Amnesty Journal Griechenland 06. Dezember 2021

Sie kämpft gegen das Monster an Europas Grenzen

Eine Frau mit halblangem Haar steht an einem Geländer am Ufer eines Flusses.

Engagiert sich für Geflüchtete: Die griechische Psychologin Efi Latsoudi.

Efi Latsoudi fürchtet nicht nur um das Leben von Geflüchteten, ­sondern auch um die Zukunft einer Gesellschaft, die ihre grundlegenden Werte verrät. Sie kämpft für eine humane Asylpolitik in der EU. Dafür wurde sie nun ­ausgezeichnet.

Von Hannah El-Hitami

Efi Latsoudi kämpft gegen ein Monster. Ein grausames, mächtiges, sagt sie, eins, das mit jeder Menge Geld gefüttert wird. Die 52-jährige Griechin setzt sich für einen humanen Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen ein. Das Monster, dem sie gegenübersteht, ist die europäische Asylpolitik, die, so sagt es ­Latsoudi, Menschen nicht retten, sondern abschrecken will. Im September ist Latsoudi von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit mit dem Anita Augspurg-Preis ausgezeichnet worden. Der mit 5.000 Euro dotierte Preis ehrt seit 2017 Frauen, die im Ringen um Frieden in ihrem Land oder ihrer Region an herausragender Stelle stehen. Bei ihrem Besuch in Berlin anlässlich der Verleihung wirkt Latsoudi erschöpft und reibt sich immer wieder über das Gesicht, während sie von ihrer Arbeit ­erzählt. Dennoch antwortet sie ohne zu zögern, findet klare, ­energische Worte. Wer ihr zuhört, bekommt den Eindruck, dass die Angelegenheit ganz simpel ist.

Wie blicken Sie auf die Zukunft der europäischen Asylpolitik?

Efi Latsoudi : Wir müssen uns jetzt entscheiden, vor allem mit Blick auf die Entwicklungen in Afghanistan. Entweder wir besinnen uns zurück auf die Menschenrechte, auf das Asylrecht, auf den Schutz von Leben und unseren Werten – oder wir sind verloren. Das ist keine Zukunft, es ist eine Schande. Wir müssen als Europäer_innen klarmachen, dass wir dieses Verbrechen nicht akzeptieren. Wir müssen klarmachen, dass es jetzt reicht nach all den Jahren einer Politik, die nirgends hingeführt hat.

Latsoudi ist Psychologin und lebt seit vielen Jahren auf Lesbos. Dort hat sie die Organisation Lesvos Solidarity mitgegründet und ist Mitglied von Refugee Support Aegean, einer Organisation, die Geflüchteten beim Ankommen hilft. Denn die EU schottet sich seit Jahren immer weiter ab. Staatliche Seenotrettungsprogramme wurden eingestellt, private kriminalisiert. Und wer die gefährliche Reise über das Meer überlebt, ist noch lange nicht in Sicherheit. Das zeigt sich vor allem in Griechenland, wo ein Großteil der Geflüchteten ankommt. Viele Lager auf den Inseln gleichen Gefängnissen, sie sind überfüllt und von Stacheldraht umgeben. Rund 6.600 Menschen sitzen dort fest, ohne Perspektiven. Viele ­leben in Zelten, auch bei extremem Wetter, und immer wieder brennt es. Daran ändert auch der Bau geschlossener Zentren wie im September in Samos nichts.

Was steht auf dem Spiel, wenn Europa seine Asylpolitik nicht ändert?

Efi Latsoudi: Wenn wir so weitermachen, ist das nicht nur eine Katastrophe für das Leben der Geflüchteten, sondern auch für unsere Würde. Wir erleben an den Grenzen einen Krieg gegen Geflüchtete, und er wird uns alle prägen. Die Menschen werden rassistischer und aggressiver. Wenn Europa diese Politik nicht sofort beendet, ist es für eine sehr finstere Zukunft verantwortlich.

Das Lager Pikpa in Mytilini auf Lesbos wirkt im Gegensatz zu anderen Lagern wie ein kleines Paradies. Videoaufnahmen zeigen einen sonnigen Ort, mit Malereien verzierte Gebäude und gemeinsames Kochen oder Fußballspielen der Bewohner_innen. Latsoudi und ihre Mitstreiter_innen eröffneten Pikpa 2012 in der Überzeugung, dass Lager auch schöne Orte sein können, in denen Geflüchtete menschenwürdig untergebracht werden. Besonders gefährdete Geflüchtete wie alleinreisende Frauen, traumatisierte Menschen und Kinder fanden in Pikpa ein Zuhause. Latsoudi war es wichtig, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem die Geflüchteten anfangen konnten, ihre Traumata zu verarbeiten – anstatt weitere schlimme Erfahrungen zu machen.

Sie sind Psychologin. Wie hat das Ihre Arbeit im Camp geprägt?

Efi Latsoudi: Ich habe die Bewohner_innen nicht als Psychologin behandelt, aber ich habe ein Verständnis dafür, wie die Asylpolitik der psychischen Gesundheit der Menschen schadet. Die Lager müssen sichere Orte sein, an denen die Menschen sich entspannen können. Nur dann können sie den Überlebensmodus abschalten, den sie über so einen langen Zeitraum aufrechterhalten mussten.

Pikpa entstand nicht auf einem umgenutzten Militärgelände oder Müllplatz, sondern in einem ehemaligen Sommercamp für Kinder. Es ist nicht von Zäunen und Polizist_innen umgeben, ­sondern offen und selbstbestimmt. Die Pikpa-Gründer_innen legten von Anfang an großen Wert darauf, die lokale Bevölkerung einzubeziehen, um das Misstrauen gegenüber Migrant_innen ­abzubauen. Doch im Oktober 2020 schlossen die griechischen ­Behörden das Lager.

Warum wurde das Camp geschlossen?

Efi Latsoudi: Offiziell hieß es, der Ort sei illegal, weil er nicht wie die großen Lager vom Staat betrieben wird. Illegal ist aber allenfalls die Behandlung der Menschen in den anderen Lagern. Dahinter steckt eine politische Entscheidung: Menschenrechte werden verletzt, um mehr Menschen davon abzuhalten, zu uns zu kommen. Und die, die kommen, werden von der Gesellschaft isoliert, wodurch Angst und Rassismus geschürt werden.

Seit der Schließung des Camps versucht Latsoudi, auf andere Weise sicheren Wohnraum und bessere Lebensbedingungen für Geflüchtete auf Lesbos zu schaffen. Vier Wohnungen hat sie inzwischen für Frauen und Familien eingerichtet. Außerdem organisiert sie Bildungsprogramme und hilft bei der Arbeitssuche.

Sie sind vor 20 Jahren nach Lesbos gezogen, waren erst im ­Umweltschutz aktiv und arbeiten seit 2005 mit Geflüchteten. Was hat Sie dazu bewogen?

Efi Latsoudi: Ich finde es inakzeptabel, dass wir in einer Gesellschaft ­leben, in der Menschen neben uns leiden und sterben – und wir tun so, als ginge uns das nichts an. Es war ganz einfach. Mir ­wurde klar, wie wichtig Solidarität ist, und zwar nicht als große Heldentat, sondern als grundlegender menschlicher Wert.

Was haben Sie seitdem gelernt?

Efi Latsoudi: Ich war überrascht, dass Dinge, die utopisch erscheinen, passieren können. Unsere Träume sind gar nicht utopisch. Wenn wir fest daran glauben, wird daraus manchmal Realität. Was die Grenzpolitik betrifft, befinden wir uns in einer endlosen Spirale. Die EU hält hartnäckig an ihrem Plan fest, abschreckende Maßnahmen umzusetzen. Ich und viele andere, die in dem Bereich arbeiten, hatten schon ein Burn-out. Diese Politik und dieses Leid sind so mächtig, dass sie allen Beteiligten schaden.

Latsoudi macht dennoch weiter. Kraft geben ihr die Menschen, mit denen sie arbeitet, deren Stärke und Resilienz. Auch wenn Staaten und Institutionen den Eindruck vermittelten, dass Menschenrechte unrealistisch seien, ist Latsoudi überzeugt: Sie bringen uns zusammen und machen uns stärker. Vielleicht sogar stark genug, um es mit dem Monster aufzunehmen.

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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