Amnesty Journal 11. Oktober 2023

Die Schwüle vor dem Shitstorm

Journalist*innen sitzen in einem Redaktionsraum an ihren Laptops und vor Notizen, sie scheinen eine Konferenz abzuhalten.

Sachverhalte prüfen gehört zum journalistischen Handwerk. Seit dem Bedeutungsgewinn von Social Media und der rasanten Verbreitung von Falschinformationen im Internet ist der Faktencheck umso wichtiger. Zugleich werden Recherchierende immer offener bedroht.

Eine Einordnung von Klaus Ungerer

Mit dem Beharren auf Fakten macht man sich zumeist keine Freunde oder Freundinnen. Zu sehr sind viele, ob privat oder in Funktion, damit beschäftigt, sich die Realität zurecht zu denken – sei es aus Idealismus, Naivität oder zynischer Ambition. Letztere weiß, dass sie die Fakten verzerren, verdrehen, verwischen, verleugnen muss, um das bloße, pure Machtstreben zu verhüllen, das sich gern hinter großen schönen Worten verbirgt.

Die zumeist recht räudige Realität dahinter aufzuzeigen, ist der Job von Journalist*innen. Sie sind daher oft der natürliche Feind von Autokraten wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan oder von demokratisch gewählten Machtmenschen wie Donald Trump, aber etwa auch dem seligen Franz Josef Strauß, der Journalis­t*innen einmal mit erfrischender Offenheit als "Ratten und Schmeißfliegen" bezeichnete. Ganz besonders nervig für die Machtstrebenden sind die Faktencheckenden: Sie wollen sich – im Idealfall – partout nicht einwickeln und bezirzen lassen von der Macht. Sie wollen, dass die Realität gesehen wird, sie sind wie das Kind aus dem Märchen, das auf die Nacktheit des Kaisers hinweist und dessen armselige, verschrumpelte Gestalt, alldieweil er selbst sich nur als Glanz und Gloria wahrnehmen mag.

"Todesdrohungen kommen regelmäßig rein"

Es ist so traurig wie notwendig: Das Gewerbe des Faktencheckens boomt, seit mit der Verbreitung des Internets Standards der Welterkenntnis zusammengebrochen sind: Es zählt das aufgeregt hingetippte Wort, das böswillig hingeklatschte Meme, die verführerisch billige Behauptung. Jedes Faktum der Welt findet sich im Netz auch noch mal als sein Gegenteil, und so hat das Faktum seine Natur gewandelt: Früher war es Argumentationsgrundlage und Arena, in der um Erkenntnis gerungen wurde. Heute ist es so umkämpft und zerfranst wie das Lieblingsspielzeug zweier verfeindeter Rottweiler.

Es ist unser aller Grunderfahrung der Gegenwart: Mit jeder Meinungsäußerung hat man auf Social Media hundert Gegner*innen. Mit jedem Beharren auf Fakten macht man sich tausend Feind*innen. Und das ist nur Freizeitvergnügen. Für professionelle Faktencheckende ist diese Wuthitze in den Online-Medien nur die ganz normale Schwüle vor dem Shitstorm. "Denk daran: Du wirst brennen", hat etwa der französische Faktenchecker Emmanuel Vincent einmal aus Hassmails zitiert. "Das ist nichts, was man jeden Tag lesen möchte. Wir versuchen, uns nicht zu sehr darum zu kümmern, aber Todesdrohungen kommen regelmäßig rein."

An welchem Punkt einer Auseinandersetzung das Kabbeln aufhört und die digitale Gewalt anfängt, ist schwer zu sagen. In den USA etwa war im vergangenen Jahr die Empörung groß, als Christina Pushaw, die Pressesprecherin des republikanischen Gouverneurs von Florida, Ron DeSantis, sich per Twitter über eine E-Mail-Anfrage eines linken Faktencheckers amüsierte: Er hatte eine Zahl hinterfragt. Pushaw teilte ihm daraufhin genüsslich mit, die Zahl stamme von seinem eigenen Arbeitgeber – und machte den E-Mail-Verkehr via Screenshots öffentlich. Digitale Gewalt? Persönliche Schikane? Wird da bewusst jemand markiert, den Hunden zum Fraß vorgeworfen? Oder ist es die ganz normale Reibung des politischen Geschäfts? Darüber lässt sich lange diskutieren, doch bleibt auf jeden Fall ein Unbehagen zurück: So wie die Fakten selbst keinen Respekt mehr erfahren, so hat auch ein öffentliches Amt seine Würde und Objektivität verloren und wird ganz offen als Kampfmittel genutzt.

Gut orchestrierte Trollarmeen

Die kroatischen Prüfer*innen von Faktograf haben jüngst eine Studie über die Schikanen in ihrem Job veröffentlicht. Die Studie, die anonyme Selbstauskünfte europäischer Faktencheckenden zusammenträgt, die überwiegend mit dem Facebook-Konzern Meta kooperieren, wurde im journalistischen Tagesgeschäft bereits Wochen vor der Veröffentlichung für schmissige Headlines genutzt (taz: "Hass gegen Presse in Europa: Faktenchecker bedroht. (…) Eine Studie alarmiert: Der Hass wird immer größer.") Das Business des Faktencheckens wird zweifellos härter: Der Kampf gegen unliebsame Fakten wird weltweit von politischer Seite aus immer systematischer und härter geführt, von Gegner*innen, die in immer höheren Sphären sitzen.

Die Studie berichtet von gut orchestrierten Trollarmeen, von persönlichen Attacken, von schikanösen Prozesslawinen, von Todesdrohungen, von Stalking. Bei philippinischen Journalist*innen tauchte die Polizei in Zivilkleidung auf, um "einen Hintergrundcheck" zu machen. Vielleicht liegt die philippinische Journalistin Ellen Tordesillas nicht falsch, wenn sie sagt: Hinter all den Schikanen, die sie und ihre Organisation Vera Files erlebt hätten, stecke der einstige Präsident Rodrigo Duterte persönlich.

Kampf um Deutungshoheit

Einen Kampf gegen unliebsame Fakten führt auch der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador: Ihm gingen die hartnäckigen Prüfer*innen der Nachrichtenagentur Verificado so lange und intensiv auf die Nerven, dass er eines Tages seine eigene Faktenschmiede erfand. Er ließ sie von der nationalen Nachrichtenagentur Notimex betreiben und ebenfalls "Verificado" nennen – ein echter Mobbingmove, der allerdings nicht weit trug: Aus Protest gegen die fragwürdige Personalpolitik des Präsidenten streikte die gesamte Nachrichtenagentur Notimex dauerhaft. Das neue "Verificado Notimex" ist längst wieder verschwunden, und zuletzt kündigte ­López Obrador an, Notimex komplett schließen zu wollen.

Der Kampf zwischen Wahrheit und Macht wird mit Hingabe geführt, und wie er ausgehen wird, ist eine unangenehme Frage: Ungern denkt man daran, dass die Pressefreiheit eine sehr junge Erfindung in der Menschheitsgeschichte ist, die mit einem Federstrich wieder einkassiert werden kann. In Indien, manchmal als "größte Demokratie der Welt" bezeichnet, verschwand der Journalist Mohammed Zubair im Jahr 2022 unter fadenscheinigen Vorwänden für einige Tage im Gefängnis, nachdem er die Regierungspartei BJP zu sehr mit seinen Faktenchecks genervt hatte. Dafür landete er danach auf der Nominierungsliste des Friedensnobelpreises und brachte seiner Faktencheck-Website Alt News weltweiten Ruhm ein.

Der Kampf um die Deutungshoheit der Welt geht also in die nächste Runde. Mancher kämpft selbst dann noch, wenn die Amtszeit schon abgelaufen ist: Rodrigo Duterte etwa, der brutale Antidrogenkrieger, ist zwar seit Juni 2022 nicht mehr Präsident der Philippinen. Der Hass auf die Journalist*innen und Faktenche­cker*in­nen aber hat seine Amtszeit überlebt. Kürzlich erst stürzte er sich in seiner Internetshow maximal vulgär auf die Faktencheckenden von Vera Files, nachdem diese einige seiner öffentlichen Aussagen kundig dekonstruiert hatten. Daraufhin ging die nächste Welle von Diffamierungen, Hassbotschaften und Todesdrohungen über Ellen Tordesillas hinweg. Sie stellte nur nüchtern fest: Von allen vorgetragenen Fakten habe ­Duterte keinen einzigen entkräften ­können.

Klaus Ungerer ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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