Amnesty Journal 04. Dezember 2017

Geborgene Schätze

Kassetten liegen auf einem Holztisch

Bombenmusik. Diese Kassetten überdauerten den Angriff auf Hargeysa in Somalia.

Auf dem Sampler "Sweet as Broken Dates" kann man ein halbes Jahrhundert somalischer Musikgeschichte wiederentdecken. Die Aufnahmen wurden vor der Bombardierung Hargeysas, der Hauptstadt des autonomen Teilstaats Somaliland, gerettet.

Von Daniel Bax

Als sich am 14. Oktober 2017 an einer der belebtesten Kreuzungen von Mogadischu ein Lastwagenfahrer in die Luft sprengte, starben mehr als 350 Menschen. Weil aber Somalia weit weg ist und seit dem über 25-jährigen Bürgerkrieg als "failed state" gilt, fiel die weltweite Anteilnahme eher verhalten aus. Es war nur eine weitere schreckliche Meldung aus einem Land, aus dem seit Jahren fast nur von Bürgerkrieg, Staatszerfall, Piraten und Terror zu hören ist.

Dass Somalia einmal für Lebensfreude und Musik stand, ist heute kaum noch vorstellbar. Dabei war Mogadischu, die alte Handelsstadt, einst eine boomende, kosmopolitische und vibrierende Metropole, in der sich ostafrikanische, arabische und indische Einflüsse mischten. Welche Aufbruchsstimmung dort einmal geherrscht hat, daran erinnert jetzt der Sampler "Sweet as Broken Dates". Die beiden Soundschürfer Nicolas Scheikholeslami und Vik Sohonie, Gründer des New Yorker Labels Osti­nato Records, stöberten im April des vergangenen Jahres im umfangreichen Kassettenarchiv der "Red Sea Cultural Foundation" in Hargeysa, der Hauptstadt des international nicht anerkannten Teilstaats Somaliland, um vergessene Schätze aus der goldenen Ära der somalischen Popmusik zu bergen und diese erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

In der somalischen Musik hat Poesie traditionell einen großen Stellenwert, hinzu kommen orientalische und indische Einflüsse. Moderne Orchester wie die ­Iftiin Band und die Sharero Band ließen sich von Bollywood-Soundtracks, Rock’n’Roll und Rhythm’n’Blues aus den USA inspirieren. Die Stars der somalischen Musikszene der siebziger und achtziger Jahre spielten damals im Nationaltheater, in den Nachtclubs und Nobelhotels am Indischen Ozean auf. Die Dur-Dur-Band begeisterte ihre Fans mit Disco-Funk und Afro-Soul, bevor ihre Mitglieder durch den Bürgerkrieg über die ganze Welt verstreut wurden. Eine tragende Rolle spielten Sängerinnen wie Faadumo Qaasim, Sahra Dawo oder Hibo Nuura. Und natürlich darf die somalische Supergruppe Waaberi nicht fehlen.

Die somalische Musikszene florierte unter dem sozialistischen Militärregime. Da es keine private Musikindustrie gab, sind Live-Mitschnitte von Konzerten oder Aufnahmen fürs Radio fast die einzigen Zeugnisse jener Zeit. Um ein Haar wären viele davon für immer verloren gegangen. Denn als Somalias Diktator Siad Barre 1988 die Stadt Hargeysa bombardieren ließ, um die aufkeimende Unabhängigkeitsbewegung im Norden ­Somalias niederzuschlagen, nahm er auch den dortigen Radiosender ins Visier. Zum Glück schafften Mitarbeiter des Senders kurz vor dem Angriff Tausende von Kassetten und Masterbänder, auf denen ein halbes Jahrhundert somalischer Musikgeschichte dokumentiert ist, aus dem Gebäude, vergruben sie oder brachten sie in Nachbarländer. Nun kann man diese Aufnahmen, entstaubt, digitalisiert und mit einem liebevoll gestalteten, opulenten Booklet versehen, wieder neu entdecken.

Sweet as Broken Dates: Lost Somali Tapes from the Horn of Africa ­(Ostinato Records)

Film- und Musiktipps

Epischer Bilderreigen

Einen ungewöhnlichen und sehr aufwendigen Dokumentarfilm hat der chinesische Künstler Ai Weiwei gedreht. Mehr als 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, und um diese Flüchtlingskrise mit wahrhaft internationalem Ausmaß ins Bild zu setzen, drehte Ai Weiwei mit einem Dutzend verschiedener Kameramänner und zahlreichen Filmcrews in 23 Ländern: in Myanmar bei den Rohingya, auf Lesbos bei den Flüchtlingen in der Mittelmeerregion, in Lagern im Irak, im Berliner Flughafen Tempelhof und an vielen anderen Orten. Lockere Szenen sind dem Spektakel-Manager Ai Weiwei dabei ganz und gar nicht fremd: So lässt er sich schon mal von Flüchtlingen die Haare schneiden oder wird selbst als Friseur aktiv. Sein Film macht Anleihen bei Multimedia-Formaten: Aktuelle Informationen, wo und wie viele Menschen festsitzen, werden per Schlagzeile eingeblendet. Darüber hinaus setzt Ai Weiwei Drohnen ein, lässt sie über riesigen Flüchtlingsstädten etwa in Jordanien aufsteigen. "Human Flow" will ein epischer Bilderreigen dieser Orte der politischen Gegenwart sein und stellt Fragen zur Zeit: Kann sich die globale Gesellschaft zu einem Ort der Offenheit und Freiheit entwickeln? Um die moderne Völkerwanderung zu zeigen, bedient sich der Film beeindruckender wie erschreckender Szenen – die der Regisseur immer wieder selbst betritt. Das mag stilistisch gewagt sein. An dem Thema aber kommt niemand vorbei.

"Human Flow". D 2017. Regie: Ai Weiwei.

Kinostart: 16. November 2017

Momente der Hoffnung

Birhat filmt die schlafende Schwester. Als das Flugzeug kommt, schreckt das Mädchen panisch auf. Delovan versucht, Medikamente für seinen kranken Vater zu bekommen. Basmeh sagt: Viele aus unserer Familie sind tot. Leben an der Grenze im Jahr 2015: Der kurdische Filmemacher Bahman Ghobadi ist mit seiner Kamera in die Flüchtlingslager von Kobanê in Syrien und Şingal im Irak gegangen – um sie dort an andere weiterzugeben: Acht Kinder drehen mit seiner Kamera ihren eigenen Film. Um ihre Geschichten zu erzählen, müssen die kleinen Regisseure nicht weit gehen: Sie fangen in ihrem Zelt an zu drehen, interviewen die Großmutter, den Onkel. Die haben Schreckliches von den Überfällen des Islamischen Staates auf die Jesiden zu berichten. Eine Mutter sagt: Ein Mädchen hat großes Glück, wenn es stirbt, und dadurch nicht dem IS in die Hände fällt. Im Hintergrund laufen dessen Propagandavideos. In Ghobadis Filmprojekt "Life on the Border" indes drehen junge Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben sollten, aber viel zu oft von seinem Ende berichten können. So wie jene beiden Geschwister, die ihr Elternhaus in Kobanê aufsuchen: Sie finden dort ihre Puppen – und den Leichnam des Vaters. Trotz der Trauer ist Ghobadis Film auch ein hoffnungsfrohes Projekt – "Auch wir werden unser eigenes Leben leben", sagen die jungen Menschen. Hier sind verantwortungsvolle, reflektierte junge Leute am Werk.

"Life on the Border". IRQ 2015. Regie: Hazem ­Khodeideh u. a. Derzeit in den Kinos.

Ungarisch-jüdische Fantasie

Das "Glashaus", benannt nach seinem gläsernen Bauhaus-Treppenhaus, ist ein Gebäude im Zentrum von Budapest. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im März 1944 quartierte der Schweizer Diplomat Carl Lutz hier – und in 75 weiteren Gebäuden der Stadt – Zehntausende verfolgter ungarischer Juden ein. Mit einem System von "Schutzbriefen" ermöglichte er ihnen die Ausreise nach Palästina und rettete sie damit vor ihrer Ermordung im Holocaust. Als der New Yorker Trompeter und Klezmer-Pionier Frank London (The Klezmatics) den Auftrag erhielt, zum Gedenken an den Holocaust in Ungarn eine musikalische Hommage an die ­ungarisch-jüdische Tradition zu komponieren, scharte er eine bemerkenswerte All-Star-Kapelle um sich. So entstand das "Glass House Orchestra", das Instrumental-Virtuosen ungarischer, argentinischer oder israelischer Herkunft zusammenbringt. Mühelos wechseln die Musiker von der getragenen Suite zum Hochgeschwindigkeitsstück und tauchen die Zuhörer so in ein Wechselbad der musikalischen Emotionen. Ihr "Astro Hungarian Folk Punk" vereint ungarische Cimbalon-Traditionen, Gipsy-Folk, Klezmer, Jazz und Neue Musik unter einem Dach. Die Leitfrage lautete: Wie würde die ungarisch-jüdische Musik von heute klingen, wenn es den ­Zivilisationsbruch des Holocaust nicht gegeben hätte? Die Antwort ist ein Ausflug in ein Paralleluniversum jenseits von Raum und Zeit und ein Feuerwerk der musikalischen Fantasie, die bekanntlich keine Grenzen kennt.

Frank London Glass House Orchestra: Astro-Hungarian Jewish Music (piranha)

Deutsch-arabische Harmonie

Als "Pianist in den Trümmern" wurde der syrisch-palästinensische Pianist Aeham Ahmad bekannt. Während der Krieg in Syrien im Winter 2014/15 eskalierte, rollte er jeden Tag im zerstörten Flüchtlingslager Jarmuk bei Damaskus sein Klavier auf die Straßen, um dort, umringt von Kindern und Erwachsenen, dem Irrsinn und der Hoffnungslosigkeit des Krieges zu trotzen und Trost zu spenden. Videoaufnahmen seiner Auftritte erregten in den sozialen Netzwerken und den Medien international Aufmerksamkeit. Als islamistische Milizen sein Klavier zerstörten und es in Jarmuk zu gefährlich für ihn wurde, floh Aeham Ahmad über die Türkei, Griechenland und den Balkan nach Deutschland. Hier lebt der heute 29-jährige Musiker als anerkannter Flüchtling. Auch seine ­Familie konnte er nachholen. Mit dem Kasseler Jazzpianisten und Komponisten Edgar Knecht und dessen Trio hat er nun sein erstes Album aufgenommen: "Keys to Friendship" ("Schlüssel zur Freundschaft") besteht aus Jazzbearbeitungen von deutschen und nahöstlichen Volksliedern und Gedichten. Arabische Akkordfolgen treffen auf Jazz-Improvisationen, Momente der Freude auf Trauer und tiefe Melancholie. Heraus stechen die Neubearbeitung von "Die Gedanken sind frei" oder des arabischen Schlaflieds "Nani".

Aeham Ahmad meets Edgar Knecht: Keys to Friendship (o-tone music / edel)

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