Amnesty Journal Ägypten 06. April 2022

Die Toilette als Befreiung der Frau

Eine Frau mit schwarzen Locken trägt eine Somerjacke und ein T-Shirt, steht vor einer Wand, blickt zur Seite.

Nadia Wassef gründete den legendären Buchladen "Diwan" in Kairo. Er ist vor allem für Frauen zu einem Ort der Begegnung geworden. Darüber hat sie ein Buch geschrieben, das hilft, Ägypten besser zu verstehen.

Von Waltraud Schwab

Nadia Wassef zieht eine Tragetasche des Kairoer Buchladens Diwan aus dem Schrank hinter sich und hält sie vor die Kamera ihres Computers. Ein Sammelobjekt sei diese fast 20 Jahre alte Tasche mittlerweile. Darauf sind arabische und lateinische Buchstaben kalligrafisch zum Logo des Buchladens verschmolzen, den Wassef im Jahr 2001 zusammen mit ihrer Schwester und einer Freundin gründete. Gedichtsammlung bedeutet das aus dem Persischen stammende Wort "Diwan", aber auch Sammlung, Versammlung, Treffpunkt, Sofa und Ort für Gäste, erklärt sie.

Dass in diesem Wort sowohl Menschen und Dinge wie auch die Poesie zusammenfinden, hat sich auch bei ihrem Unternehmen als treffend erwiesen – was Wassef und ihre Mitstreiterinnen damals bestenfalls ahnen konnten. Innerhalb kürzester Zeit habe sich der Buchladen zu einer "kulturellen Drehscheibe" entwickelt, erzählt sie. "Es gab damals keine öffentlichen Räume, wo man einfach sein konnte. Diwan war einer." Vor allem für Frauen seien der Buchladen und das angeschlossene Café ein Gewinn. "In Kairo können Männer ungestört in Cafés sitzen, Frauen nicht." Es gebe keine öffentlichen Toiletten in der Stadt. Männer könnten überall hinpinkeln, Frauen nirgends. "Das bedeutet doch: Du bist hier als Frau nicht willkommen. Du kannst hier nur kurz sein, und dann musst du zurück in deine Wohnung." Im Diwan gibt es eine Toilette für Frauen; das habe sich schnell herumgesprochen. Sie habe diese Zusammenhänge selbst erst verstanden, als sie sie erlebte. Manchmal sind es einfache Dinge, die die Befreiung der Frau voranbringen.

Gehen oder zugrunde gehen

Die 1974 in Kairo geborene Wassef ist eine lebhafte, leidenschaftliche Frau. Sie hält es kaum auf dem Stuhl aus, auf dem sie wegen des Videogesprächs wie festgenagelt sitzt. Sie lebt jetzt in London. Ägypten hat sie im Jahr 2015 verlassen, den Buchladen an Nachfolgerinnen übergeben. Das Magazin Forbes zählte sie mehrfach zu den wichtigsten Unternehmerinnen des Nahen Ostens, aber Wassef legt keinen Wert auf Superlative. Der Buchladen, der sich zu einer Kette mit zeitweise zehn Filialen und 150 Angestellten entwickelte, sei wie eine Beziehung gewesen, bei der man am Ende weiß, entweder man geht, oder man geht zugrunde, sagt sie.

Zuletzt hat sie ein Buch über Diwan geschrieben. "Jeden Tag blättert das Schicksal eine Seite um", lautet der Titel. Das klingt nicht weltbewegend, täuscht aber, denn das Buch ist eine Reise durch ihr Kairo, ihr Ägypten – mit seinen Menschen, seiner Mentalität, seiner Politik. Wassef beschreibt die Geschichte und Gesellschaft des Landes aus der Perspektive einer Buchhändlerin. Ihr Buch ist geschriebene Oral History. Sie nimmt die einzelnen Abteilungen des Buchladens als Ausgangspunkte und führt von dort ohne Umwege in das Tohuwabohu der Stadt mit ihrem Lärm, ihrem Chaos, ihrer Kultur, ihren patriarchalen Strukturen, ihrer Korruption, ihren kolonialen Spuren, ihrer Freundlichkeit und Lebendigkeit, ihrem religiösen Verhaftetsein. Dabei streift sie die Weltwirtschaftskrise 2008, die Revolution in Ägypten 2011 und den anschließenden Aufstieg der Muslim­brüder.

Kochbücher und Zensur

In der Abteilung "Essential Egypt" etwa, in der die wichtigsten Bücher über Ägypten ausliegen, beschreibt sie, wie das kulturelle Selbstverständnis dadurch geformt wurde, dass mehr westliche Autoren Grundlagenwerke über Ägypten schrieben als arabische Autoren  über den Westen. Was das bedeutet? "Dass wir da­ran gewöhnt sind, studiert und analysiert zu werden. Und das ist wesentlich bei der Etablierung von Machtverhältnissen und gilt bis heute", antwortet sie in die Kamera in ihrer Londoner Wohnung. Dahinter stehe die Frage: "Wem gehört die Vergangenheit?"

Wie subtil kulturelle Entfremdung sein kann, hat Wassef selbst erlebt. Sie wurde auf englische Schulen in Kairo geschickt, die der bürgerlichen Mittelschicht als modern erschienen. Dies blieb nicht ohne Folgen: "Meine von der eigenen Muttersprache isolierte Schulbildung ließ mich glauben, dass Ägypten und seine Menschen in der Literatur der Weißen keinen Platz hätten, weil uns die Literatur nicht gehörte", schreibt sie in ihrem Buch.

Das habe ihren Blick geschärft. Auch dafür, dass ein Großteil des kulturellen Erbes Ägyptens in den Museen der westlichen Welt steht. Die Büste der Nofretete im Neuen Museum in Berlin ist nur ein prominentes Beispiel. "Die größte Sammlung klassischer ägyptischer Kunst befindet sich im British Museum in London. Das untermauert doch, dass der Westen mehr über den Osten forscht als umgekehrt." Neulich habe sie mit ihren Kindern ein neues Museum in London besucht, das früher das Haus eines berühmten Architekten gewesen sei. Dort sei sie auf jede Menge ägyptische Skulpturen und Artefakte gestoßen. "Und ich fragte mich: Wann wird Sammeln Stehlen? Und wann Stehlen Sammeln?"

In jedem neuen Kapitel ihres Buchs stellt Wassef neue Fragen, gibt neue Antworten. Die Abteilung Kochbuch nutzt sie, um zu zeigen, wie Zensur funktioniert. Die Selbsthilfeliteratur ist für sie ein Anlass, um über das vorislamische Ägypten zu schreiben. Und bei den Klassikern zeigt sie anhand der verschiedenen Drucklegungen von "Tausendundeiner Nacht", wie sich die Durchdringung der Gesellschaft durch den konservativen ­Islam nachverfolgen lässt. Jedes Kapitel hilft, dem Land näher zu kommen.

Unsere Befreiung findet nicht im Schlafzimmer statt, sondern in Sitzungssälen und auf der Straße.

Nadia
Wassef

Auch auf die patriarchale Prägung Ägyptens geht die Autorin ein, etwa bei den Büchern über Ökonomie. Sie habe mehr Glückwünsche zur Geburt ihrer Kinder bekommen als zur Eröffnung des Buchladens. Daran könne man die eingeschränkte Sicht auf die Rolle der Frau erkennen. "Aber je beharrlicher wir Frauen dagegen angehen, desto mehr wird sich das ändern. Unsere Befreiung findet nicht im Schlafzimmer statt, sondern in Sitzungssälen und auf der Straße", sagt sie.

Engagiert zurückgeben

Dass sie beim Schreiben den Rahmen sprengt, passt zu den Diskontinuitäten in ihrem Leben. Ihr Vater war Muslim, ihre Mutter ist koptische Christin. In ihrem ­Leben treffen Multikulturalismus und westliche Bildung, post- und neokoloniale Einflüsse, religiöse Diversität und Patriarchat sowie intellektuelles Bürgertum auf­ei­nan­der. Sie alle seien Teil ihrer Identität. Sie zu bekämpfen, helfe nicht. "Du musst akzeptieren, dass sie dich zu dem gemacht haben, was du bist, und dass Trost darin liegen kann, wenn man für sich selbst steht."

Wassef wurde dazu erzogen, über den Rand hinauszudenken, und sie tut es. Als Literaturstudentin interessierten sie Geschlechterdifferenz und Feminismus. Sie arbeitete für NGOs, etwa gegen Genitalverstümmelung, und bei Müllsamm­ler_in­nen in Kairo. "Ich vermute, ich habe nach einem Weg gesucht, die Welt zu ändern. Ich wollte etwas zurückgeben, denn ich habe gesehen, dass ich privilegiert bin, und wollte zeigen, dass es auch anders geht", sagt sie. Später studierte sie Sozial­anthropologie in London, eröffnete den Buchladen in Kairo. Nach eineinhalb Jahrzehnten wechselte sie die Seiten, ­studierte Kreatives Schreiben und wurde Autorin. Und da steht sie nun. "Irgendwie ist es, als würde ich die Dinge immer rückwärts angehen", sagt sie.

Nadia Wassef: Jeden Tag blättert das Schicksal eine Seite um. Mein abenteuerliches Leben als Buchhändlerin in Kairo. Aus dem Amerikanischen von Claudia Amor, Johanna Ott, Albrecht Schreiber. Goldmann, München 2021, 320 Seiten, 20 Euro.

Waltraud Schwab ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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