Amnesty Journal 27. September 2021

„Relevant wäre hier das Recht auf Leben“

Eine Frau mit knapp schulterlangem braunen Haar blickt freundlich in die Kamera; sie trägt ein helles Jacket und eine Bluse mit V-Ausschnitt.

Die Philosophin Annette Dufner ist Professorin für Ethik und Medizinethik an der Universität Bonn.

Wer soll gerettet werden, wenn medizinische Versorgung nicht für alle reicht? Die Philosophin Annette Dufner erläutert das Triage-Dilemma.

Interview: Lea De Gregorio

Wenn medizinische Hilfe knapp ist, stellt sich die Frage, wem geholfen werden soll. Gibt es dafür eine gerechte Lösung?

Ich glaube, dass alle Lösungen in einer solchen Situation unbefriedigend sind. Vermutlich besteht die gerechteste Lösung darin, dass man versucht, die größtmögliche Zahl an Personen zu retten, ohne dabei auf die noch zu erwartende Lebensdauer und Lebensqualität zu achten. Damit vermeidet man Diskriminierung.

Und wenn wegen mangelnder Kapazitäten eine Auswahl getroffen werden muss, ist es dann sinnvoll, nach dem individuellen Nutzen zu fragen?

Das ist insofern sinnvoll, als dass man diese sehr wertvolle Hilfe nicht an diejenigen geben möchte, die davon keinen oder nur einen sehr begrenzten Nutzen haben – und damit nicht an diejenigen, bei denen eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Behandlung nicht hilft. Schließlich möchte man keine kostbaren Ressourcen verschwenden.

Sie sagten, auf Lebensqualität oder Lebenslänge sollte nicht geachtet werden. Wie bemisst sich der Nutzen?

Ich würde darauf achten, ob die Person ernsthaft bedürftig ist. Und es geht um die Frage, ob die Notlage in einem signifikanten Zeitraum überstanden werden kann. Dabei soll nicht darauf geschaut werden, wieviel Lebenszeit genau die Person im Erfolgsfall noch vor sich hat. Das war auch die in Deutschland vorgeschlagene Lösung für eine etwaige Triage auf Intensivstationen in der Corona-Pandemie. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass sich damit Diskriminierung gegenüber Älteren und Personen mit bestimmten Beeinträchtigungen verhindern lässt. Anders sähe es bei einer utilitaristischen Lösung aus, die die Lebensdauer oder Lebensqualität des Einzelnen nach seinem Nutzen für das Gesamtkollektiv maximieren würde.

Sie sind also gegen einen utilitaristischen Vorschlag?

Ja. Die Lösung, die ich für die gerechteste halte, kann auch kontraktualistisch begründet werden. Das heißt: Man fragt, ob alle potenziell Bedürftigen zustimmen würden, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie noch nicht wissen, ob sie betroffen sein werden.

Und wenn man abwägen muss, sollte dann immer der Person geholfen werden, die am stärksten leidet?

Wenn dadurch nicht die Erfolgsaussicht der Behandlung zu gering wird. Das ist leider manchmal der Fall, zum Beispiel bei der Organverteilung. Im Eurotransplant-Verbund gibt es Organarten, bei denen fast nur auf die Dringlichkeit geachtet wird – wie zum Beispiel bei Lebertransplantationen. Da kann es prinzipiell passieren, dass Organe an Personen gehen, die so geringe Erfolgsaussichten haben, dass am Ende nur wenigen geholfen werden kann.

Angenommen, die erkrankten Personen haben alle ungefähr das gleiche Leiden, könnte man dann sagen, wer zuerst kommt mahlt zuerst, oder sollte man den Zufall entscheiden lassen?

In solchen Fällen wäre auch eine Lotterielösung gerecht – manche halten sie für die einzig gerechte. Das sehe ich nicht so. Denn obwohl ein Zufallsverfahren für sich genommen nicht ungerecht ist, kann es passieren, dass dadurch alle anderen Gerechtigkeitsprinzipien ignoriert werden und man Personen helfen würde, bei denen kaum Erfolgsaussichten bestehen.

Sind die Menschenrechte für solche Probleme eine Entscheidungshilfe?

Relevant wäre dabei das Recht auf Leben. Dazu ist zu sagen, dass es natürlich gut und wichtig ist, ein Recht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit zuzugestehen. Aber man muss sich fragen, ob es sich um ein Anspruchsrecht oder ein Abwehrrecht handelt. Ein Anspruchsrecht kann es schlecht sein, weil wir aus natürlichen Gründen mitunter krank werden und alle sterben. Insofern könnte in diesem Falle nur ein Abwehrrecht gelten: also das Recht, dass mich der Staat oder die Völkergemeinschaft vor vermeidbaren körperlichen Problemlagen schützt. Das bedeutet, dass jeder Staat und jede Völkergemeinschaft die Pflicht hat, allen gleichermaßen medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen.

Ist die Triage ein Problem der globalen Verteilungsgerechtigkeit?

Da gelten je nach Triage-Problem Unterschiede: In Bezug auf die Verteilung lebensrettender Spenderorgane ist der Organhandel ein Hauptproblem. In reicheren Ländern wird die Knappheit teilweise beseitigt, indem man die Nachfrage mit Organen aus ärmeren Ländern deckt. Bei der Corona-Pandemie geht es global um die Verteilung von Impfstoffen. Wenn man aber eine akute Triage-Situation in einem Krankenhaus hat, bringt eine globale Umverteilung nichts: Bis beatmungspflichtige Patient_innen aus Indien in ein reicheres Land transportiert sind, sind sie vielleicht schon tot.

Lea De Gregorio ist Redakteurin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Die Philosophin Annette Dufner ist Professorin für Ethik und Medizinethik an der Universität Bonn. Im Mai erschien ihr Buch "Welche Leben soll man retten? Eine Ethik für medizinische Hilfskonflikte" im Suhrkamp-Verlag.

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