Amnesty Journal Irak 17. September 2014

Wer nicht folgt, muss sterben

Nur noch eine Frage von Stunden. Jesidische Flüchtlinge im Sindschar-Gebirge, 18.August 2014

Nur noch eine Frage von Stunden. Jesidische Flüchtlinge im Sindschar-Gebirge, 18.August 2014

Hunderttausende flüchten im nördlichen Irak und in ­Syrien vor der Terrorherrschaft des "Islamischen Staates". Vor allem Christen und Jesiden müssen um ihr Leben fürchten.

Von Çiğdem Akyol

Sie kamen frühmorgens. Die islamistischen Terroristen marschierten durch die Straßen und forderten mit Lautsprechern alle Christen auf, die Stadt zu verlassen oder zum Islam zu konvertieren. Wer sich weigere, werde umgebracht. Karakosch, die einst größte christliche Stadt im Irak, wurde Anfang August von Kämpfern der extremistischen Gruppe "Islamischer Staat" (IS) eingenommen. Mit ihren schwarzen Flaggen, meist vermummt und bewaffnet, gingen die Dschihadisten gegen die rund 40.000 Christen vor. An die Häuser der Einwohner schmierten sie mit roter Farbe den Buchstaben "N" für "Nasrani", Christ. Da beschloss Karam Amer, mit seiner Familie zu fliehen. "Es war nur noch eine Frage von Stunden, bis die Islamisten uns ermordet hätten", sagt er und macht eine Handbewegung, mit der er das Durchschneiden seiner Kehle andeutet.

Der 31-jährige Geograf sitzt unter einer Plastikplane im Garten der St.-Joseph-Kirche in Ainkawa, dem christlichen Viertel der Stadt Erbil in der autonomen Kurdenregion des Nordirak. Seine Ehefrau und die zwei gemeinsamen Söhne liegen in einer Ecke, sie sprechen nicht, spielen nicht, lachen nicht, schauen einfach vor sich hin. Der Schrecken hat sie stumpf gemacht. Die Familienmitglieder besitzen nur noch das, was sie am Körper tragen – ihr Hab und Gut wurde ihnen auf der Flucht an den Checkpoints der Dschihadisten geraubt. "Sogar mein goldenes Kreuz haben mir die Islamisten weggenommen", erzählt Karam. Er muss seine Tränen unterdrücken.

Seitdem die IS-Dschihadisten das Land mit Terror überziehen, ist die St.-Joseph-Kirche zu einem Zufluchtsort für etwa 700 Christen geworden. Dass Thermometer zeigt mehr als 40 Grad an, vor dem chaldäisch-katholischen Gotteshaus schieben Pesch­merga Wache. Die kurdischen Kämpfer inspizieren jeden, der auf das Gelände will. Die Luft riecht nach Staub, überall sitzen oder liegen Menschen unter Planen oder in Zelten, überall ist ein Gewirr aus Stimmen zu hören. Es mangelt an allem: Der Strom fällt regelmäßig aus, Wasser, Essen und Medikamente sind knapp, es gibt nur zwei Toiletten und eine provisorische Dusche. Trotzdem ist es auffällig sauber hier. Wegen der Hitze und der Krankheitsgefahr wird besonders auf Hygiene geachtet.

In ganz Ainkawa sollen etwa 20.000 Flüchtlinge leben, manche sagen, es seien 70.000 – so genau weiß das niemand, denn einen Überblick hat hier schon lange keiner mehr. Jeden Tag stolpern Hunderte Flüchtlinge über die Stadtgrenzen. Manche schaffen es mit wunden Füßen, manche kommen mit dem Auto, alle sind traumatisiert. Diejenigen, die es bis nach Ainkawa geschafft haben, leben meist auf den Kirchengeländen. Auf den Straßen schreien Kinder, sitzen apathische Männer und Frauen. Völlig überladene Pick-ups fahren durch Ainkawa auf der Suche nach ein paar Quadratmetern, auf denen sich ein neues Leben beginnen lässt. Die Menschen sind hierher geflohen, weil die Kurden sie als Einzige in diesem Bürgerkrieg beschützen.

Und das ist bitter nötig, denn IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi verkündete vor Kurzem, dass Nichtmuslime, die sich nicht zum Islam bekennen oder eine Sondersteuer bezahlen, ermordet werden. Der selbsternannte Kalif hat sich im Juli erstmals in einem online verbreiteten Video öffentlich gezeigt. In schwarzem Gewand und mit schwarzem Turban forderte Baghdadi alle Muslime zum "Gehorsam" und "Heiligen Krieg" auf. Er befahl seinen Anhängern: "Gehorcht mir so, wie ihr in eurem Inneren Gott gehorcht." Etwa 1,2 Millionen Iraker sind vor den sunnitischen Milizen auf der Flucht – die meisten gehören den Minderheiten der Christen, der Jesiden oder der Turkmenen an, aber auch Schiiten fürchten um ihre Leben.

In der St.-Joseph-Kirche findet die Mittagsmesse statt. Ventilatoren machen die Hitze erträglicher. Es riecht nach Weihrauch. Die Gemeinde singt und betet für den Frieden. Draußen scheint die Sonne unbarmherzig auf den Platz, im Innenhof stehen die Menschen in der Gluthitze für Wasser und Nahrungsmittel an. Karam bleibt unter der Plane sitzen, er hat keine Kraft mehr, um aufzustehen. "Sieht Gott all das Leid nicht?", fragt er. "Warum hat uns niemand geholfen? Seit Jahren leben wir Christen in Angst, die ganze Welt wusste davon." Dann macht er wieder die Handbewegung, mit der er das Durchschneiden seiner Kehle nachahmt. Eine Rückkehr nach Karakosch kann er sich nicht mehr vorstellen. "Nie wieder möchte ich mit Arabern Tür an Tür wohnen."

Vor zwei Jahrtausenden wurden die ersten christlichen Gemeinden im damaligen Mesopotamien gegründet. Im Irak liegen mit die tiefsten Wurzeln des Christentums. Jetzt werden diese Wurzeln wohl endgültig ausgerissen. Auch wenn es unglaublich klingt, aber unter Saddam Hussein lebten Christen weitgehend unbehelligt, weil sich das Regime ihre Unterstützung sichern wollte. Erst nach der US-Invasion 2003 änderte sich die ­Sicherheitslage. Seitdem praktizierten Christen ihren Glauben im permanenten Ausnahmezustand und immer hinter dicken Mauern. Wer genügend Geld hatte, verließ das Zweistromland. Vor zehn Jahren sollen rund 1,3 Millionen Christen im Irak gelebt haben. Mittlerweile sind es Schätzungen zufolge nur noch 400.000. Aus Angst vor den Islamisten flohen die meisten jetzt in den Norden des gespaltenen Landes.

Der IS ist nicht nur im Irak aktiv, sondern hat seinen Vormarsch in Syrien begonnen, wo seit dreieinhalb Jahren ein Bürgerkrieg tobt. In Syrien bediente sich der IS in den Waffenlagern der Armee und anderer Rebellen. Die Radikalisierung und Ausweitung galt als absehbar. Dabei ist die Not der Menschen in Syrien noch größer als im Irak. Warum aber handeln die EU-Staaten und auch die USA jetzt im Irak, aber nicht im Nachbarstaat?

"Im Irak haben wir eine einfache Einteilung in Schwarz und Weiß – auf der einen Seite stehen die bedrohten Minderheiten und die kurdischen Kämpfer und auf der anderen Seite die Terroristen", sagt Paul Freiherr von Maltzahn, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zudem hätten westliche Regierungen befürchtet, dass man mit Aktionen gegen den IS in Syrien indirekt das Regime des "Bösewichts" Präsident Baschar al-Assad gestützt hätte, auf dessen Untergang viele Politiker zu früh gewettet hätten, sagt von Maltzahn, der früher Diplomat an der deutschen Botschaft in Syrien war und ein Jahr lang die Vertretung im Irak leitete.

Hinzu komme, dass eine Unterstützung der Kurden im Irak völkerrechtlich betrachtet leichter zu gewähren sei, da die irakische Regierung den Westen um Hilfe gebeten habe. In Syrien ­dagegen verbitte sich Assad jede "ausländische Einmischung". "Außerdem gibt es im Irak keinen Konflikt mit Russland und Iran, die sich im Syrien-Konflikt hinter das Assad-Regime gestellt haben", sagt von Maltzahn, der sich sicher ist, dass der IS-Terror bald wieder nach Syrien schwappen wird. "Die Dschihadisten haben nicht mit dem massiven Widerstand der Kurden gerechnet."

In Fishkhabour an der syrisch-irakischen Grenze ziehen die aus Syrien Vertriebenen jetzt in einem nicht enden wollenden Tross zurück in ihre Heimat, um von dort in den sichereren Nordirak zu gelangen. Wer das Glück hatte, eine Wasserflasche zu fangen, hält diese ganz fest. Denn nicht immer kam die Hilfe der US-Amerikaner bei den Menschen im Sindschar-Gebirge an. Die Plastikflaschen, die aus der Luft abgeworfen wurden, zerschellten oft an den scharfen Steinen. Es herrschten Temperaturen von bis zu 45 Grad Celsius, ohne Schatten. "Neben mir ist das Wasser ausgelaufen, ich konnte nichts machen", erzählt der 45-jährige Hozam Saleh.

Auf ihrer Flucht aus der Gebirgsregion haben viele Vertriebene Blätter und Baumrinde gegessen, um zu überleben. Väter und Mütter mussten mit ansehen, wie ihre Söhne und Töchter verdursteten, verhungerten oder vor Schwäche tot umkippten. "Meine drei Kinder sind auf der Flucht gestorben", sagt Saleh, der es mit seiner Frau aus dem Sindschar-Gebirge herausgeschafft hat. "Ihre Leichen mussten wir zurücklassen." Er zeigt keinerlei Regung, während er von dieser Tragödie spricht.

Die meisten der Flüchtlinge gehören der religiösen Minderheit der Jesiden an, die bis vor Kurzem noch rund um den Höhenzug lebten. Erst die Flüchtlingstragödie hat die Religionsgemeinschaft der Jesiden ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt. In Europa wissen die wenigsten Genaueres über sie. Karl-May-Leser kennen den Namen vielleicht aus seinem Buch "Durchs wilde Kurdistan", weil sie darin als Teufelsanbeter verfolgt werden. Jahrhundertealte Vorwürfe, die dieser Minderheit bis heute gemacht und weswegen sie von radikalen Muslimen unterdrückt und ermordet werden. Kaum eine andere religiöse Minderheit wurde in der Vergangenheit im Irak so sehr gejagt wie die Jesiden. Aber die Gewalt des IS gegen die Jesiden übertrifft alles in ihrer Brutalität.

Wie viele Menschen noch in den Sindschar-Bergen eingeschlossen sind, ist unklar. Den Vereinten Nationen zufolge wurde ein Teil der Flüchtlinge gerettet, der Großteil konnte selbst entkommen. Die UNO geht von rund 1.000 Flüchtlingen aus, die noch in dem öden Gebirge ausharren. Vor allem die Verletzlichs­ten – Alte, Behinderte und Kinder – sind immer noch in Lebensgefahr. Aber auch wer die Tage im Gebirge überlebt hat und in den Norden wandert, ist nicht sicher. Denn fast täglich gibt es neue Horrormeldungen aus der Region. Erst kürzlich töteten die Dschihadisten in einem Dorf im Nordirak mehr als achtzig Jesiden, weil sie nicht zum Islam übertreten wollten. Trotzdem bewegt sich der endlose Flüchtlingstreck in Fishkhabour Richtung Kurdistan – denn die Menschen wissen nicht, wohin sie sonst gehen sollen.

Die Autorin ist freie Journalistin und arbeitet derzeit in Erbil.

"Historisches Ausmaß"
Der "Islamische Staat" (IS) macht nach Angaben von ­Amnesty International im Nordirak systematisch Jagd auf Andersgläubige und Minderheiten. "Die Massaker und die Entführungen durch den 'Islamischen Staat' liefern erschütternde neue Beweise dafür, dass eine Welle der ethnischen Säuberung gegen Minderheiten über den Norden des Irak rollt", sagte Amnesty-Expertin Donatella Rovera. Augenzeugen berichteten von Massenerschießungen, Menschenraub und weiteren Grausamkeiten. Mehr als 830.000 Menschen seien vor den IS-Kämpfern geflohen. Die Verfolgung richte sich gegen Jesiden, Turkmenen, Christen und weitere Gruppen. Die Miliz versuche, alle Spuren nicht arabischer und nicht sunnitischer Gruppen auszulöschen, sagte Rovera. Die Verbrechen der Terrorgruppe sind nach Einschätzung von Amnesty "ethnische Säuberungen von historischem Ausmaß".

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