Amnesty Journal 22. Februar 2023

Kolumne "Protect the Protest"

Ein Mann in einem weißem Hemd blickt in die Kamera.

Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Liberale Demokratien leben von Widerspruch und Debatten. Doch die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist überall in der Welt vielfach bedroht. Kolumne von Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Von Markus N. Beeko

Sie wusste, welches Risiko sie einging. Aber Pari (Name geändert) wusste auch, dass sie nicht zu Hause sitzen konnte, während andere auf Teherans Straßen "Frau, Leben, Freiheit" forderten. An einem Nachmittag lief sie mit anderen durch die Straßen, singend, die Frauen ohne Kopftuch, als Revolutionsgarden die Menschen mit Schlagstöcken und Tränengas auseinandertrieben. Pari wurde von ihren Freund*innen getrennt, sie floh, Polizisten verfolgten sie. Plötzlich öffnete sich eine Autotür, der Fahrer, ein älterer Mann, bat sie einzusteigen und verriegelte die Türen. "Lasst sie in Ruhe!", entgegnete er den heranrückenden Revolutionsgarden. Diese wollten erst auf ihn losgehen, ließen dann aber ab – und verschwanden.

Pari lebt mittlerweile in Deutschland und erzählt sichtlich bewegt von dem Autofahrer, der sie schützte – ihren Protest, ihr Leben. Was für Pari das solidarische Handeln des Mannes, ist für die Menschen im Iran die internationale Solidarität: Andere Menschen schauen hin, werden aktiv und fordern, die Gewalt nicht zu ignorieren. Es war wichtig, dass die Bundesregierung – auf Drängen von Amnesty International und anderen – bei den Vereinten Nationen darauf hinwirkte, dass die Gewalt der iranischen Sicherheitskräfte untersucht und bestraft wird. Wenn Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden, ist das ein Zeichen, das weltweit gesehen wird.

Amnesty startet nun eine globale Kampagne zur Verteidigung des Rechts auf friedlichen Protest: Protect the Protest! Denn die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist vielfach bedroht. 2021 haben nachweislich 67 Staaten diese Rechte eingeschränkt, in 84 wurden Aktivist*innen willkürlich festgenommen. Hunderte wurden rechtswidrig getötet und viele verletzt, auf allen Kontinenten.

 

Protest, auch unbequemer, gehört zu einer liberalen Demokratie.

Die Berliner Band "Ton, Steine, Scherben" sang in den 1970er Jahren "Allein machen sie Dich ein", doch "zu hundert oder tausend kriegen sie langsam Ohrensausen". Gemeint waren Regierungen, die die Macht der Straße fürchten. Sie wollen Menschen kontrollieren und Meinungen unterdrücken. Deshalb der riesige Überwachungsapparat in China, deshalb das Verbot von Ein-Personen-Protesten in Russland, deshalb die brutale Gewalt der Revolutionsgarden im Iran.

Liberale Demokratien dagegen leben von Meinungsfreiheit, Widerspruch und Debatten. Doch auch hier reagieren Regierungen, Behörden und Gesellschaft mitunter "nervös" auf Proteste. Die Verfolgung friedlicher "Black Lives Matter"-Aktivist*innen in den USA zeugt davon, wie auch in Deutschland Diskussionen um die Straßenblockaden von Klimaschützer*innen. Gegen diese wird teilweise schweres Geschütz aufgefahren: Präventivhaft und Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Dabei gehört Protest, auch unbequemer, zu einer liberalen Demokratie.

Die Ampelkoalition scheint die Verletzlichkeit des hohen Gutes der Meinungs- und Versammlungsfreiheit anzuerkennen und bekennt sich im Koalitionsvertrag unter anderem zu einem EU-Verbot von biometrischer Überwachung und Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Dass sie diese aber bei den EU-Verhandlungen durch die Hintertür doch erlauben will, sollte uns alle auf die Straße treiben. In Moskau werden Menschen noch Tage nach Demonstrationen von der Polizei festgenommen, weil sie von Kameras mit Gesichtserkennungstechnologie gefilmt wurden – ähnliche Technik soll mutmaßlich auch im Iran im Einsatz sein.

Deutschland und Europa sollten den Export solcher Überwachungstechnologien verbieten. Es ist eine von vielen solidarischen Türen, die wir den Menschen öffnen können, die weltweit für Menschenrechte, Wahrheit und Gerechtigkeit auf die Straße gehen müssen.

Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Weitere Artikel