Amnesty Report 08. Mai 2012

Türkei 2012

 

Amtliche Bezeichnung: Republik Türkei Staatsoberhaupt: Abdullah Gül Regierungschef: Recep Tayyip Erdoan Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 73,6 Mio. Lebenserwartung: 74 Jahre Kindersterblichkeit: 20,3 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 90,8%

Im Berichtsjahr wurden weder die versprochene Verfassungsreform noch andere angekündigte rechtliche Reformen in Angriff genommen. Stattdessen war das Recht auf freie Meinungsäußerung bedroht, und Demonstrierende sahen sich mit zunehmender Polizeigewalt konfrontiert. Tausende von Strafverfahren auf Grundlage der vage und breit gefassten Antiterrorgesetzgebung erfüllten nicht die Standards für ein faires Verfahren. Bei mehreren Bombenanschlägen kamen Zivilpersonen ums Leben. Es gab keine Fortschritte bezüglich der Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Die Rechte von Minderjährigen im Justizsystem waren nicht ausreichend geschützt. Auch die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden sowie von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern waren noch immer nicht gesetzlich abgesichert. Es fehlte weiterhin an präventiven Maßnahmen, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.

Hintergrund

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) stellte nach dem Sieg bei den Parlamentswahlen im Juni 2011 erneut die Regierung. Neun erfolgreiche Kandidaten oppositioneller Parteien konnten ihre Parlamentssitze wegen Verfahren auf Grundlage der Antiterrorgesetze nicht einnehmen: acht wurden strafrechtlich verfolgt und saßen in Haft, einer durfte sein Mandat wegen eines Schuldspruchs nicht annehmen.

Im Juli traten der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und die drei ranghöchsten Generäle zurück. Zuvor hatte es eine Verhaftungswelle gegen im Dienst befindliche und pensionierte Offiziere gegeben, denen eine Verschwörung zum Sturz der Regierung zur Last gelegt wurde. Die Rücktritte bewiesen die anhaltenden Spannungen zwischen Regierung und Armee.

Im September 2011 ratifizierte die Türkei das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter und ebnete damit den Weg für eine unabhängige Überwachung der Haftanstalten. Ende 2011 gab es jedoch noch keine entsprechende Gesetzgebung, um die erforderlichen Mechanismen im Land umzusetzen. Auch andere versprochene präventive Maßnahmen wie ein unabhängiges Verfahren für Beschwerden gegen die Polizei oder eine Ombudsstelle existierten noch nicht.

Der angekündigte Verfassungsentwurf lag am Jahresende noch nicht zur öffentlichen Diskussion vor. Die in der vorhergehenden Legislaturperiode per Referendum angenommenen Verfassungsänderungen, mit denen die Rechte der Gewerkschaften an die internationalen Standards angeglichen werden sollten, wurden nicht umgesetzt.

Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und der türkischen Armee verschärften sich. Im Oktober 2011 begann die Armee eine größere Militäroperation im Nordirak, die auf PKK-Stützpunkte zielte und Hunderte von Zivilisten zum Verlassen ihrer Dörfer zwang. Bei einem Angriff der türkischen Luftwaffe auf eine Gruppe von Zivilisten kamen im Dezember im Bezirk Uludere nahe der irakischen Grenze 35 Menschen ums Leben, die meisten waren Kinder.

Im Oktober forderte ein Erdbeben in der osttürkischen Provinz Van mehr als 600 Todesopfer. Es gab Kritik an den Behörden, weil die Hilfsmaßnahmen nur langsam in Gang kamen. Tausende von Menschen mussten ohne ein Dach über dem Kopf in großer Kälte ausharren.

Die türkische Regierung bezog Stellung gegen Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Staaten des östlichen Mittelmeerraums. Im September kündigte sie an, sie werde sich an den Internationalen Gerichtshof wenden, um die Rechtmäßigkeit der über den Gazastreifen verhängten Seeblockade prüfen zu lassen. Ein UN-Bericht über den Angriff der israelischen Streitkräfte auf das türkische Schiff Mavi Marmara im Mai 2010, der zum Tod von neun türkischen Staatsangehörigen geführt hatte, kam zu dem Schluss, dass die israelische Armee bei der Operation mit exzessiver Gewalt vorgegangen sei. Im November 2011 kündigte der türkische Außenminister an, man werde Sanktionen gegen Syrien verhängen wegen der fortgesetzten Tötungen von friedlichen Demonstrierenden in dem Land.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Jahr 2011 wurden zahlreiche Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet, die das Recht des Individuums auf freie Meinungsäußerung bedrohten. Vor allem kritische Journalisten und politisch aktive Kurden, die sich über die Lage der Kurden in der Türkei äußerten oder die Armee kritisierten, mussten mit unfairer Strafverfolgung rechnen. In den Verfahren, die das Recht auf freie Meinungsäußerung bedrohten, bezog sich die Anklage teilweise auf verschiedene Artikel des Strafgesetzbuchs, in sehr vielen Fällen wurde jedoch auch Bezug auf die Antiterrorgesetze genommen. Prominenten Personen, die offen ihre Meinung äußerten, wurde nach wie vor Gewalt angedroht. Im November traten neue Bestimmungen in Kraft, die befürchten ließen, dass die Behörden künftig willkürliche Beschränkungen gegen Websites verhängen könnten.

  • Im Februar wurde der Schuldspruch für den Menschenrechtsverteidiger Halil Savda wegen "Entfremdung der Bevölkerung vom Militärdienst" bestätigt. Er war wegen seines Einsatzes für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu 100 Tagen Haft verurteilt worden. Zwei weitere Strafverfahren unter derselben Anklage waren am Jahresende noch anhängig, und ein weiteres Urteil wurde vom Obersten Berufungsgericht überprüft.

  • Im März wurde gegen die beiden Journalisten Ahmet õk und Nedim ener Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation erhoben. Sie waren dafür bekannt, dass sie Vorwürfen über Menschenrechtsverstöße durch Staatsbedienstete nachgehen. Ihre Festnahme und die von sechs weiteren Journalisten war Teil einer Polizeioperation gegen Ergenekon, ein mutmaßlich kriminelles Netzwerk mit Verbindungen zum Militär und zu anderen staatlichen Einrichtungen, das den Sturz der Regierung betrieben haben soll. Bücher und Artikel der beiden Journalisten gehörten zu den wichtigsten Beweismitteln der Staatsanwaltschaft in den Ergenekon-Prozessen gegen mutmaßliche Mitglieder des Netzwerks. Ende 2011 befanden sich Ahmet õk und Nedim ener noch immer in Untersuchungshaft.

  • Im November erfolgte die Festnahme von 44 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), die Verbindungen zur PKK haben soll. Unter den Festgenommenen waren der Verleger Ragõp Zarakolu und die Professorin Büra Ersanlõ. Sie wurden zu ihrer Teilnahme an Veranstaltungen der politischen Akademie der anerkannten pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) sowie zu ihrer verlegerischen und akademischen Arbeit verhört. Bei weiteren Verhaftungswellen im November und Dezember wurden 37 Rechtsanwälte und 36 Journalisten wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in der KCK festgenommen. Sie saßen Ende 2011 noch immer im Gefängnis.

  • Im Juni erhielten die beiden Journalisten Baskõn Oran und Etyen Mahçupyan Morddrohungen. Die beiden Mitarbeiter der zweisprachigen armenisch-türkischen Zeitung Agos hatten seit 2004 wiederholt solche Drohungen erhalten, doch war noch niemand dafür vor Gericht gestellt worden.

Folter und andere Misshandlungen

Es gab weiterhin Vorwürfe über Folter und andere Misshandlungen, die sowohl in Polizeigewahrsam als auch beim Transport festgenommener Personen ins Gefängnis begangen wurden. Die Polizei ging bei Demonstrationen regelmäßig mit exzessiver Gewalt gegen Protestierende vor, dies galt vor allem für die Protestkundgebungen vor und nach den Parlamentswahlen im Juni 2011. Häufig endeten ursprünglich friedliche Demonstrationen mit gewaltsamen Zusammenstößen, weil die Polizei Reizgas, Wasserwerfer und Plastikgeschosse gegen die Protestierenden einsetzte. In vielen Fällen dokumentierten die Medien, wie die Ordnungskräfte mit Schlagstöcken gegen Demonstrierende vorgingen.

  • In der Stadt Hopa im Nordosten des Landes (Provinz Artvin) kam es im Mai und Juni bei Demonstrationen zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei, bei denen ein Demonstrant starb und weitere Personen verletzt wurden. Metin Lokumcu erlitt unter der Wirkung des von der Polizei eingesetzten Pfeffersprays einen tödlichen Herzinfarkt. Demonstrierende, die in Ankara gegen den Polizeieinsatz in Hopa protestierten, wurden ebenfalls Opfer von Polizeigewalt. Die Demonstrantin Dilat Akta wurde nach Angaben ihres Rechtsanwalts von etwa zehn Polizisten mit Schlägen misshandelt, so dass sie eine gebrochene Hüfte davontrug und ein halbes Jahr lang nicht gehen konnte. Die strafrechtlichen Ermittlungen zu dem Vorfall waren Ende 2011 noch nicht abgeschlossen. Der mutmaßliche Polizistenangriff war bereits der zweite, den Dilat Akta erlitt. Im März hatten Fernsehkameras gezeigt, wie sie während einer Protestkundgebung von einem Polizisten mit Fäusten geschlagen wurde. Die Staatsanwaltschaft in Ankara entschied jedoch, den Fall nicht weiter zu verfolgen.

  • Im Oktober starb der Wehrpflichtige Uur Kantar in einem Krankenhaus. Sein Tod war Berichten zufolge auf Folterungen zurückzuführen, die Soldaten verübt hatten, als er sich in seiner Garnison in Nordzypern in Militärgewahrsam befand. Fünf Armeeangehörige, darunter der Direktor des Militärgefängnisses, wurden wegen seines Todes angeklagt. Das Strafverfahren war am Jahresende noch nicht abgeschlossen.

Straflosigkeit

Es gab 2011 weiterhin keine wirkungsvollen Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverstößen von Staatsbediensteten. In Fällen, in denen Strafverfahren eröffnet wurden, bestanden nur geringe Chancen, dass die Verantwortlichen auch tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wurden. Wer Klage erhob, musste nach wie vor damit rechnen, dass eine Gegenklage aus taktischen Gründen erfolgte.

  • Im Juni wurden Oberst Ali Öz und sieben weitere Militärangehörige wegen Fahrlässigkeit verurteilt, weil sie Informationen über den Mordplan gegen den Journalisten und Menschenrechtsverteidiger Hrant Dink nicht weitergeleitet hatten, was seine Ermordung im Jahr 2007 womöglich verhindert hätte. Im Juli 2011 sprach ein Jugendgericht Ogün Samast schuldig, Hrant Dink erschossen zu haben. Es blieben jedoch Zweifel, ob die genauen Umstände der Ermordung, einschließlich der Frage, ob es Absprachen mit Staatsbediensteten gegeben hatte, jemals vollständig untersucht würden.

  • Es gab keine öffentliche Untersuchung zum Tod einer siebenköpfigen Familie im kurdischen Teil des Nordirak im August. Berichten zufolge kam die Familie bei einem Angriff der türkischen Luftwaffe ums Leben, die im fraglichen Zeitraum gegen Stützpunkte der PKK vorging.

  • Im September hob das Oberste Berufungsgericht ein bahnbrechendes Urteil von 2010 gegen mehrere Vollzugsbeamte und andere Staatsbedienstete auf, denen der Tod von Engin Çeber in Gewahrsam der Sicherheitskräfte im Oktober 2008 zur Last gelegt worden war. Das Berufungsgericht machte für seine Entscheidung Verfahrensgründe geltend. Die Veröffentlichung des schriftlichen Urteils erfolgte jedoch erst mit zweimonatiger Verspätung, was die Bemühungen, Gerechtigkeit für Engin Çeber zu erreichen, weiter erschwerte.

  • Im Dezember wurde im Fall des nigerianischen Asylsuchenden Festus Okey, der 2007 in Polizeigewahrsam durch einen Schuss ums Leben gekommen war, ein Polizeibeamter wegen "fahrlässiger Tötung" schuldig gesprochen. Das Gericht wies einen Antrag der Angehörigen des Opfers ab, die dem türkischen Recht entsprechend als Nebenkläger auftreten wollten. Der Richter ergriff außerdem rechtliche Schritte gegen Aktivisten, die das Strafverfahren kritisiert hatten und in den Fall eingreifen wollten.

  • Ebenfalls im Dezember erhielt ein Polizist, der im Jahr 2009 dabei gefilmt worden war, wie er einen jugendlichen Demonstranten festhielt und ihm mehrmals mit dem Gewehrkolben auf den Kopf schlug, nur eine Bewährungsstrafe. Der 14-jährige S.T. hatte einen Schädelbruch erlitten und musste sechs Tage auf der Intensivstation behandelt werden. Das örtliche Gericht verhängte keine Freiheitsstrafe gegen den Polizisten, sondern nur eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten; es wurde dem Polizisten auch erlaubt, weiterhin Dienst zu tun.

Unfaire Gerichtsverfahren

Im Laufe des Berichtsjahres wurden auf der Grundlage der vage und sehr breit gefassten Antiterrorgesetze Tausende von Strafverfahren eingeleitet. In den meisten Fällen wurde den Beschuldigten die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zur Last gelegt, ein Vorwurf, der Raum bot für zusätzliche missbräuchliche Anwendungen. Unter den strafrechtlich Verfolgten waren viele politisch engagierte Bürger wie Studenten, Journalisten, Schriftsteller, Rechtsanwälte und Wissenschaftler. Die Staatsanwälte verhörten sie routinemäßig zu Handlungen, die durch das Recht auf freie Meinungsäußerung oder andere international garantierte Rechte geschützt sind. Zu den weiteren Verfahrensmängeln zählte eine übermäßig lange Untersuchungshaft, während der die Rechtsanwälte weder die Beweismittel gegen ihre Mandanten einsehen noch die Rechtmäßigkeit ihrer Haft wirksam anfechten konnten, da die Akten als geheim deklariert wurden, was eine Einsichtnahme ausschloss.

  • Ende 2011 hatte der Student Cihan Kõrmõzõgül bereits 22 Monate in Untersuchungshaft zugebracht. Man warf ihm Sachbeschädigung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vor. Die Anklage gründete sich darauf, dass er ein traditionelles Tuch getragen hatte, das auch bei Personen gesehen worden war, die an einer Demonstration teilgenommen haben sollen, bei der Molotow-Cocktails geworfen wurden. Ein Polizist behauptete, er habe Cihan Kõrmõzõgül bei der Demonstration gesehen, was jedoch den Aussagen anderer Polizisten widersprach. Obwohl der Staatsanwalt einen Freispruch aus Mangel an Beweisen forderte, bestand der Richter auf einer Fortdauer der Haft und der Strafverfolgung.

Kinderrechte

Auch 2011 wurden Minderjährige nach den Antiterrorgesetzen strafrechtlich verfolgt, z.B. wegen der Teilnahme an einer Demonstration, obwohl die im Vorjahr verabschiedeten Gesetzesänderungen dies verhindern sollten. Die Anzahl der Minderjährigen, gegen die Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen wurden, ging im Berichtsjahr zwar zurück, doch befanden sich viele Jugendliche noch immer zusammen mit Erwachsenen in Polizeigewahrsam, bis sie in die Jugendabteilung einer Haftanstalt verlegt wurden. Es wurden Fälle dokumentiert, in denen die Unterbringung in Polizeigewahrsam bis zur Vorführung vor den Ermittlungsrichter die maximal zulässige Dauer von vier Tagen erreichte, und die Untersuchungshaft war bei Minderjährigen nach wie vor häufig übermäßig lang. In vielen Provinzen gab es immer noch keine Jugendgerichte.

  • Am Jahresende saß der 17-jährige L. K. bereits seit acht Monaten in Untersuchungshaft und wartete auf die Entscheidung des Obersten Berufungsgerichts, vor welchem Gericht gegen ihn verhandelt würde.

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen

Bei Angriffen bewaffneter Gruppen kamen Zivilpersonen ums Leben oder wurden verletzt.

  • Am 20. September 2011 wurden bei einem Bombenanschlag in einem belebten Einkaufsviertel der Hauptstadt Ankara drei Zivilpersonen getötet und 34 verletzt. Die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) bekannten sich zu dem Anschlag.

  • Am selben Tag starben vier Zivilpersonen bei einem PKK-Angriff, der sich offenbar gegen die Polizei in der südosttürkischen Provinz Siirt richtete.

Recht auf Wohnen

Bei rechtswidrigen Zwangsräumungen wurde gegen das Recht der Bewohner auf Konsultation, Entschädigung und Bereitstellung alternativen Wohnraums verstoßen. Stadtentwicklungsprojekte führten häufig dazu, dass gerade die Menschen vertrieben wurden, die zu den ärmsten und schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen zählten. Manche waren zuvor bereits aus Dörfern im Südosten des Landes vertrieben worden. Im Mai 2011 äußerte der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte seine Bedenken in Bezug auf diese Projekte.

  • Im Tarlabaõ-Viertel in Istanbul wurden im Rahmen eines Sanierungsprojekts der Stadtverwaltung von Beyolu zahlreiche Familien rechtswidrig aus ihren Wohnungen vertrieben. Einzelne Betroffene klagten, sie seien dadurch faktisch obdachlos geworden.

Gewaltlose politische Gefangene – Kriegsdienstverweigerer

Bezüglich der Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung im türkischen Recht gab es 2011 keine Fortschritte. Auch bestand weiterhin die Möglichkeit, Personen, die sich immer wieder weigerten, Militärdienst zu leisten, mehrmals strafrechtlich zu verfolgen. Im November entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Erçep gegen die Türkei, dass die Weigerung der türkischen Regierung, eine zivile Alternative zum Militärdienst einzuführen, gegen das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verstoße. Wer sich öffentlich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzte, musste weiterhin mit Strafverfolgung rechnen.

  • Der Kriegsdienstverweigerer Inan Süver, der mehrmals wegen Verweigerung des Militärdienstes verurteilt worden war, saß bis Dezember weiter im Gefängnis, erst dann kam er auf Bewährung frei.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Auch 2011 wurde Asylsuchenden der Zugang zum Asylverfahren willkürlich verweigert, und sie wurden in Länder abgeschoben, in denen ihnen möglicherweise Verfolgung drohte. Die geplanten Gesetze zum Schutz der Grundrechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden wurden im Berichtsjahr nicht eingeführt. Von Mai an suchten Tausende von syrischen Staatsangehörigen in der Türkei Zuflucht vor der Gewalt und den Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land. Viele von ihnen wurden in Lagern untergebracht, erhielten jedoch keinen Zugang zum Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) oder zum Asylverfahren. Ihr Kontakt mit der Außenwelt wurde stark eingeschränkt. Das betraf auch ihre Möglichkeit, über die Menschenrechtssituation in Syrien zu berichten. Einige syrische Staatsbürger seien in der Türkei entführt und in ihr Heimatland gebracht worden, um dort strafrechtlich verfolgt zu werden.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern

Es wurden keine Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ergriffen. Wer sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern einsetzte, musste weiter damit rechnen, von den Behörden schikaniert zu werden. Gruppen, die in diesem Bereich aktiv waren, dokumentierten 2011 acht Morde, bei denen angenommen wurde, dass sie wegen der sexuellen Orientierung bzw. der geschlechtlichen Identität des Opfers verübt wurden.

  • Im November wurden drei Transgender-Frauen, die Mitglieder des Vereins Pembe Hayat (Rosa Leben) in Ankara sind, wegen "Beamtenbeleidigung" und "Widerstand gegen die Staatsgewalt" verurteilt. Die Anklage war erfolgt, nachdem die drei Frauen den Vorwurf erhoben hatten, von Polizisten willkürlich festgenommen und misshandelt worden zu sein. Im Zusammenhang mit diesem Vorfall wurden keine Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Polizisten ergriffen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Die Türkei ratifizierte das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Doch waren die Präventionsmaßnahmen nach wie vor völlig unzureichend, und die Anzahl von Unterkünften für die Opfer familiärer Gewalt lag auch 2011 noch weit unter den gesetzlichen Vorgaben.

  • Im Oktober bestätigte das Oberste Berufungsgericht die Herabsetzung der Strafen gegen 26 Männer, die für schuldig befunden worden waren, ein Mädchen, das im Alter von zwölf Jahren in die Prostitution verkauft worden war, vergewaltigt zu haben. Zur Begründung hieß es, das Mädchen habe dem Geschlechtsverkehr "zugestimmt".

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