Amnesty Journal Marokko 26. November 2021

"Die Tochter geopfert"

Ein junges Mädchen mit einem Kopftuch sitzt in marokkanischer Kleidung auf der Ladefläche eines Lasters und lächelt, während sich eine Person mit ihr unterhält.

Der Dokumentarfilm "Fatima – Ein kurzes Leben" erinnert an ein marokkanisches Hausmädchen, das im Alter von 14 Jahren an den schweren Misshandlungen durch seine Arbeitgeberin starb. Ein Gespräch mit dem Regisseur Hakim El-Hachoumi über die gesellschaftlichen Hintergründe des Falls.

Interview: Miriam Tams

Wie haben Sie von Fatima und ihrer Geschichte erfahren?

Zunächst wollte ich einen Film über ledige Mütter in Marokko drehen. Ich hatte ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung bekommen, um eine Recherche darüber zu machen. Als ich dort war und mit meiner Arbeit begann, bin ich auf einen Zeitungsartikel über die Geschichte von Fatima gestoßen. Obwohl sie eine von vielen "petites bonnes" (Hausmädchen) ist, die aus den ländlichen Gegenden Marokkos an Mittelstandsfamilien in den Städten gegeben werden, hat ihr Fall Aufsehen erregt: ein Arbeitsverhältnis zwischen Hausmädchen und "Arbeitgebern", das nicht mit einer Schwangerschaft nach Vergewaltigung sondern mit dem Tod endet.

Was war für Sie der entscheidende Grund, darüber einen Film zu drehen?

Ich habe mir lange überlegt, ob ich in die Details dieser grausamen Tat gehen kann, ob ich das Recht habe, die Familie der verstorbenen Fatima, aber auch die Täterin erneut mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Ein Teil von mir war nicht sicher, ob ich das kann und will. Als ich bei Fatimas Familie im Dorf ankam, war ich überrascht, wie freundlich diese Menschen zu mir waren. Keine Spur jener verhärteten Gesichtsausdrücke, mit denen ich gerechnet hatte. Ihr schlechtes Gewissen war mit Händen zu greifen. Sie haben das Gefühl, ihre Tochter geopfert zu haben, und sie artikulieren das auch. Das hat mich ermutigt, den Film zu machen.

Was interessierte Sie an dem Fall besonders?

Mich interessierte der Einblick in die marokkanische Gesellschaft aus zwei gegensätzlichen Perspektiven – der dörflichen und der städtischen. Es sind zwei Welten, die sich im Alltag wenig berühren. Ich wollte die einzelnen Etappen der Entscheidung, das damals 12-jährige Mädchen als "petite bonne" in die Stadt zu schicken, bis hin zu den juristischen Winkelzügen rekonstruieren. Für mich war auch die psychologische Annäherung vor allem an zwei Frauen und Mütter wichtig, die beide durch Fatimas Tod Schmerz und Schuld empfinden: Fatimas Mutter und Fatimas Hausherrin. Beide sind durch die Ermordung des Mädchens Opfer und Täterin zugleich.

Wie waren die Drehbedingungen vor Ort?

Die Arbeitsvermittlung der acht-, neunjährigen Mädchen übernahm damals der Dorfvorsteher, eine Art Staatsbeamter, und er verdiente nicht schlecht daran, denn er kassierte von beiden Seiten eine Vermittlungsprovision. Er übernahm auch die Vermittlung von Fatima. Er blieb ungeschoren, obwohl die von ihm vermittelte Kinderarbeit nach dem Gesetz verboten ist. Als wir vor Ort waren und drehen wollten, kam er mit einigen Polizisten. Sie haben uns daran gehindert zu drehen und haben Fatimas Familie schikaniert. Er hatte Angst, dass wir seine schmutzige Arbeit im Film aufrollen. Wir haben dadurch einen Drehtag verloren. Ohne die Intervention von Behörden aus Rabat hätten wir wahrscheinlich nicht drehen können. Schön war aber, dass sich das ganze Dorf sehr solidarisch mit der Familie von Fatima und mit uns zeigte.

Was könnte dazu beitragen, jungen Mädchen in Marokko eine andere Zukunft zu ermöglichen?

Der Tod von Fatima hat bei den Dorfbewohnern nicht nur Wut und Niedergeschlagenheit hinterlassen. Diese Tragödie hat auch die Entschlossenheit geweckt, etwas zu ändern. Als erstes haben viele Familien ihre Töchter heimgeholt, obwohl dies für sie den Ausfall einer sicheren Einkommensquelle bedeutete. Aber für diese Rückkehrerinnen, von denen die meisten die Schule abgebrochen oder gar nicht erst besucht haben, gibt es in der Gegend keine Arbeit. Ihre Mütter versuchten, diese Ausweglosigkeit durch eigene Initiativen zu lindern: Sie haben eine Arganöl-Kooperative gegründet und eine Dorfbäckerei auf die Beine gestellt. Die Frauen verdienen zwar lächerlich wenig mit dieser Arbeit, aber sie haben zumindest einen Treffpunkt und die Möglichkeit, als Gruppe Entscheidungen zu treffen. Ich glaube, das wichtigste für die Mädchen ist eine gute Ausbildung. Dafür brauchen die Familien im Dorf finanzielle Sicherheit. Dann könnten sie ihre Töchter in der Schule lassen und ihnen damit eine bessere Zukunft ermöglichen.

"Fatima – Ein kurzes Leben". Regie: Hakim El-Hachoumi. Auf Vimeo abrufbar.

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