Amnesty Report Bolivien 11. Mai 2011

Bolivien 2011

 

Amtliche Bezeichnung: Plurinationaler Staat Bolivien Staats- und Regierungschef: Evo Morales Ayma Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten abgeschafft Einwohner: 10 Mio. Lebenserwartung: 66,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 65/56 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 90,7%

Institutionelle Entwicklungen im Justizwesen gaben Anlass zu ernsthafter Besorgnis. Wichtige Verfahren für in der Vergangenheit begangene Menschenrechtsverletzungen und Untersuchungen hinsichtlich der mutmaßlichen Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und Privatpersonen kamen nur langsam voran. Im Dezember zog Präsident Evo Morales Pläne zur Beendigung der Subventionen für Benzin und Diesel zurück, nachdem es wegen eines drastischen Preisanstiegs zu Massenprotesten gekommen war.

Hintergrund

Mangelnde Rücksprache und Übereinstimmung bei politischen Reformen führten zunehmend zu politischen Spannungen. Einige indigene Gruppen und Gewerkschaften initiierten Proteste: Im Mai rief der bolivianische Gewerkschaftsverband (Central Obrera Boliviana) wegen der Lohn- und Rentenreformen zum Streik auf. Im Juni startete der Verband der indigenen Bevölkerung Boliviens (Confederación de Pueblos Indígenas de Bolivia) einen Protestmarsch in der Stadt Trinidad im Departamento Beni, um gegen Teile des vorgeschlagenen Autonomiegesetzes und mangelnde Fortschritte bei der Landvergabe zu protestieren. Im Juli konnte eine Lösung ausgehandelt werden. Im Juli und August kam es in Potosí nach einem 19-tägigen Streik von Kleinbauernverbänden, dem lokalen Bürgerkomitee und einigen kommunalen Behörden zu Spannungen zwischen den kommunalen und nationalen Behörden über Land-, Umwelt- und Infrastrukturfragen.

Hochrangige Regierungsbeamte stellten öffentlich die Legitimität von NGOs und sozialen Bewegungen in Frage, die ihren Widerspruch zur Politik und Vorgehensweise der Regierung geäußert hatten.

Im Februar wurde die Lage der Menschenrechte in Bolivien im Zuge der Universellen Regelmäßigen Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat bewertet. Eine Reihe von Staaten äußerte Bedenken im Hinblick auf die Bereiche Unabhängigkeit der Justiz, Straflosigkeit und Zugang zum Rechtssystem, Frauenrechte sowie Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung.

Rechtliche, verfassungsrechtliche und institutionelle Entwicklungen

Sehr enge Fristen bei der Verabschiedung neuer Gesetze und mangelnde Verfahrenstransparenz behinderten 2010 eine sinnvolle Diskussion der weitreichenden Reformen.

Im Mai trat ein neuer Ombudsmann für Menschenrechte sein Amt an, wobei es Bedenken hinsichtlich der Objektivität der Kriterien in der ersten Runde des Auswahlverfahrens gab.

Ein im Februar verabschiedetes Gesetz ermächtigte den Präsidenten, mittels Erlass Übergangsrichter für unbesetzte Mandate am Obersten Gerichtshof und am Verfassungsgericht zu bestimmen. Diese vorübergehenden Mandate wurden angesichts von Verzögerungen bei der Auswahl und Wahl neuer Richter verlängert. Mit Ende dieses Verfahrens sollte die Amtszeit bereits an den Gerichten tätiger Richter, die durch frühere Regierungen ernannt worden waren, auslaufen.

Übergangsrichter am Verfassungsgericht hatten die Anweisung, sich ausschließlich um die noch unbearbeiteten Klagen zu kümmern, die vor Februar 2009 eingereicht worden waren. Dies hatte zur Folge, dass das Gericht seiner verfassungsmäßigen Aufgabe der Kontrolle über die neue Gesetzgebung nicht nachkommen konnte. Es gab Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der neuen Gesetze mit internationalen Menschenrechtsstandards. Diese Bedenken galten u.a. der Rückwirkung des Antikorruptionsgesetzes, den im Antirassismusgesetz vorgesehenen schweren Strafen sowie – im Rechtswesen – der Rolle des "Verteidigers der Prozessführung" (Defensor del Litigante), dem eine Aufsichtsfunktion zukommt, der dabei aber von der Exekutive abhängig ist.

Polizei und Sicherheitskräfte

Menschenrechtsverletzungen bei Sicherheitsoperationen und in Einrichtungen von Polizei und Militär erregten auch 2010 weiterhin Besorgnis.

  • Zwei Personen starben an den Folgen ihrer Schusswunden, und mindestens 30 Personen wurden verletzt, als die Polizei Protestierende auseinanderzubringen versuchte, die in der Provinz Caranavi eine Straßensperre errichtet hatten. Die Protestierenden waren besorgt angesichts von Hinweisen, dass die Regierung ihr Wahlversprechen, vor Ort eine Fabrik für die Verarbeitung von Zitrusfrüchten zu errichten, brechen könne. Ein Bericht des Ombudsmanns, der später von der Regierung angefochten wurde, kritisierte die unverhältnismäßige und exzessive Anwendung von Gewalt, willkürliche Festnahmen sowie unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen. Diesbezügliche Untersuchungen waren zum Jahresende noch nicht abgeschlossen.

  • Im September wurde ein Video von 2009 veröffentlicht, das einen Wehrpflichtigen in Challapata im Departamento Oruro zeigt, der von Männern in Militäruniform wiederholt unter Wasser getaucht wird. Das Video gab früheren Vorwürfen hinsichtlich einer Überhandnahme der Gewalt innerhalb des Militärs neue Nahrung. Gegen vier Offiziere wurde zum Ende des Jahres von Amts wegen ermittelt.

Ungesetzliche Tötungen

Im Laufe des Jahres wurden mehrere Fälle von "Lynchmorden" gemeldet.

  • Zwischen dem 23. Mai und dem 1. Juni 2010 wurden vier Polizeibeamte getötet, die zuvor von Zivilpersonen in Saca Saca bei Uncía im Departamento Oruro gefangen gehalten worden waren. Einer der Polizisten soll mehrere Tage lang gefoltert worden sein, bevor er getötet wurde. Indigene Sprecher der Gemeinde beschuldigten die Polizei der Tötung eines Taxifahrers sowie der Erpressung und lehnten die Anwesenheit von Staatsanwälten zur Untersuchung des Vorfalls ab. Gegen sechs straftatverdächtige Personen wurde Ende des Jahres ermittelt.

Straflosigkeit

Auch 2010 gab es Verzögerungen bei der Strafverfolgung von Personen, die unter den früheren Militärregierungen und seit der Wiedereinsetzung der Demokratie Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, sowie auch bei der Zahlung von Entschädigungen an die Opfer.

  • Im August verurteilte der Oberste Gerichtshof Oscar Menacho Vaca und Justo Sarmiento Alanez, zwei ehemalige Angehörige der Militärregierung von Hugo Banzer (1971–78), zu 20 Jahren und einen weiteren Regierungsvertreter zu 15 Jahren Haft. Sie waren der Beteiligung am "Verschwindenlassen" von José Carlos Trujillo Oroza und José Luis Ibsen Peña 1972 bzw. 1973 für schuldig befunden worden.

  • Im September kam der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Urteil, dass Bolivien seiner Verantwortung für die Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung der Schuldigen für das "Verschwindenlassen" des Aktivisten José Luis Ibsen Peña und seines Sohns Rainer Ibsen Cárdenas zwischen 1971 und 1973 nicht nachgekommen war.

  • Staatsanwälte, die im Rahmen ihrer Ermittlungen zu Fällen des "Verschwindenlassens" zwischen 1980 und 1981 auf militärische Archive zugreifen wollten, wurden weiterhin daran gehindert, obwohl es im April zwei Verfügungen des Obersten Gerichtshofs gegeben hatte, die Archive freizugeben.

  • Bei den Strafprozessen zu den Ereignissen vom "Schwarzen Oktober" 2003, bei denen mindestens 67 Personen getötet und mehr als 400 bei Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstrierenden verletzt worden waren, kam es zu Verzögerungen. Mangelnde Ressourcen führten dazu, dass Zeugen und Opfer nicht vor Gericht erscheinen konnten.

  • Der Prozess zum Massaker von Pando im Jahr 2008 zögerte sich immer wieder hinaus. Der ehemalige Präfekt des Departamento, der als geistiger Urheber der begangenen Menschenrechtsverletzungen beschuldigt wurde, befand sich zum Jahresende in Vorbeugehaft. NGOs zufolge wurden nur 218 der 6000 Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die nach einem Gesetz von 2004 um Entschädigung ersucht hatten, entsprechende Leistungen gewährt.

Nach Berichten von NGOs wurden 82% der Fälle sexueller Gewalt, die im Verwaltungsbezirk Quillacolla im Departamento Cochabamba vor Gericht gebracht worden waren, zwischen 2008 und Mitte 2010 entweder verworfen oder blieben ohne rechtskräftiges Urteil.

Müttersterblichkeit

Zahlen einer landesweiten Umfrage zu Demografie und Gesundheit (Encuesta Nacional de Demografia y Salud) zufolge stieg die Müttersterblichkeit von 230 Toten pro 100000 Lebendgeburten im Jahr 2003 auf 310 Tote im Jahr 2008. Zwar wurde die der Zahlenermittlung zugrunde liegende Methodik angezweifelt, doch amtlichen Quellen zufolge wurde bei beiden statistischen Erhebungen dasselbe Verfahren angewendet.

Amnesty International: Mission

Eine Delegation von Amnesty International besuchte Bolivien im Juni.

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