Amnesty Journal Irak 04. Dezember 2017

Mohammeds Mission

Eine Straße mit zerstörten Gebäuden in Sindschar, Irak, 2017

Ende einer Schreckensherrschaft. Sindschar, Februar 2017.

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen. Und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe scheitert er an sich selbst.

Von Carsten Stormer (Text) und Adiba Qasim (Fotos), Sindschar

In den Morgenstunden des 7. Februar 2017 steigt Mohammed Khamis, 38 Jahre, Kind libanesischer Flüchtlinge und Rambo-Fan, am Flughafen Berlin-Tegel mit einem breiten Grinsen in ­einen Airbus der Lufthansa. Ein rundlicher Mann mit großem Herzen, der seine Baseballkappe niemals absetzt. Ein ehemaliger Kleinkrimineller, der dem alten Leben abgeschworen hat und sich in Berlin ehrenamtlich um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kümmert.

An diesem eiskalten Morgen ist er schlimm verkatert. Die Nacht hat er mit Kumpels und drei Litern Bier rumgebracht. Die Aufregung.

Der Zielflughafen: Erbil im Nordirak.

Eine Freundschaft und ein Versprechen sind die Auslöser für diese Reise. Im Jahr 2012 lernt Khamis die Frankfurter Jesidin Tamara in Berlin kennen. Ihre Freundschaft droht zu zerbrechen, als am 3. August 2014 Milizen des sogenannten Islamischen Staates (IS) über ihre Glaubensschwestern und -brüder im Nordirak herfallen. "Unentwegt musste ich an sie denken", erzählt Khamis. Doch den Mut, sie anzurufen, hat er zunächst nicht. Zu sehr schämt er sich dafür, dass diese Verbrechen im Namen seiner Religion begangen wurden.

Mohammed Khamis steht vor zwei grünen Straßenschildern, auf denen "Syrian Border 2Km" und "Rabe'ea" auf Arabisch und Englisch steht

Mohammed Khamis an der syrischen Grenze

Erst Monate später traut er sich, doch Kontakt zu seiner Freundin aufzunehmen. Sie lebt mittlerweile in Frankreich, hat geheiratet und erwartet ein Kind. Und sie erzählt ihm vom Wasser aus der Quelle in Lalisch, dem heiligsten Ort der Jesiden im Nordirak, das sie für die Taufe ihres Kindes benötigt.

Tamara darf selbst nicht in den Irak fahren. Die 25-Jährige ist eine Staatenlose. Eine von Tausenden, die in Deutschland nur geduldet werden, dort zur Schule gegangen sind, arbeiten, Steuern zahlen, sich integriert haben. In einem Land, das sich nicht zu ihnen bekennen will. Also bietet Khamis seiner Freundin an, das heilige Wasser zu besorgen.

Im Namen des Islam

Er hat sich Großes vorgenommen, denn er will mit dieser Reise nicht nur seiner Freundin helfen, sondern auch zeigen, dass ein Großteil der Muslime nicht hinter dem Islamischen Staat steht. Er weigert sich, Terroristen und Fundamentalisten die Deutungshoheit darüber zu überlassen, was einen Muslim ausmacht. Es nervt ihn, dass Muslimen ständig vorgeworfen wird, sich nicht deutlich genug von den Gräueltaten zu distanzieren, die Terrororganisationen wie der IS im Namen des Islam ver­üben. "Für mich spielt es keine Rolle, welcher Religion jemand angehört. Tamara ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, und sie braucht meine Hilfe."

Dieser Freundschaftsdienst ist sein Antrieb. Zudem gibt es noch einen weiteren Grund. Mohammed Khamis hat einen Hang zur großen Geste – und sehnt sich nach Anerkennung. Mit dieser Reise will er seiner Umgebung beweisen, dass er etwas draufhat. Den Redakteuren großer Zeitungen, die seine Texte nicht drucken. Den Lektoren, die seine Bücher nicht verlegen wollen. Den Leuten, die ihn für einen Schwätzer halten. Seinen Kumpels. Mit seinem Buch "Ansichten eines Banditen" und einigen Talkshowauftritten hat er es in seinem Berliner Kiez zu ­lokaler Berühmtheit gebracht. Wenn RTL, Sat 1 oder die Bild Integrationsversager, Drogendealer, Schulhofschläger, Salafisten oder libanesische Bandenmitglieder suchen, klopfen sie bei Khamis an. Denn er kennt sie alle.

Ein befreundeter Journalist riet ihm, nicht nur das heilige Wasser zu besorgen, sondern auch das Herzland der Jesiden zu besuchen: die Region um das Sindschar-Gebirge, wo der IS besonders schlimm gewütet hat. Nur wenn er die Massengräber, die zerstörten Dörfer und Städte, die Tunnel und Sprengfallen der Terrormiliz mit eigenen Augen sehe, könne er tatsächlich begreifen, was damals dort geschehen ist. Ja, denkt Khamis, gute Idee.

Noch wirkt alles wie ein großes Abenteuer. Aufregung, Bauchkribbeln, etwa Angst? "Nö", sagt Khamis, denn das drängendste Problem des Augenblicks ist, dass im Flieger keine Filme gezeigt werden und er deshalb nicht wisse, was er mit den vier Flugstunden nach Erbil anfangen soll. Dann ergibt er sich dem Kampf gegen die Langeweile.

Als Khamis endlich am Flughafen in Erbil steht und zwei Kampfhubschrauber sieht, die in Richtung der umkämpften Stadt Mossul fliegen, sagt er: "Boah, wie bei Rambo."

Im Hotel trifft er Adiba Qasim, die ihn die kommende Woche begleiten wird. Qasim ist eine zierliche, schöne und meinungsstarke 22-jährige Jesidin, die vor drei Jahren von den Mordgesellen des IS aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Monate verbrachte sie als Flüchtling in den Lagern des Nordiraks und der Türkei. Schwestern und Brüder flohen über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland. Ihre Eltern hat sie seit drei Jahren nicht gesehen. Viele Familienangehörige, Freunde, Schul­kameraden, Bekannte, Nachbarn, erzählt sie, seien damals entführt, getötet, verkauft oder vergewaltigt worden.

Adiba Qasim sitzt auf einem Trümmerhaufen und lächelt

Vor dem Krieg war ich ein kleines Mädchen, ein Jahr später eine alte Frau.

Adiba
Qasim

Seit zwei Jahren arbeitet Qasim für internationale Journalisten, übersetzt, organisiert, vermittelt Gesprächspartner. Ohne ihre Hilfe käme Khasim nicht weit. Sie kennt die Gegend und hat die Genehmigungen der kurdischen Autonomiebehörde besorgt, um die unzähligen Checkpoints auf dem Weg nach Sindschar zu passieren, jene Stadt, die zum Symbol für den Massenmord an den Jesiden geworden ist. Seit November 2015 ist Sindschar zwar befreit. Doch der IS kontrolliert noch immer Dörfer und Weiler nur wenige Kilometer entfernt. Qasim stammt aus dem Nachbarort Khanasor, aus dem sie im August 2014 wenige Minuten vor dem Eintreffen des IS entkommen konnte. Sie hat sofort zugesagt, mit Khamis zu arbeiten, als sie hörte, was er für seine Freundin Tamara tun möchte.

Gekommen, um zu verstehen

Vorerst ist der Abstecher in das irakische Krisengebiet zweihundert Kilometer nördlich von Erbil nur ein ungeschriebenes Kapitel des Buches, das er nach dieser Reise veröffentlichen möchte. Was erwartet Mohammed Khamis von den kommenden Tagen? Hat er Angst, als Muslim diskriminiert zu werden? Dass ihn die Opfer des IS wegen seines Glaubens in moralische Sippenhaft nehmen? Wie wird er auf das, was im Namen seiner ­Religion angerichtet wurde, reagieren, auf die Zerstörungen, das Leid, die Flüchtlinge? Mohammed Khamis zuckt mit den Schultern und sagt: "Mir ist sehr wichtig, zu zeigen, dass das, was hier passiert ist, nicht im Namen meiner Religion passiert ist. Ich möchte dem jesidischen Volk sagen, dass die Art meiner Auslegung meiner Religion nicht erlaubt, einen Menschen zu unterdrücken, zu töten, zwangsweise zu verheiraten oder zu vergewaltigen." Qasim schlägt vor, dass er sich Michael anstatt Mohammed nennen könnte, um sich eventuellen Ärger zu ersparen. "Nein. Ich verleugne mich nicht." Schließlich sei er hier, um zu verstehen.

Das mit dem Verstehen ist jedoch so eine Sache. Ihm ist bewusst, dass es nach den Massakern des IS nicht einfach werden könnte, die Jesiden davon zu überzeugen, dass der Islam eigentlich nur eines lehrt: Frieden. Khamis möchte auf der Fahrt nach Sindschar von Qasim wissen, was ihr im Sommer 2014, als der IS den Nordirak überrannte, zugestoßen ist. Die junge Frau holt tief Luft und beginnt zu erzählen. "Am 3. August 2014 habe ich siebzig Familienmitglieder verloren. Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist, wo sie sind. Vor dem Krieg war ich ein kleines Mädchen, ein Jahr später eine alte Frau. Ich habe viel verloren, aber ich kann nicht hassen."

Aneinander vorbei

Khamis hört zu, nickt und sagt dann: "Das war keine religiöse Sache, was hier passiert ist. Meine Religion erlaubt das nicht. Wo auch immer du hinsiehst, Muslime sind so nicht."

"Ich weiß, Mohammed."

"Verurteilst Du uns?", fragt er misstrauisch.

"Ich sage nicht, dass alle Muslime verantwortlich sind. Die IS-Kämpfer kamen nicht aus Saudi-Arabien. Es waren Iraker. Es waren unsere Nachbarn", antwortet Qasim.

Jedes Mal, wenn sie Muslime und den Islam erwähnt, verengen sich die Augen von Khamis, das höfliche Lächeln erstarrt zur Maske.

"Das kann ich nicht glauben. Die IS-Typen sind doch Aus­länder, sie sind Kinder von Alkoholikern, Kinder ohne Väter, Verlierer. Die denken, dass sie beim IS den großen Larry spielen können", erklärt er seine Sicht der Dinge.

Natürlich wisse sie, sagt Qasim, dass auch Muslime unter dem IS leiden. Gerade erst war sie in einem Flüchtlingslager nahe Mossul. Dort habe sie mit Waisenkindern gesprochen, ­deren Eltern vom IS getötet wurden. "Ich musste die ganze Zeit weinen", sagt sie, Tränen steigen ihr in die Augen. Aber sie ­erzählt auch, wie irakische und türkische Muslime ihr auf der Flucht geholfen haben. "Sie gaben mir zu essen, ließen mich in ihren Häusern schlafen."

Irgendwann merken beide, dass sie aneinander vorbeireden. Die junge Jesidin, die alles verloren hat – Heimat, Freunde, Familie, Jugend – und die in eine ungewisse Zukunft blickt. Und neben ihr Mohammed Khamis, der Großstadtjunge, der Menschen in Gut und Böse sortiert, die Zwischentöne ignoriert und sich durch Qasims Schilderungen persönlich angegriffen fühlt.

Mir ist wichtig, zu zeigen, dass das nicht im Namen meiner Religion passiert ist.

Mohammed
Khamis

Es ist nicht leicht, nach Sindschar zu gelangen. Noch immer werden Teile des Nordiraks vom IS beherrscht, obwohl die Terrormiliz militärisch fast besiegt ist. Die befreiten Gebiete sind nur mit Genehmigung der kurdischen Autonomiebehörde zu erreichen. Dutzende Checkpoints, an denen Khamis seinen Pass vorzeigen muss und skeptische Blicke erntet, wenn die Soldaten seinen Namen lesen. Es ist eine Fahrt entlang der Schlachtfelder der vergangenen drei Jahre. In weitem Bogen umfährt man Mossul, stundenlang geht es über einsame Landstraßen und durch menschenleeres Niemandsland entlang der syrischen Grenze. Verlassene Dörfer, von Bomben zerstörte Häuser, deren Bewohner schon vor langer Zeit geflohen sind; in die Flüchtlingslager der Türkei, in den Irak oder über das Mittelmeer nach Europa. Sieben Stunden dauert die Fahrt von Erbil nach Sindschar, bis sich am Horizont das Massiv eines Tafelberges aus dem Dunst schält. Am Fuß des Berges liegt die gleichnamige Stadt: Sindschar, das traditionelle Zentrum der Jesiden.

Ein Stapel Korane in einer zerstörten Moschee

Entweiht. Korane in einer Moschee in Sindschar.

Als der Wagen die Serpentinenstraße hinunterrollt, blickt Mohammed Khamis fassungslos aus dem Fenster. An den Flanken des Berges leben noch immer Tausende Flüchtlinge in Zelten. Am Straßenrand stehen ausgebrannte Fahrzeuge, auf dem Asphalt liegen noch immer Kleidungsstücke von auf der Flucht ermordeten Jesiden. "Sieht aus wie eine Hollywood-Kulisse hier", murmelt Khamis und bittet den Fahrer, anzuhalten. Er steigt aus und fotografiert die Fahrzeugwracks. Die Erkenntnis, dass hier im August 2014 mehr als fünftausend Jesiden innerhalb weniger Tage vom IS getötet, vergewaltigt oder entführt wurden, sickert ins Bewusstsein der Reisenden. Adiba Qasim zeigt auf einige Dörfer am Horizont. "Dort ist Daesh", sagt sie, und wenn sie den arabischen Namen für den IS verwendet, hört es sich an, als würde sie ausspucken. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Tage, als sie nicht wusste, ob sie überleben würde. Der letzte Anschlag des IS liegt zwei Monate zurück. Als der Wagen in die Stadt hineinfährt, knetet Mohammed Khamis nervös seine Hände.

Und regt sich trotzdem auf, als er erfährt, dass es in Sindschar keinen Internetempfang gibt. "Kein Netz? Das halte ich nicht aus", sagt er. Fünf Tage nicht online sein? Auf keinen Fall. "Ich bin internetsüchtig", gibt er zu. Kurz darauf der nächste Schock. In der Peschmerga-Kaserne kommt der Strom aus Generatoren – und dies nur ein paar Stunden am Tag. Die Toilette ist ein schmutziges Loch im Boden. Aus der Dusche kommt eiskaltes Wasser. Geschlafen wird auf dem Boden. Und als er erfährt, dass die ehemalige Schule einst als Hauptquartier des IS genutzt wurde, muss er sich vor lauter Schreck erst mal setzen. "Ich soll dort schlafen, wo IS-Kämpfer geschlafen haben? Das kann ich nicht. Das ist entweihter Boden."

Muss er aber.

"Hammed, du redest mit einer Jesidin"

Immerhin, es gibt dann doch Internet. Das besänftigt, ein bisschen.

Am Abend geraten der Deutsche und die Jesidin erneut aneinander. Khamis erklärt seine Interpretation des Begriffs Namus, ein zentraler Wert in orientalischen Gesellschaften. Er bedeutet so viel wie: Achtung, Ehre, Würde. Khamis stellt die These in den Raum, dass der IS den geschändeten jesidischen Frauen ihre Ehre, ihr Namus, genommen habe. Qasim runzelt die Stirn und widerspricht vehement. "Nein, die Frauen haben nicht ihre Ehre verloren." Ehrlos seien nur die Täter: Der IS, Muslime. Und die kurdischen Soldaten, die vor den anrückenden Horden des IS geflohen sind und die Jesiden schutzlos zurückgelassen haben. Sie erklärt Khamis, dass Hunderte jesidische Frauen wieder mit ihren Familien zusammengeführt wurden, nachdem sie aus den Händen des IS befreit worden waren. Dass von IS-Kämpfern gezeugte Kinder nicht verstoßen werden. Dass die jesidische ­Gesellschaft den Opfern nicht weiteres Unrecht zufügen will. "Hmm", mault er trotzig. "Ich glaube trotzdem, dass den Frauen die Ehre genommen wurde. Deswegen möchte ich mit einer Jesidin darüber sprechen."

"Hammed, du redest mit einer Jesidin", antwortet Qasim resigniert. Anschließend starren beide schweigend die rotglühenden Heizstäbe des kleinen Zimmerofens an, der gegen die Kälte anbollert.

Als dem Generator kurz vor Mitternacht der Diesel ausgeht und das Licht erlischt, glaubt Khamis, dass der IS angreift. Die Nähe zur Front, die skeptischen Blicke, wenn er seinen Namen nennt, das ungewohnte, entbehrungsreiche und unbequeme Frontleben – es ist enorm viel, was in sehr kurzer Zeit auf ihn einprasselt.

Nach einer Nacht, in der Mohammed Khamis viel gefroren und große Ängste ausgestanden hat, trifft er Oberst Alaa Ahmed. Der Peschmerga-Kommandeur, 36 Jahre alt, trägt Schnurrbart, eine gebügelte Uniform und begrüßt den Besucher aus Deutschland mit einem festen Händedruck. Er will ihm seine Heimatstadt zeigen. Das, was von ihr übrig ist.

In einem Truppentransporter fahren sie durch die Geisterstadt. Links und rechts von Luftschlägen und Autobomben zerstörte Häuser. Autowracks, Schuttberge. "Das sieht aus wie bei Black Hawk Down", sagt Khamis und blickt fasziniert auf die Trümmerlandschaft, die einst eine Stadt mit 40.000 Einwohnern war. Dann stupst er Qasim mit dem Ellenbogen in die Seite und sagt: "Auch wenn alles in Schutt und Asche gelegt ist, sieht es doch wunderschön aus. Wie Kunst. Wie internationale Kunst."

"Nein, schön war Sindschar früher", antwortet Qasim kurz angebunden und verdreht die Augen.

"Ja klar, ich weiß, was Du meinst, aber sieh es Dir aus meiner Perspektive an", murmelt Khamis und beginnt zu fotografieren.

Adiba Qasim hockt in einem unterirdischen Tunnel und leuchtet mit einer Taschenlampe auf den Boden

"Jeder Schritt durch diesen Tunnel ist Beweis und stumme Anklage zugleich: im Namen des Islam."

Vor einem zerstörten Straßenzug im Zentrum hält der Wagen. Oberst Alaa führt Khamis und Qasim durch den Eingang eines verfallenen Hauses und bleibt vor einem Loch im Boden stehen. Es ist der Eingang zum Tunnelsystem, das die Terrormiliz unter die Stadt getrieben hat. "Keine Sorge, wir haben die meisten Gänge von Sprengfallen gesäubert", sagt er und knipst eine Taschenlampe an. Mehr als vierzig Tunnel haben er und seine Leute nach der Befreiung Sindschars gefunden. So konnten sich die Kämpfer des IS ungesehen und sicher vor Luftangriffen in der Stadt bewegen Dann steigt er in den dunklen Schacht hinab. Khamis und Qasim folgen ihm.

Es ist stickig hier unten, die abgestandene Luft macht das Atmen schwer. Khamis hustet. Staub und Steine rieseln von der Decke, als die drei gebückt durch den Tunnel gehen. Im Lichtkegel der Taschenlampen entfalten sich die Überbleibsel eines Lebens im Untergrund: Konservenbüchsen, Töpfe mit Joghurt und ­Honig, Korane, ein Gebetsteppich. Auf dem Boden liegen ran­zige Matratzen, Frauengewänder und Damenbinden. "Hier hat Daesh Sex­sklavinnen gehalten", erklärt Oberst Alaa und zeigt auf einen Haufen Einwegspritzen mit Flagyl, ein Medikament gegen vaginale Entzündungen. Jeder Schritt durch diesen Tunnel ist ein Beweis und stumme Anklage zugleich: im Namen des Islam.

Sprengfallen und ein Stapel Korane

Zwanzig Minuten später klettern sie auf der anderen Straßen­seite wieder aus dem Tunnel ans Tageslicht. Qasim schüttelt Staub aus ihren blonden Locken, Oberst Alaa klopft seine Uniform ab. Khamis hustet und entdeckt an einer Hauswand ein Graffito, auf dem steht: Der Islamische Staat wird bleiben, so Gott will. "Das scheint ja nicht geklappt zu haben", sagt Khamis und kichert.

Da es Freitag ist, bittet er Oberst Alaa, ihn zu einer Moschee zu führen. Es sei ihm ein großes Bedürfnis, für die Opfer des Genozids zu beten. "Religionen sind da, um gut zu sein, aber nicht um zu töten oder jemanden zu unterdrücken oder seiner Freiheit zu berauben oder zu vergewaltigen. Dafür ist keine Religion da. Schon gar nicht meine." Alaa Ahmed nickt anerkennend und führt Khamis in die zerstörte Altstadt von Sindschar. Auf dem Weg zur Moschee fragt der Oberst, ob Khamis einen toten IS-Kämpfer sehen möchte. Klar, warum nicht. Im Eingang eines Hauses liegt der halbverweste, halb mumifizierte Körper eines Mannes. Der Wind weht Verwesungsgeruch heran. "Ein Verräter", sagt der Oberst und muss würgen, als er zu nahe an den Kadaver herantritt. "Wir haben ihn getötet", sagt er gleichmütig. Seine Leiche werde zur Abschreckung liegengelassen und nicht beerdigt. Der Tote war ein Bewohner Sindschars, der sich dem IS angeschlossen und mitgeholfen hatte, seine jesidischen Nachbarn zu ermorden. "So einen wollen wir nicht in unserer Erde haben." Auf die Frage, ob ein Zusammenleben mit Arabern wieder möglich sei, schüttelt der Oberst den Kopf.

Dann gelangen sie an eine halb zerfallene Moschee. Im Schutt findet Khamis einen zerschlissenen Gebetsteppich, breitet ihn auf dem Boden aus und kniet sich zum Gebet nieder, während der Oberst das Gebäude inspiziert. Unter der Gebetskanzel findet er einen Stapel Korane und trägt sie in den Wagen. Die heiligen Bücher sollen nicht im Dreck liegen, sagt er. Gerührt bedankt sich Khamis für diese noble Geste. Da friert Alaa plötzlich in seiner Bewegung ein. Vor ihm am Boden hat er einen Benzinkanister entdeckt, aus dem rote Drähte ragen. Eine Sprengfalle des IS. "Krass!", sagt Khamis und schießt Fotos mit seinem Smartphone, während der Oberst einen Sprengmeister in die Moschee beordert. Eigentlich, sagt Alaa Ahmed entschuldigend, sollte die Stadt längst von Minen und Sprengfallen gesäubert sein.

Den restlichen Nachmittag schlendern sie gemeinsam durch die Altstadt von Sindschar. In einer Ruine findet der Oberst eine weiße Gebetskappe, klopft sie vom Staub frei und überreicht sie Khamis als Souvenir. "Die schenke ich meinem Vater", sagt der Berliner stolz und drückt die Kopfbedeckung wie eine Trophäe an sich. "Der weiß gar nicht, dass ich hier bin." Zum Abschied lädt der Kommandeur zum Tee in seine Stube und dankt, dass Khamis einer Glaubensschwester helfen möchte.

 

Peschmerga Offizier sitzt mit einer Zigarette im Mund auf dem Boden und lehnt sich an eine Säule, im Hintergrund Trümmer

Erschöpft. Peschmerga-Offizier Alaa Ahmed, Sindschar.

Als Khamis das Büro des Kommandeurs verlässt, sieht er, wie ein Peschmerga die Korane aus der Moschee in einem Lagerfeuer verbrennt. Khamis möge die Bücherverbrennung bitte nicht falsch verstehen, sagt der Kämpfer. Khamis antwortet: "Ich hätte das auch gemacht, damit die Korane nicht noch dreckiger werden. Das löst sich einfach in Asche auf. Ich bin sehr dankbar", sagt er und schüttelt dem verdutzten Mann die Hand.

Abends chattet er mit seinen Freunden in Berlin, sendet Sprach- und Textnachrichten mit Emojis und der Fotoausbeute des Tages. Dann ruft plötzlich Tamara an.

Zwischendurch ein Selfie

Khamis erzählt ihr von dem ­Toten, dem Tunnel und der Sprengfalle, von den Menschen, die ihm begegnet sind: "Ich fühle mich sehr leer. Ich denke an die Menschen, die hier ihr Leben lassen mussten. Haben die sich gewehrt, hatten die überhaupt eine Chance? Es ist so unmenschlich, was hier passiert ist." Es hat sich vieles angestaut – und das muss jetzt raus. Tamara beginnt zu weinen. "Danke für alles, was du für mich tust, Mohammed", sagt sie leise und legt auf.

An den folgenden Tagen will Khasim möglichst viel Stoff für seinen Blog und das neue Buch sammeln. Auf der Ladefläche ­eines Pritschenwagens fährt er an einen Frontabschnitt, um kurdische Kämpfer zu besuchen. Wind und Regen peitschen ihm ins Gesicht. Ein Erdwall ist die Schnittstelle zwischen Kalifat und Kurdistan. Er sagt freundlich guten Tag, dann ballert ein gelangweilter Kämpfer zu Khasims großer Freude mit seinem Maschinengewehr auf eine Stellung des IS.

Wenig später trifft er in einem der wenigen unzerstörten Häuser eine Flüchtlingsfamilie, die nicht weiß, wie sie die kommenden Wochen überstehen soll. Er besucht ein Massengrab, aus dem die von der Sonne ausgebleichten Knochen und Schädel ermordeter jesidischer Frauen ragen. Und muss schon nach wenigen Minuten wieder verschwinden, weil einer seiner kurdischen Leibwächter nur ein paar hundert Meter entfernt einen IS-Kämpfer entdeckt hat. Zwischendurch immer mal ein Selfie. Er sinnt über den Titel nach, den er seinem Blog geben könnte. "Durchs wilde Kurdistan hört sich gut an. Aber der ist ja leider schon vergeben."

Die Nachricht, dass ein deutscher Muslim Tausende Kilometer an die Grenzen des Kalifats gereist ist, um seiner jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen, hat sich herumgesprochen. Überall begegnen ihm die Menschen voller Offenheit, Gastfreundschaft, Respekt und Dankbarkeit. Die Kommandeurin eines jesidischen Frauen-Bataillons erzählt ihm, wie sie Menschen vor Kälte sterben sah und wie der IS jesidische Kinder enthauptete. Dann bricht sie in Tränen aus. "Jeder Mensch, der einem Jesiden hilft, dem danken wir", gibt sie Khasim zum Abschied mit auf dem Weg. Ein Jesiden-General lädt ihn zu einer Flasche Whiskey ein. Auch Qasim ist gerührt von Mohammeds Mission. "Trotzdem glaube ich nicht, dass Hammed wirklich begriffen hat, was hier geschehen ist", sagt sie. Das ist der Knackpunkt in Mohammeds Mission.

Nach fünf Tagen im Kriegsgebiet machen sie sich auf die Rückreise. Das nächste Etappenziel: die heilige Quelle von Lalisch. Während der Fahrt scrollt Khasim auf seinem Smartphone durch die Fotos, die er unterwegs gemacht hat und die er später auf Facebook und in seinem Blog veröffentlichen will. Er ist zufrieden mit sich und seiner Mission.

Mohammed Khamis macht mit seinem Handy ein Foto, im Hintergrund zerstörte Gebäude

Beteiligter Beobachter. Mohammed Khamis.

Bis der Fahrer das Radio anschaltet.

In dem Sender diskutieren an diesem kalten und regnerischen Februarnachmittag ein Islamgelehrter und ein jesidischer Prediger darüber, wie es zu dem Massenmord an den irakischen Jesiden kommen konnte. Die Männer suchen nach Belegen für die Aussagen des Propheten, zitieren Koranstellen und erörtern Hadithe, jene Überlieferungen Mohammeds, mit denen die Terrormilz ihre Taten rechtfertigt. Dass es gottgefällig sei, gefangene Frauen als Sklavinnen zu benutzen und zu verkaufen. Denn der Endsieg des Islam sei nah, "wenn das Sklavenmädchen seinem Gebieter gebiert". In der Logik des Islamischen Staates ist es schon Gotteslästerung, diese Schilderungen zu leugnen oder anzuzweifeln. Und da die Jesiden einen gefallenen Engel in der Gestalt eines Pfaus anbeten, seien sie Teufelsanbeter, die man nicht nur versklaven dürfe, sondern auch töten müsse. Sure 2, Vers 191: "Und erschlagt die Ungläubigen, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben; denn Verführung zum Unglauben ist schlimmer als Totschlag."

Da ist sie wieder, die allgegenwärtige Anklage: Im Namen des Islam.

Deshalb verlangt Qasim von Khamis, dass er sich verdammt noch mal anhört, was da im Radio läuft. "Damit du verstehst, was uns angetan wurde."

"Nein! Nein! Das höre ich mir nicht an. Und du kannst mich dazu nicht zwingen", faucht Khamis. "Das waren keine Muslime, die euch umgebracht haben. Das waren schlechte Menschen. Das hat nichts mit mir zu tun, und hör auf, meine Religion mit Schmutz zu bewerfen."

"Du hast nichts verstanden, Hammed", schreit Qasim. "Du bist ein Aufschneider und Lügner. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben."

"Ich steige aus, wenn du das nicht ausstellst, Adiba. Ich will das nicht hören", sagt Khamis mit kaum unterdrücktem Zorn, blickt aus dem Fenster, an dem die braune Einöde Kurdistans vorbeizieht – und sieht schließlich doch ein, dass es keine schlaue Idee ist, an der syrischen Grenze auszusteigen.

Dann bezichtigt Khamis die junge Jesidin, sie wolle ihn zwingen, seiner Religion abzuschwören. Und dass dies ebenso schlimm sei wie das, was der sogenannte Islamische Staat ihrem Volk angetan habe.

Qasim sieht den Deutschen fassungslos an. "Hammed, das ist im Namen deiner Religion geschehen. Dies ist unsere Realität, mit der wir jeden Tag leben müssen. Du hast gesagt, du willst verstehen. Dann versuche es zumindest."

Eisiges Schweigen

Khamis murmelt noch beleidigt, dass Adiba eine Islamhasserin sei und dass er den Rest der Reise auch allein klarkomme. Er fordert Dankbarkeit ein, dass er ein Zeichen gegen den Hass setzen möchte. Adiba wirft ihm vor, dass er nicht fähig sei, seine in Deutschland vorgefertigte Meinung der Realität anzupassen. Und dass er nur aus Eigennutz in den Irak gekommen sei.

Am Ende des Streits dreht Qasim das Radio lauter, Khamis setzt wütend seine Kopfhörer auf, hört "Nothing Else Matters" von Metallica und fühlt sich unverstanden.

Danach herrscht eisiges Schweigen.

Das waren keine Muslime, die euch umgebracht haben. Das waren schlechte Menschen.

Mohammed
Khamis

Am nächsten Morgen erreichen sie die Pilgerstätte Lalisch. Khamis, noch immer bockig, redet kein Wort mit Qasim, die nur den Kopf schüttelt. Ein mürrischer jesidischer Geistlicher füllt Wasser aus der heiligen Quelle in drei Plastikflaschen und weiht einige Gebetsketten, die Khamis unterwegs gekauft hat. Geschenke für Tamaras Familie. Khamis möchte das Heiligtum schnellstmöglich verlassen. "Ich will nur noch nach Hause", sagt er.

Beim Abschied in Erbil reicht er Qasim trotzdem die Hand, bedankt sich für ihre Hilfe und presst eine Entschuldigung hervor. Qasim, so sagt er später, sei auch nur eine Gefangene ihrer Erlebnisse. Eine traumatisierte Frau. Kein Wunder, dass sie auf den Islam nicht gut zu sprechen sei. Aber jetzt sei er froh, den Irak zu verlassen. "Seit dem Streit habe ich mich nicht mehr sicher gefühlt", sagt er.

Und somit endet das irakische Abenteuer mit dem unguten Gefühl, dass etwas schiefgegangen ist. Hat sich die Reise gelohnt? Khamis überlegt, kaut auf seiner Unterlippe. "Ich glaube schon. Ich habe das Wasser. Das ist das Wichtigste."

Jetzt muss er die kostbaren Flaschen nur noch bei Tamara abliefern, um sein Versprechen zu halten. Von Erbil fliegt er zurück nach Berlin und drei Tage später weiter nach Paris. Von dort geht es mit dem Mietwagen in die französische Kleinstadt Troyes, in der Tamara seit zwei Jahren mit ihrem Ehemann und ihrer elf Monate alten Tochter Liana lebt. Erst mit dem Abstand einiger Tage, auf einer französischen Autobahn, ist es ihm möglich, die Woche im Irak zu reflektieren.

Vielleicht habe er Qasim unrecht getan, hätte mehr Verständnis zeigen müssen. "Ich war überfordert. Es kam mir vor, als würde sie meine Absichten infrage stellen." Er sei gekommen, um einen interreligiösen Dialog zu schaffen, aber "ich wollte mich nicht zwingen lassen, über den Islam zu reden. In dieser Situation hat mein Verstand ausgesetzt". Er wünschte, er hätte damals im Auto anders reagiert. Heute würde er sich dem Gespräch stellen. Nicht als Muslim, sondern als Mensch, und schiebt die Erklärung hinterher, dass ein Muslim, der seine Religion anprangere, dem Islam abschwört. "Meine Religion ist das Heiligste in meinem Leben."

Als Tamara die Wohnungstür öffnet und Mohammed erblickt, fällt sie ihm um den Hals und drückt ihn innig. "Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast", flüstert sie in sein Ohr und wischt eine Träne weg. Tamaras Vater, der zu Besuch ist, nimmt Khamis in den Arm und sagt, dass er von nun an zur Familie gehöre. Minutenlang dreht und wendet sie die Wasserflaschen, drückt sie an sich, als wären sie ein Goldschatz. "Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Wir stehen ewig in deiner Schuld. Du hast bewiesen, dass es Menschlichkeit und Freundschaft auf dieser Welt noch gibt", sagt Tamara. Dann tröpfelt sie etwas Wasser auf den Kopf ihrer Tochter Liana. Anschließend grillen sie gemeinsam, trinken Wodka, stoßen an auf eingelöste Versprechen und interreligiöse Freundschaften. Denn nur so, prosten sie sich zu, lasse sich der Hass in der Welt bewältigen. Den ganzen Abend steht der Ehrengast im Mittelpunkt des Geschehens, zeigt Fotos und erzählt von seinen Abenteuern im Irak.

Mohammed Khamis hat nun sein Versprechen eingelöst – und fühlt sich endlich wieder gut.

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