Amnesty Journal Ägypten 01. März 2021

Nein auf Arabisch

Ein Handydisplay, auf dem ein Instagram-Account angezeigt wird, auf dem es darum geht, dass man sexualisierte Gewalt melden kann.

In Ägypten haben Frauen zehn Jahre nach der Revolution eine Debatte über sexualisierte Gewalt losgetreten. Doch der Staat stellt sich nur dann hinter die Opfer, wenn es um konservative Werte geht.

Von Hannah El-Hitami

Drei Worte schreit der ägyptische Starmoderator Amr Adeeb Anfang Juli in die Kamera: "No means no!" Der weltbekannte Slogan besagt, dass sexuelle Handlungen einvernehmlich stattfinden müssen, und dass kein noch so leises "Nein" übergangen werden darf. Nachdem der Moderator den Satz ins Arabische übersetzt hat, fährt er in seiner Sendung fort: "Egal, ob du sie 'Girlfriend' nennst oder ob sie deine Ehefrau ist: Wenn eine Frau Nein sagt, bedeutet das Nein. Keine Frau auf der Welt darf gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen werden."

Dass ein prominenter Moderator im ägyptischen Main­stream-Fernsehen über einvernehmlichen Sex und Vergewaltigung in der Ehe spricht, wäre noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen. Obwohl 99 Prozent der Ägypterinnen einer UN-Studie zufolge schon einmal sexuell belästigt wurden, sprach bis vor Kurzem kaum eine Frau öffentlich über diese Erfahrungen. Die Angst, stigmatisiert zu werden, war zu groß. Noch immer weist die ägyptische Gesellschaft meist den Frauen die Schuld zu für sexuelle Übergriffe.

Doch es hat sich etwas getan: In diesem Sommer hat eine Bewegung Ägypten erfasst, die an #MeToo erinnert. Immer wieder bringt sie neue Fälle sexualisierter Gewalt ans Licht. Die Bewegung, die auf Instagram startete, hat inzwischen alle medialen und gesellschaftspolitischen Räume erreicht. Sie hat dazu geführt, dass Beschuldigte festgenommen, Gesetze geändert und Tabuthemen breit diskutiert wurden.

Beträchtliche Erfolge

Die Bewegung nahm kurz vor Amr Adeebs Auftritt ihren Anfang, als sich die 29-jährige Sabah Khodir entschied, die Taten eines Mannes namens Ahmed Bassam Zaki öffentlich zu machen, der jahrelang Mädchen und junge Frauen sexuell belästigt, genötigt und vergewaltigt haben soll.

Nachdem Khodir von einer betroffenen Freundin davon erfahren hatte, sprach sie mit mehreren Opfern. Auf Instagram postete sie ein Foto des 21-Jährigen zusammen mit der Aussage einer Betroffenen und der Bitte, weitere Opfer sollten sich melden.

Stattdessen kam eine Reaktion des Beschuldigten: Der Student aus reichem Hause verklagte nicht nur Khodir, sondern auch die Frau, deren Geschichte sie geteilt hatte. Verzweifelt bat die Betroffene Khodir, den Instagram-Post so schnell wie möglich zu löschen. Auch Khodir wusste nicht weiter. "Ich war mir sicher, dass Überlebende sexualisierter Gewalt in Ägypten es nie wieder wagen würden, über ihre Erfahrungen zu sprechen", erzählt die ägyptische Frauenrechtsaktivistin.

Doch fand sie unerwartet Unterstützung. Nachdem sich ihr Aufruf in den Online-Netzwerken verbreitet hatte, begann der anonyme Account Assault Police die Geschichten weiterer Opfer zu sammeln und zu veröffentlichen. "Innerhalb von vier Tagen meldeten sich mehr als 500 Frauen mit Anschuldigungen gegen Zaki", sagt Khodir. Sie begann, mit Assault Police zusammenzuarbeiten, und die Kampagne wurde größer. Anfang Juli wurde Ahmed Bassam Zaki schließlich festgenommen. Kurz darauf sicherte der Nationale Frauenrat allen Zeuginnen Unterstützung zu, und immer mehr Frauen wandten sich mit ihren Aussagen an die Polizei.

Die Erfolge dieser Frauenbewegung sind beträchtlich: Ein Gesetzentwurf zum besseren Schutz von Überlebenden sexueller Gewalt schaffte es im August ins Parlament. Und die Al-Azhar Moschee, die höchste religiöse Autorität des Landes, kritisierte schließlich sogar das "victim blaming", also die weitverbreitete Praxis, die Schuld für sexuelle Übergriffe den Opfern zuzuschieben. Es schien, als würden sich Staat und Gesellschaft endlich dem Problem stellen.

Mediale Schmutzkampagne

Ende Juli wurde Khodir jedoch von drei weiteren Frauen kontaktiert, die eine Gruppenvergewaltigung bei einer Party im Fünf-Sterne-Hotel Fairmont in Kairo im Jahr 2014 meldeten. Die neun mutmaßlich beteiligten Männer aus wohlhabenden und einflussreichen Familien hatten die Tat gefilmt und das Video verbreitet.

Während sich die Öffentlichkeit kurz zuvor noch mit den ­Opfern des auf Instagram beschuldigten Mannes solidarisiert hatte, passierte nun das Gegenteil: Nicht nur die mutmaßlichen Täter, sondern auch Zeuginnen und Zeugen der Tat im Fairmont-Hotel wurden festgenommen. Einige sind bis heute in Haft. In einer medialen Schmutzkampagne wurden die Vorfälle als Gruppensexparty dargestellt. Man bezeichnete das Opfer und die Zeuginnen und Zeugen als Perverse und veröffentlichte intime Fotos von ihnen.

"Der Staat unterscheidet ganz klar zwischen 'respektablen' Frauen und 'unmoralischen', die er für nicht schützenswert hält", sagt die ägyptische Feministin Hind Ahmed Zaki, die in den USA lebt und am politikwissenschaftlichen Institut der Universität in Connecticut arbeitet. "Frauen sollen ganz bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen. Tun sie dies nicht, werden sie zur Zielscheibe", sagt die Wissenschaftlerin. Die Vergewaltigung im Fairmont-Hotel soll während einer Party stattgefunden haben. Die Opfer und ihre Freundinnen und Freunde hätten gefeiert und getrunken.

Ähnliches bekamen neun junge Ägypterinnen zu spüren, die seit April nach und nach festgenommen wurden. Die Frauen hatten auf dem Online-Netzwerk Tiktok Videos von sich beim Singen und Tanzen gepostet. Auch sie sollen dabei gegen die "Werte der ägyptischen Familie" verstoßen haben. Die Behörden schützen Frauen nur dann, wenn sie sich an konservative Regeln halten, sagt Hind Ahmed Zaki.

Erfolge stimmen optimistisch

Nach Ansicht der Wissenschaftlerin existiert in Ägypten ein moralisches Vakuum, seit das Militärregime unter Abdel Fattah al-Sisi 2013 gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi putschte, der der Muslimbruderschaft angehörte. Das Regime geht seither hart gegen die islamistische Gruppierung vor, die gesellschaftlich und institutionell verankert ist. "Historisch hat die Muslimbruderschaft eine moralische Kontrollfunktion in Ägypten übernommen", sagt Zaki. "Nachdem so viele von ihnen verhaftet wurden, muss das Regime nun selbst eine Form von moderat islamischem Moralismus propagieren."

Doch die Erfolge im Sommer stimmen Zaki optimistisch. "Die Art und Weise, wie sexualisierte Gewalt derzeit in Ägypten debattiert wird, ist gigantisch", sagt sie. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen ihrer Ansicht nach in der ägyptischen Revolution vor fast zehn Jahren. 2011 gingen Frauen massenhaft auf die Straße. Viele Initiativen, die sich damals gegen sexuelle Belästigung und für Frauenrechte gründeten, sind bis heute aktiv. "Was wir jetzt sehen, ist das Ergebnis der Mobilisierung von damals", sagt Zaki. "Und das wird nicht die letzte Welle sein.

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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