Mangel und Maßlosigkeit
Nicht nur eine Wirtschaftskrise, sondern eine Krise der Menschenrechte: Ein Auszug aus dem Vorwort des Amnesty International Report 2009.
Im September 2008 nahm ich in New York an dem hochrangigen Treffen der Vereinten Nationen zu den Millennium-Entwicklungszielen teil – den international vereinbarten Vorgaben zur Reduzierung der Armut bis 2015.
Alle Delegierten forderten mehr finanzielle Unterstützung zur Bekämpfung des Hungers, zur Senkung der Kindersterblichkeit und der Todesfälle während der Schwangerschaft, zur Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen und zur Schaffung von mehr Bildungsmöglichkeiten für Mädchen. Das Leben und die Würde von Milliarden von Menschen standen auf dem Spiel, doch es fehlte der nötige Wille, den Worten auch Taten und Geld folgen zu lassen.
Als ich das UN-Gebäude verließ, ging es in den Schlagzeilen um eine ganz andere Geschichte aus einem anderen Teil Manhattans: um den Zusammenbruch einer der größten Investmentbanken der Wall Street. Ein klares Zeichen dafür, worauf die Welt ihre Aufmerksamkeit richtete und worauf sie ihre finanziellen Mittel konzentrierte. Plötzlich waren die Regierungen reicher und mächtiger Staaten in der Lage, ein Vielfaches der Gelder bereit zu stellen, die sie zur Bekämpfung der Armut nicht aufbrachten. Jetzt flossen Unsummen in angeschlagene Banken und in Konjunkturpakete für Volkswirtschaften, die jahrelang ungehindert Vollgas gegeben hatten und nun gegen die Wand zu fahren drohten.
Ende 2008 war klar, dass unsere zweigeteilte Welt des Mangels und der Maßlosigkeit, unsere Welt der Verelendung vieler zur Befriedigung der unersättlichen Gier einiger weniger kollabierte. Wie beim Klimawandel, so auch bei der globalen Rezession: die Reichen verursachen den Großteil des Schadens, aber die Armen leiden am stärksten unter den Folgen. Zwar spüren alle den eisigen Wind der Rezession, doch die Entbehrungen der reichen Länder sind nichts im Vergleich zu den Katastrophen, die sich in den ärmeren Länder anbahnen.
Gerade die Menschen, die sich verzweifelt darum bemühen, der Armut zu entfliehen, von den Wanderarbeitern in China bis zu den Minenarbeitern in Katanga in der Demokratischen Republik Kongo, werden mit voller Wucht getroffen. Nach einer Prognose der Weltbank werden 2009 weitere 53 Millionen Menschen in Armut gestürzt werden, zusätzlich zu den 150 Millionen Betroffenen der Nahrungsmittelkrise von 2008. Die Erfolge des vergangenen Jahrzehnts werden so zunichte gemacht. Die Internationale Arbeitsorganisation geht davon aus, dass zwischen 18 und 51 Millionen Menschen ihre Arbeitsstelle verlieren könnten. Die explodierenden Lebensmittelpreise verstärken Hunger und Krankheit, und die Kündigung vieler Hypothekendarlehen sowie Zwangsräumungen führen zu noch mehr Obdachlosigkeit und Elend.
Zwar lassen sich die Auswirkungen der Verschwendungssucht der vergangenen Jahre noch nicht in ihrem ganzen Ausmaß vorhersagen, doch ist bereits jetzt klar, dass die Kosten und Folgen der Wirtschaftskrise auch einen langen Schatten auf die Menschenrechte werfen werden. Klar ist ebenso, dass die Regierungen nicht nur den Fehler gemacht haben, die Regulierung von Wirtschaft und Finanzmärkten allein den Kräften des Marktes zu überlassen, sondern dass sie auch an der Aufgabe, die Menschenrechte, den Lebensunterhalt und das Leben der Menschen zu schützen, kläglich gescheitert sind. Milliarden Menschen leiden unter ungerechten und unwürdigen Lebensverhältnissen – dies ist ohne Zweifel eine Menschenrechtskrise.
Eine Krise, die sich in einem Mangel an Nahrungsmitteln, an Arbeit, an sauberem Wasser, Land und Wohnraum manifestiert – und in der wachsenden Ungleichheit und Unsicherheit, in zunehmender Gewalt und Repression, in Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Eine globale Krise, die globale Lösungen erfordert, auf der Grundlage von internationaler Zusammenarbeit, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.
Der Großteil der Weltbevölkerung wohnt heute in den Städten, und mehr als eine Milliarde dieser Menschen lebt in Slums.
Anders gesagt: jeder dritte Stadtbewohner lebt unter unzureichenden Wohnverhältnissen ohne ausreichenden Zugang zu öffentlichen Versorgungseinrichtungen und ist ständig von Zwangsräumung, Unsicherheit und Gewalt bedroht. In Kenias Hauptstadt Nairobi leben 60 Prozent der Menschen in Slums; eine Million von ihnen in Kibera, dem größten Slum Afrikas. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: in Kambodscha sind 150.000 Menschen infolge von Landkonflikten und Landraub und aufgrund ländlicher und städtischer Entwicklungsprojekte von Zwangsumsiedlung bedroht.
Die zunehmende Ungleichheit als Nebenprodukt der Globalisierung beschränkt sich jedoch nicht auf die Menschen in den Entwicklungsländern. Wie aus einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vom Oktober 2008 hervorgeht, haben auch in den Industriestaaten die Reichen vom Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte mehr profitiert als die Armen. Die USA, das reichste Land der Welt, rangieren in Bezug auf Armut und zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung unter den 30 Mitgliedstaaten der OECD auf Platz 27.
Die Ungleichheit dehnt sich bis ins Justizsystem aus. Um die Marktwirtschaft zu stärken und Investitionen ausländischer Unternehmen und privater Akteure zu fördern, haben internationale Finanzinstitutionen in einer Reihe von Entwicklungsländern rechtliche Reformen im wirtschaftlichen Bereich finanziert. Es gibt allerdings keine vergleichbaren Bemühungen, um sicherzustellen, dass arme Menschen in der Lage sind, ihre Rechte durchzusetzen und bei Verstößen von Regierungen oder Unternehmen Klagen bei Gericht einzureichen. Nach Angaben der UN-Kommission zur Stärkung der durchsetzbaren Rechte von Armen (UN Commission on Legal Empowerment of the Poor) haben rund zwei Drittel der Weltbevölkerung keinen uneingeschränkten Zugang zur Justiz.
Da immer mehr Menschen in zunehmend prekäre Situationen gezwungen werden, nehmen die sozialen Spannungen zu. Zu einem der schlimmsten Fälle rassistisch motivierter und fremdenfeindlicher Gewalt des vergangenen Jahres kam es im Mai 2008 in Südafrika, als dort 60 Menschen getötet und 600 verletzt sowie Zehntausende vertrieben wurden, während gleichzeitig Zehntausende weitere in das Land strömten, um Zuflucht vor der politischen Gewalt im Nachbarland Simbabwe zu suchen. Die offiziellen Untersuchungen konnten zwar den Grund für die Angriffe nicht ermitteln, aber es wird weithin vermutet, dass die Motive in Fremdenfeindlichkeit, dem Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze, Wohnraum und Sozialleistungen lagen, die durch Korruption noch verschärft worden waren.
Wenn man etwas aus der globalen Finanzkrise lernen kann, dann, dass nationale Grenzen uns nicht vor Schaden schützen können. Wir werden die Weltwirtschaft nicht wieder aufrichten können, wenn wir nicht in der Lage sind, Lösungen für die schlimmsten Konflikte der Welt und die zunehmende Bedrohung durch extremistische Gewalt zu finden, und zwar, indem wir den Respekt für die Menschenrechte erhöhen.
Von Irene Khan-
Die Autorin ist internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
Der Amnesty International Report 2009 ist im Buchhandel erhältlich.
Mehr Informationen aus dem Report 2009 finden Sie hier.