Amnesty Report Ungarn 11. Mai 2011

Ungarn 2011

 

Amtliche Bezeichnung: Republik Ungarn Staatsoberhaupt: Pál Schmitt (löste im August László Sólyom im Amt ab) Regierungschef: Viktor Orbán (löste im Mai Gordon Bajnai im Amt ab) Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 10 Mio. Lebenserwartung: 73,9 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 9/8 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 99%

Roma-Gemeinschaften waren 2010 unvermindert gewalttätigen Angriffen und Diskriminierung ausgesetzt und lebten in einem Klima der Angst. Die Polizei schloss die Ermittlungen in Bezug auf eine Serie von Angriffen auf Roma in den Jahren 2008 und 2009 ab, gegen vier Verdächtige wurde Anklage erhoben. Internationale Organe zur Überwachung der Menschenrechtssituation äußerten sich besorgt über strukturelle Defizite der ungarischen Strafjustiz im Umgang mit Hassverbrechen. Roma-Kinder wurden in der Grundschule in separaten Klassen unterrichtet.

Hintergrund

Die Koalition aus dem Bund Junger Demokraten (Fidesz) und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) gewann die Parlamentswahlen im April 2010 mit überzeugender Mehrheit. Die rechtsextreme Partei Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) konnte zum ersten Mal ins Parlament einziehen.

Mitglieder der verbotenen Ungarischen Garde (Magyar Gárda) setzten Berichten zufolge ihre Aktivitäten unter anderem Namen fort, und zwar als Neue Ungarische Garde. Im September erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen drei ihrer Anführer wegen Aufwiegelung gegen den Erlass einer Behörde und Missbrauch des Rechts auf Versammlungsfreiheit.

Rassismus

Nach einer Reihe gewalttätiger Angriffe auf Roma-Gemeinschaften, bei denen 2008 und 2009 sechs Menschen ums Leben gekommen waren, meldeten ungarische NGOs erneut Übergriffe gegen Roma. Sie kritisierten außerdem, dass es innerhalb des Strafjustizsystems an Verfahren mangele, um wirksam gegen Hassverbrechen vorzugehen (siehe unten). Im Juni stellte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fest, es drohe vermehrt die Gefahr, dass Roma zu "Sündenböcken" abgestempelt und für die sozioökonomischen Probleme des Landes verantwortlich gemacht würden, da viele von ihnen auf staatliche Unterstützung angewiesen seien.

  • Im Juni 2010 schloss die Polizei die Ermittlungen in Bezug auf eine Serie gewalttätiger Angriffe auf Roma in den Jahren 2008 und 2009 ab. Sie kam zu dem Schluss, dass vier Verdächtige wegen mehrerer, aufeinander abgestimmter Morde unter Anklage gestellt werden sollten. Im September legte die Staatsanwaltschaft des Komitats Pest die Anklageschrift vor. Drei Männer wurden wegen mehrfachen Mordes aus "niedrigen Beweggründen" angeklagt, da das ungarische Strafgesetzbuch für rassistisch motivierte Straftaten keinen eigenen Straftatbestand vorsieht. Gegen den vierten Mann wurde Anklage wegen Beihilfe zu vorsätzlichem mehrfachem Mord erhoben.

Im September äußerte sich der Beratungsausschuss des Europarats für das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten besorgt über gewalttätige Angriffe auf Roma. Nach Ansicht des Ausschusses herrschte trotz der Festnahme der mutmaßlichen Täter nach wie vor ein "Klima der Angst". Besorgt zeigte sich das Gremium außerdem darüber, dass "Intoleranz und Vorurteile gegenüber Roma durch Äußerungen gewisser Politiker der extremen Rechten angefacht werden". Ungarischen NGOs zufolge wurden derartige Äußerungen von der Regierung nur halbherzig verurteilt.

Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Oktober lehnten die öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehsender es ab, einen parteipolitischen Werbespot von Jobbik zu senden, in dem von sogenannter Zigeunerkriminalität die Rede war und der einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und ethnischer Zugehörigkeit herstellte. Der staatliche Wahlausschuss entschied, beide Medien hätten den für eine Wahl unerlässlichen Grundsatz der Gleichberechtigung aller Parteien verletzt, und der Werbespot habe im Einklang gestanden mit den Bestimmungen zur Meinungsfreiheit. Im September bestätigte der Oberste Gerichtshof diese Entscheidung.

Justizwesen

Internationale und nationale NGOs sowie internationale Überwachungsorgane für Menschenrechte monierten 2010 strukturelle Defizite der ungarischen Strafjustiz im Umgang mit Hassverbrechen. Zu diesen Defiziten zählten die mangelnde Kompetenz, Hassverbrechen zu erkennen und aufzuklären, das Fehlen von Fortbildungen und Richtlinien zu Hassverbrechen für Polizisten und Ermittler, die mangelnde Unterstützung für die Opfer dieser Verbrechen und das Fehlen wirksamer Maßnahmen, um den Charakter und das Ausmaß des Problems festzustellen. Letzteres beruhte zum Teil auf einer mangelhaften Datenlage, die es den Behörden erschwerte, Entwicklungen zu erkennen und mit entsprechenden Maßnahmen darauf zu reagieren.

Es gab mehrere dokumentierte Fälle, die zeigten, dass die Strafverfolgungsbehörden rassistische Hintergründe von Straftaten oft nicht erkannten. In ihrem Bericht anlässlich der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch den UN-Menschenrechtsrat äußerten sich ungarische NGOs im November auch besorgt über die Tendenz, Straftaten als "gewöhnliche" Straftaten einzustufen und ein rassistisches Motiv nicht als erschwerenden Tatbestand zu werten. Infolgedessen waren in Ungarn keine verlässlichen Statistiken über die tatsächliche Zahl rassistisch motivierter Straftaten öffentlich zugänglich. Dem Vernehmen nach wurde Hass als erschwerender Tatbestand auch bei Straftaten ignoriert, die sich gegen sexuelle Minderheiten oder Menschen jüdischen Glaubens richteten.

Diskriminierung von Roma

Der UN-Menschenrechtsausschuss äußerte sich besorgt über die Diskriminierung von Roma im Hinblick auf Bildung, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge und politische Teilhabe. Er kritisierte auch, dass es keine Regelungen gebe, um Datensammlungen nach ethnischer Zugehörigkeit aufzuschlüsseln.

  • Der Oberste Gerichtshof gewährte erstmals Opfern der Ausgrenzung von Roma in den Schulen eine Entschädigung. Das Gericht entschied im Juni 2010, dass fünf Roma-Kinder während ihrer Grundschulzeit in der Stadt Miskolc ausgegrenzt worden seien. Nach Ansicht des Gerichts stand den Opfern eine Entschädigung zu, da Ausgrenzung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit einer Ungleichbehandlung gleichkomme, die gesetzlich verboten sei.

Recht auf Wohnen

Ein Gesetzentwurf zu Verfahren bei Baumaßnahmen, den der Innenminister im September ins Parlament einbrachte, enthielt eine Klausel, die es lokalen Behörden gestatten würde, gewisse Verhaltensweisen an öffentlichen Orten zu verbieten, u.a. das Schlafen im Freien. Laut NGOs, die mit Obdachlosen arbeiten, waren als Sanktionen u.a. Geldstrafen, Vertreibungen und Inhaftierungen vorgesehen. Ihrer Ansicht nach bestand die Gefahr, dass der Gesetzentwurf eine Kriminalisierung von Armut darstellen könne.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Trotz Protesten verabschiedete das Parlament im September und im Dezember 2010 zwei neue Mediengesetze. Die neue Gesetzgebung stieß wegen ihrer möglichen Auswirkungen sowohl bei ungarischen NGOs und Medien auf Kritik als auch bei der internationalen Gemeinschaft. Kritisiert wurden u.a. Beschränkungen in Bezug auf die Inhalte der Medien, das Fehlen eindeutiger Richtlinien für Journalisten und Herausgeber sowie die erheblichen Machtbefugnisse eines neuen Kontrollorgans – alles Maßnahmen, die eine unfaire Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung befürchten ließen. Die neu gegründete Nationale Medien- und Kommunikationsbehörde (NMHH) kann hohe Geldstrafen gegen Rundfunk- und Fernsehsender verhängen, wenn diese Inhalte verbreiten, die nach Auffassung der Behörde dem "öffentlichen Interesse", der "allgemeinen Moral" und der "nationalen Sicherheit" entgegenstehen. Auch für "unausgewogene" Berichterstattung können Geldstrafen verhängt werden.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen

Die Organisatoren der Pride Parade von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in Budapest berichteten, dass die Polizei sich zunächst geweigert habe, zum Schutz der Demonstration am 16. Juli Polizeikordons einzusetzen. Berichten zufolge wurden zwei Personen nach ihrer Teilnahme an der Parade verprügelt.

Amnesty International: Missionen und Bericht

Delegierte von Amnesty International besuchten Ungarn im Januar, Februar, März und November.

Violent attacks against Roma in Hungary: Time to investigate racial motivation (EUR 27/001/2010)

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