Amnesty Journal 19. Juli 2010

Türkei: Ein Mord und seine Folgen

"Ich geh uns noch ein Eis holen", waren in einer heißen Julinacht 2008 die letzten Worte des Physikstudenten Ahmet Yildiz an seinen Lebenspartner Ibrahim Can. Kurz darauf waren Schüsse zu hören.

Es war gegen 23 Uhr im Stadtteil Üsküdar im asiatischen Teil von Istanbul. Ibrahim Can, Reiseverkehrskaufmann aus Köln, stürzte auf die Straße, Passanten eilten herbei. Auch Ümmühan Daraman, die im Café gegenüber gesessen hatte, versuchte zu helfen. Im Schock hatte sich noch gar nicht registriert, dass ein Querschläger ihre linke Ferse verletzt hatte. Aber Ahmet Yildiz starb am Tatort. Vier Kugeln hatten ihn in die Brust getroffen. Die Polizei hatte bald den mutmaßlichen Täter ermittelt: Yayha Yildiz, Ahmets Vater. Er lebt im Süden der Türkei, in Mersin. Aber sein Handy konnte zur Tatzeit in Üsküdar geortet werden. Seitdem ist er flüchtig.

Bereits im Februar 2008 war Ahmet Yildiz zusammen mit seinem Freund Ibrahim Can zur Polizei gegangen, um Anzeige wegen Morddrohungen durch seine Familie zu erstatten. Ein halbes Jahr zuvor hatte der Student sich gegenüber seiner Familie als schwul geoutet. Die Eltern versuchten, ihn zu einer Psychotherapie zu drängen. Mit dieser Auffassung stehen sie in der Türkei nicht allein. So behauptete Anfang März 2010 die türkische Familienministerin Selma Aliye Kavaf Homosexualität sei eine "biologische Abartigkeit, eine Krankheit".

Doch sollte man bei der Betrachtung des Falls nicht vorschnell der türkischen oder islamischen Kultur die Schuld geben. Homophobie ist ein globales Phänomen. Sie tritt aber momentan besonders gewalttätig in Gesellschaften auf, die große gesellschaftliche Umbrüche erleben, wie etwa in Russland. Die Gründe dafür sind komplex. Jeder Einzelfall verdient eine genaue Analyse der individuellen Beweggründe und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

In der Türkei gibt es zwar seit einiger Zeit eine aktive Bewegung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT). Aber nach der Durchsetzung fundamentaler Rechte für Frauen in den vergangenen 25 Jahren verstehen viele jede weitere Infragestellung der klassischen Familie als Angriff auf die Grundfesten der Gesellschaft. Erst 2004 wurden zentrale Forderungen der Frauenbewegung, wie etwa die Abschaffung von Strafnachlässen, wenn Gewalt gegen Frauen innerhalb der Familie verübt wird, gesetzlich verankert. Für Homo­sexuelle gilt diese diskriminierende Rechtspraxis immer noch. Auch der Mord an Ahmet drohte als ungelöster Fall in den Archiven der Staatsanwaltschaft zu verschwinden.

Doch Ümmühan Daraman, Ahmets Nachbarin, konnte eine Prozess­eröffnung erzwingen, weil sie bei dem Attentat verletzt worden war. Seit dem 4. September 2009 läuft nun in Abwesenheit der Prozess gegen Ahmets Vater. Ein Urteil ist noch nicht abzusehen, aber das Verfahren findet eine erstaunliche öffentliche Resonanz. Massen­medien berichten mit Sympathie über die Liebe von Ahmet und Ibrahim. Und Gesundheitsminister Recep Akdağ, der Mitglied derselben konservativ-islamischen Regierungspartei AKP ist wie Kavaf, widersprach seiner Kabinettskollegin öffentlich.

Sabine Küper ist freie Journalistin und lebt in Istanbul.

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