, die Menschenrechtslage zu verbessern, abnahmen.

Regierungsnahe Medien beteiligten sich an Verleumdungskampagnen gegen Amnesty. Bereits 2015 torpedierte die BJP-nahe Studierendenorganisation Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad eine Amnesty-Veranstaltung zu Kaschmir und zeigte die Organisation wegen "Volksverhetzung" an. Außerdem fanden vor den Büroräumen in Bengaluru gewalttätige Demonstrationen statt. Das Strafverfahren wurde zwar wegen Mangel an Beweisen eingestellt, die Konsequenzen für Amnesty waren jedoch verheerend: "Die Art und Weise, wie dies in den Medien dargestellt wurde, führte dazu, dass einige Institutionen und Unternehmen nicht mehr mit uns zusammen­arbeiten wollten", berichtet Aakar Patel.

Ein indischer Mann mit krausem Haar, schwarzer Hornbrille und schwarzem Hemd blickt freundlich in die Kamera.

Aakar Patel, Vorstandssprecher von Amnesty Indien

Wie geht es den Mitarbeiter_innen von Amnesty?

Die knapp 140 Angestellten verloren ihre Beschäftigung. Während der Corona-Pandemie einen neuen Job zu finden, ist überall auf der Welt eine Herausforderung. In Indien ist es aufgrund der dramatischen Infektionslage besonders schwierig. Die meisten Mitarbeiter_innen haben noch keine neue Arbeit gefunden und stehen vor großen finanziellen Herausforderungen. Einige haben gesundheitliche Krisen erlebt.

Warum wird der Spielraum für Nichtregierungs­organisationen in Indien immer enger?

Um die Arbeit von unliebsamen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu behindern, nutzt die Regierung das Gesetz über Finanzierung aus dem Ausland (Foreign Contribution [Regulation] Act). "Das Gesetz wurde vor 45 Jahren erlassen, um eine Finanzierung politischer Parteien aus dem Ausland zu verhindern", erklärt Aakar Patel. "Im Laufe der Jahre wurde es jedoch zu einem Instrument, um die Zivilgesellschaft in Indien ins Visier zu nehmen, indem die ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen eingeschränkt wurde."

Das Gesetz wurde 2016 und 2018 geändert, nachdem bekannt geworden war, dass die Regierungspartei BJP und die Kongresspartei Geld der ausländischen Bergbaufirma Vedanta angenommen hatten. Diese Reform ermöglichte es politischen Parteien, der Strafverfolgung zu entkommen, während die Tätigkeit von NGOs erschwert wurde. "2020 wurde eine weitere Änderung verabschiedet, die zur Folge hatte, dass alle NGOs, die ausländisches Geld erhalten, ihre Bankgeschäfte nur noch über eine einzige Bank in Neu-Delhi abwickeln dürfen", berichtet ­Aakar Patel. "Außerdem müssen sie ihre sogenannten Verwaltungskosten auf 20 Prozent beschränken. Dies ist für viele Organisationen, die hohe Personalkosten haben, nicht möglich." ­Zudem verbietet das Gesetz, dass größere NGOs kleinere finanziell unterstützen. All dies erschwerte die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft ungemein und führte zu einer Flut von Anschuldigungen, NGOs hätten gegen das Gesetz verstoßen. Davon betroffen war auch die Organisation People’s Watch von Henri Tiphagne, der 2016 den Menschenrechtspreis der deutschen Amnesty-Sektion erhielt.

Was passiert jetzt mit Amnesty in Indien?

"Die Regierung zwingt uns, die Menschenrechtsarbeit vorerst einzustellen. Das bedeutet jedoch nicht das Ende unseres Engagements für die Menschenrechte in Indien", sagte Julie Verhaar, die zum Zeitpunkt der Schließung Internationale Generalsekretärin von Amnesty International war. Auch Aakar Patel will nicht aufgeben: "Gerade in dieser Zeit braucht es Organisationen wie Amnesty, die Themen aufgreifen, die oft vernachlässigt werden, und denen eine Stimme verleihen, die oft nicht gehört werden." Er hofft auf eine baldige Wiederbelebung der indischen Sektion: "Das wird durch einen Kampf im Gerichtssaal und auch dank internationaler Lobbyarbeit geschehen." Hoffnungsvoll stimmt ihn, dass die EU auf die Schließung von Amnesty Indien reagierte und entsprechende Kritik gegenüber Premierminister Modi äußerte. Jede Form von öffentlicher Solidarisierung sei sehr wichtig, um Druck auf die indische Regierung auszuüben, sagt der Vorstandssprecher.

Theresa Bergmann ist Amnesty-Fachreferentin für Asien.

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