Aktuell Israel und besetzte Gebiete 29. Juli 2014

"In Gaza ist es nirgends sicher"

Dass u. a. auch Krankenwagen stark von den israelischen Angriffen betroffen sind zeigt, dass kein Ort in Gaza sicher ist.

Dass u. a. auch Krankenwagen stark von den israelischen Angriffen betroffen sind zeigt, dass kein Ort in Gaza sicher ist.

Interview mit einem/einer MenschenrechtsaktivistIn in Gaza

28. Juli 2014 - Heute Morgen beim Zähneputzen konnte ich das vertraute Surren einer Drohne hören, die über dem Haus kreiste. Ich ignorierte das Geräusch. Es kreisen ständig Drohnen über einem; man weiß nie, ob es sich dabei lediglich um eine Überwachungsmaßnahme handelt oder ob ein Raketenangriff bevorsteht. Die Ungewissheit führt dazu, dass man sich hilflos fühlt. Was kann man schon tun?

Fünf Minuten später schlug in der Nähe eine Rakete ein, die, so wie es sich anhörte, von einem F-16-Kampfjet abgefeuert worden war. Die Kinder kamen wegen des lauten Knalls zu mir gerannt. Sie drängten sich alle ins Badezimmer, auf der Suche nach Geborgenheit und Schutz. Sie sahen so verängstigt und blass aus, mit roten Augen wegen des fehlenden Schlafs. Ich gelte als jemand, der einen kühlen Kopf bewahrt, die Leute sagen, ich hätte Nerven aus Stahl, also lächelte ich sie wie immer einfach an – die Zahnbürste noch in der Hand. Die Erleichterung angesichts meines Lächelns ließ sie in Kichern ausbrechen; eine von diesen absurden Reaktionen, wie man sie in extremen Stresssituationen erlebt.

Alles in allem versuche ich, ihr Leben so alltäglich wie möglich zu gestalten. Wir reden nicht ständig über den Krieg und die Toten. Wir ergreifen angemessene Vorsichtsmaßnahmen, ohne jedoch zu übertreiben, und wir versuchen, keine Panik zu verbreiten. Wir rufen nicht jedes Mal "nach unten mit euch, nach unten!", sobald wir das Surren einer Drohne hören.

Meine Wohnung fühlt sich relativ sicher an, weil ich meine Nachbarn im Haus und aus der Umgebung kenne und weiß, dass darunter keine potenziellen Zielpersonen sind. Aber in Gaza ist es nirgends wirklich sicher. Das Leben ist gefährlich. Es ist Krieg. Wir vertrauen auf Gott und passen auf die Kinder auf.

Ich versuche, den Gegenden, in denen gekämpft wird, fern zu bleiben; das israelische Militär hat sie sowieso zu verbotenen Zonen erklärt. Kein Fahrzeug ist vor einem Angriff sicher. Erst neulich wurde ein eindeutig gekennzeichneter Krankenwagen bei einem Drohnenangriff zerstört.

Am gefährlichsten ist es für mich, wenn ich vor Ort bin, um Fotos zu machen und Leute in den Zielgebieten zu interviewen. Es ist gefährlich, wenn man das Gefühl hat, dass jedes Haus, in dem man sich befindet, Ziel des nächsten Angriffs sein könnte. Aber ich denke, meine Arbeit ist wichtig – trotz der Gefahr ist es wichtig, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Vergangene Woche hat mich der Fall der Familie Abu Jame im östlich gelegenen Khan Yunis bis ins Mark getroffen. 25 Angehörige einer Familie wurden bei einem Luftangriff der Israelis ausgelöscht, als sie gerade beim Iftar saßen, dem abendlichen Fastenbrechen im Ramadan. Ich war am nächsten Morgen vor Ort, nur wenige Stunden nach der Explosion. Die ganze Nacht haben sie gebraucht, um die Leichen zu bergen. So viele Kinder. Während ich dort war, ist in der Nähe eine weitere Rakete eingeschlagen.

Derzeit leben 29 Personen in meinem Haus. Meine Brüder leben normalerweise in Salatin im nördlichen Gazastreifen, wo die Israelis gerade ihre Bodenoffensive durchführen. Meine drei Brüder und ihre Familien mit jeweils sechs oder sieben Kindern und meine Kinder leben alle unter einem Dach. Ich lasse sie alle bei mir wohnen; das kann man niemandem verwehren, wenn Leben auf dem Spiel stehen.

Durch die israelische Bodenoffensive ist es unmöglich geworden, Lebensmittel aus den landwirtschaftlichen Regionen im Norden nach Gaza-Stadt zu schaffen. Die Hauptstraße Salah al-Din aus dem Süden, die den ganzen Gazastreifen durchzieht, ist äußerst exponiert und häufig Ziel von Drohnenangriffen. Derzeit wird sie nur von Krankenwagen und ein paar humanitären Fahrzeugen genutzt, und das unter großer Gefahr.

Der einzige noch funktionierende Markt ist der im Flüchtlingslager al-Shati. Er öffnet am Abend, und es herrscht dichtes Gedränge. Die MarktverkäuferInnen müssen ihr Leben riskieren, um frisches Gemüse zu bekommen. Das Gelände ist sehr eng, und wenn eine F-16 den Bereich bombardieren würde, würde von dem ganzen Camp nur ein Krater übrig bleiben. Die wenigen Geschäfte, die noch offen sind, haben kaum noch Waren im Angebot.

Es gibt jeden Tag etwa vier bis sechs Stunden Strom, zu den unterschiedlichsten Zeiten. Sobald die Stromversorgung funktioniert, beeilen sich alle, um ihre Mobiltelefone aufzuladen. Ein gebrauchter Stromgenerator kostet 1.400 Schekel [rund 300 Euro], und das können sich nur wenige leisten. Wir müssen das Wasser ohne Strom in die Speichertanks auf dem Dach pumpen – und dieses Wasser ist nur zum Waschen gedacht. Sauberes Wasser zum Kochen und Trinken müssen wir kaufen.

Ich habe einen Schreibtisch mit allem, was ich zum Arbeiten brauche – Computer, Ladegeräte, Internet, Kameras … aber keinen Strom. Ich habe gerade meinen alten Dieselgenerator wieder reparieren können und heute Treibstoff dafür bekommen. Das ist wichtig für mich, damit ich der Welt da draußen Zeugenberichte und Fotos senden kann, die ich zusammengetragen habe… Ich stehe unter großem Druck, um die Berichte aus Gaza herauszuschaffen, und deshalb sind Stromausfälle unglaublich frustrierend.

Dieser Text ist im Original im Amnesty-Blog erschienen www.livewire.amnesty.org

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