Amnesty Journal Indien 10. August 2021

Inhaftiert wegen des Einsatzes für Kastenlose

Eine Menschenmenge in Indien von oben fotografiert, die Menschen protestieren, Polizisten mit Helmen, Mützen und Schutzschildern stehen neben der Menge.

Wer hat Angst vor selbstbewussten Dalits? Das Selbstverständnis von Indien als Hindu-Nation könnte damit infrage gestellt werden. Auch dank der Bhima Koregaon 16 (BK16).

Von Michael Gottlob

In der kleinen Stadt Bhima Koregaon bei Pune im Bundesstaat Maharashtra erinnert ein Obelisk an eine Schlacht aus der Frühzeit der britischen Kolonialherrschaft. Im Verlauf des dritten Marathenkrieges standen sich dort am 1. Januar 1818 die Streitkräfte des regionalen Herrschers Peshwa Baji Rao II. und ein Heer der East India Company gegenüber, das größtenteils aus Mahars (einer Dalit-Gemeinschaft) bestand, die für die Briten kämpften, und den zahlenmäßig überlegenen ­Marathen eine empfindliche Niederlage bereitete.

Die Erinnerung an diese Schlacht ist mit sozialen und politischen Kämpfen in der Gegenwart verknüpft und löst bei Anhänger_innen der regierenden Indischen Volkspartei (BJP) gleichermaßen Beunruhigung wie Repressionsgelüste aus. Hindu-Nationalist_innen empfinden den damaligen Kriegsdienst der Dalits für die East India Company als Schande. Und dass sie diesen Sieg alljährlich in Bhima Koregaon feiern, erscheint ihnen als Provokation und antinationales Verhalten. Aus Sicht der Dalits hingegen repräsentiert die Peshwa-Dynastie die traditionelle Kastenhierarchie, verbunden mit all der Verachtung, Unterdrückung und Ausbeutung, an der sich bis heute wenig geändert hat. Mit den Jahren wurde Bhima Koregaon so zu einem Symbol für das Selbstbewusstsein der Dalits. Und im Januar 2018 wollten sie den 200. Jahrestag des Sieges über die oberen Kasten feiern.

Von Hindu-Schlägertrupps angegriffen

Bereits am Vortag des Gedenkens, am 31. Dezember 2017, versammelten sich in Pune Tausende Menschen, vor allem Mitglieder von Dalit-Organisationen, aber auch Angehörige anderer subalterner Kasten und marginalisierter Gruppen sowie Muslim_innen zu einer Elgar Parishad (wörtlich: "Laute Erklärung"). Sie wollten am Sitz der früheren Peshwa-Herrscher das "neue Peshwa-Regime" und die "zunehmende Unterdrückung sozialer Bewegungen, Gräueltaten an unteren Kasten und die Politik gegen die Armen" anprangern. Gemeint war damit die BJP-Regierung von Premierminister Narendra Modi und die hinter ihr stehende Hindutva-Bewegung des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS).

Zu den Hauptredner_innen der Kundgebung zählten der Anwalt und Politiker Prakash Ambedkar, der ein Enkel des historischen Dalit-Führers Bhimrao Ramji Ambedkar ist, der Studentenführer Umar Khalid, der junge Politiker Jignesh Mewani aus Gujarat und die Adivasi-Aktivistin Soni Sori aus Chhattisgarh. Doch als sich die Dalits am nächsten Tag von Pune auf den Weg nach Bhima Koregaon machten, wurden sie von Hindu-Schlägertrupps angegriffen. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen eine Person getötet wurde.

"Aufrührerische Reden"

Die polizeilichen Untersuchungen richteten sich zunächst gegen zwei bekannte Hindutva-Aktivisten, Sambhaji Bhide und Milind Ekbote. Doch dann gerieten die Veranstalter_innen der Elgar Parishad in den Fokus. Die Polizei behauptete, Teilnehmer_innen der Versammlung hätten die Gewalt durch aufrührerische Reden ausgelöst. Zudem gebe es Hinweise auf weitere kriminelle Aktivitäten. Als Drahtzieher_innen wurden vor allem Intellektuelle und Aktivist_innen aus den Städten angesehen, sogenannte "städtische Naxaliten", denen Verbindungen zur verbotenen maoistischen Kommunistischen Partei Indiens ­vorgeworfen werden. Am Ende hieß es sogar, sie hätten einen Mordanschlag auf Premierminister Modi vorbereitet.

Bei mehreren Razzien nahm die Polizei des Bundesstaats Maharashtra im Juni 2018 die Menschenrechtsverteidiger und Aktivistinnen Surendra Gadling, Rona Wilson und Sudhir Dhawale, die Anglistin und Frauenrechtlerin Shoma Sen und den Sozialaktivisten Mahesh Raut fest. Zwei Monate später wurden die Anwältin und Gewerkschafterin Sudha Bharadwaj, die Aktivisten Vernon Gonsalves und Arun Ferreira und der Schriftsteller Varavara Rao festgenommen.

Im Januar 2020 übernahm die nationale Antiterroreinheit NIA die Ermittlungen und benannte weitere Personen, die mutmaßlich an den Unruhen beteiligt waren. Am 14. April 2020 stellten sich der Journalist Gautam Navlakha und der Hochschullehrer Anand Teltumbde den Behörden; sie befinden sich seitdem in Haft. Im Juli wurde der Englischprofessor Hany Babu festgenommen, am 8. Oktober der Jesuitenpater Stan Swamy. Der 84-jährige Priester kämpft seit mehr als drei Jahrzehnten für die Rechte von Adivasis in Jharkhand.

Am 7. und 8. September inhaftierten die Behörden Sagar Tatyarao Gorkhe, Ramesh Murlidhar Gaichor und Jyoti Jagtap vom Kulturverein Kabir Kala Manch in Pune, der sich mit Theateraufführungen gegen das Kastensystem und Gräueltaten an Dalits wendet. Alle drei waren auch bei der Elgar Parishad aufgetreten.

Ältere Menschen mit Vorerkrankungen in überfüllten Gefängnissen

Damit sind bisher 16 Personen in Zusammenhang mit den ­Ereignissen in Bhima Koregaon inhaftiert, der Fall ist deshalb auch unter der Abkürzung BK16 bekannt. Einige der Inhaftierten sind ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Sie werden ­dennoch in überfüllten Gefängnissen festgehalten, in denen es Corona-Infektionen gibt. So wurde der 80-jährige Schriftsteller Varavara Rao im Juli 2020 positiv auf das Virus getestet, die Gerichte lehnten es jedoch ab, ihn gegen Kaution freizulassen.

Die Festnahmen erfolgten auf Basis des drakonischen "Unlawful Activities (Prevention) Act". Das Gesetz schränkt die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit empfindlich ein. Internationale Beobachter_innen und ­Organisationen sehen in dem Fall ein Indiz für den Niedergang der Demokratie in Indien, denn mit den BK16 steht ein repräsentativer Teil der kritischen indischen Zivilgesellschaft unter Anklage. Die Behörden nutzten die Ausschreitungen von Bhima Koregaon als Vorwand, um gegen diejenigen vorzugehen, die seit vielen Jahren genau diese repressiven Gesetze bekämpft haben, auf deren Grundlage sie nun angeklagt sind.

Der inhaftierte Hochschullehrer Anand Teltumbde stellte fest, dass "die Feindseligkeit des Staates" gegenüber denen, die er als Maoist_innen bezeichnet, Ausdruck des "jahrhundertealten Kastenhasses gegen die Unterjochten" sei. Doch trotz der erschreckenden Machtfülle des Staates und seines Strafapparats habe "die Hindutva-Vision der BJP etwas überraschend Sprödes und Zerbrechliches". Sie rühme sich ständig der Stärke und Einheit einer jahrtausendealten Zivilisation, fühle sich aber schon durch harmlose Tweets jugendlicher Klimaaktivist_innen bedroht.

Dem Angriff auf die Zivilgesellschaft und ihre mutigen Akteur_innen liegt die Befürchtung zugrunde, dass die Anerkennung der Rechte der Kastenlosen und anderer marginalisierter Gruppen das Selbstverständnis der "Hindu-Mehrheit", für die die BJP zu sprechen vorgibt, infrage stellt. Bhima Koregaon ist dafür zum Symbol geworden.

Michael Gottlob ist in der Amnesty-Koordinationsgruppe Indien/Sri Lanka/Malediven aktiv.

Weitere Infos: www.amnesty-indien.de

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