Amnesty Report Türkei 24. April 2024

Türkei 2023

Ein Mann redet auf mit Helmen und Schutzschilden ausgestattete Polizisten ein.

Protest für LGBTI-Rechte in der türkischen Stadt Istanbul am 25. Juni 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Oppositionspolitiker*innen und andere Personen waren weiterhin ungerechtfertigten Ermittlungen, strafrechtlicher Verfolgung und Verurteilungen ausgesetzt. Das Antiterrorgesetz und das Gesetz gegen Desinformationen wurden genutzt, um das Recht auf freie Meinungsäußerung zu beschneiden. Ebenso war das Recht auf friedliche Versammlung rechtswidrig eingeschränkt. Bei den Hilfsleistungen nach den Erdbeben vom Februar 2023 wurden die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht angemessen berücksichtigt. Gewalt gegen Frauen und Mädchen war noch immer weit verbreitet. Im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai kam es vermehrt zu diskriminierender und stigmatisierender Rhetorik gegen LGBTI+, Flüchtlinge und Migrant*innen. Die Türkei war weiterhin das Land, das weltweit am meisten Flüchtlinge beherbergte. Einigen von ihnen drohte die rechtswidrige Abschiebung. Staatsbedienstete wurden für Menschenrechtsverletzungen nach wie vor nicht zur Rechenschaft gezogen. Es wurden schwerwiegende und glaubwürdige Vorwürfe über Folter und anderweitige Misshandlungen erhoben. Millionen von in Armut lebenden Menschen profitierten von einem staatlichen Unterstützungsprogramm.

Hintergrund

Am 6. Februar 2023 kam es zu zwei verheerenden Erdbeben, die elf Provinzen und mehr als 15 Mio. Menschen im Südosten der Türkei betrafen. Gebäude und Infrastruktur wurden zerstört, Menschen verloren ihr Hab und Gut und mussten ihre Heimatorte verlassen. Laut Angaben des Innenministeriums kamen mindestens 50.000 Personen ums Leben, darunter auch 7.302 Flüchtlinge und Migrant*innen. Hunderttausende Menschen hatten weder eine Bleibe noch Zugang zu Nahrung, Wasser oder medizinischer Versorgung.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurde bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 zum dritten Mal ins Amt gewählt.

Am 1. Oktober 2023 kam es in der Hauptstadt Ankara zu einem Selbstmordattentat, bei dem zwei Polizisten verletzt wurden. Eine mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK verbundene Gruppe erklärte sich verantwortlich für den Bombenanschlag. Als Vergeltungsmaßnahme flog die Türkei am 5. und 6. Oktober Luftangriffe auf die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens. Dabei wurden elf Zivilpersonen getötet und lebenswichtige Infrastruktur zerstört.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Unmittelbar nach den Erdbeben im Februar 2023 schränkten die Behörden den Zugang zum Nachrichtendienst Twitter (seit Juli 2023 X) und zum Videoportal Tiktok ein. Mindestens 257 Menschen wurden inhaftiert, weil sie die Regierung in Bezug auf ihr Vorgehen nach den Erdbeben kritisiert hatten. Unter den Betroffenen befanden sich auch Journalist*innen sowie einige Personen, die lediglich aufgrund von Beiträgen in den Sozialen Medien in Haft genommen wurden.

Im Februar 2023 wurde der Journalist Sinan Aygül zu zehn Monaten Haft verurteilt. Er war 2022 als erste Person auf der Grundlage des neuen Straftatbestands der "Verbreitung von Desinformationen" in Untersuchungshaft genommen worden. Grund dafür war ein Post, den er über Twitter geteilt hatte und der unbestätigte Anschuldigungen über sexualisierten Missbrauch enthielt. Am 1. November 2023 wurde der Journalist Tolga Şardan für sechs Tage in Untersuchungshaft genommen. Er war aufgrund eines Artikels über Korruption innerhalb des türkischen Justizsystems ebenfalls der "Verbreitung von Desinformationen" beschuldigt worden.

Im Mai 2023 erhielt die Popsängerin Gülşen eine zehnmonatige Haftstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Sie war 2022 im Zusammenhang mit einem in den Sozialen Medien verbreiteten Video, das einen scherzhaften Dialog zwischen ihr und einem Bandmitglied zeigte, festgenommen und wegen "Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindschaft" angeklagt worden.

Das Verfahren wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" gegen 15 Journalist*innen, darunter den Ko-Vorsitzenden der Journalist*innenvereinigung Dicle Fırat, war noch nicht abgeschlossen. Im Juli 2023 wurden die Angeklagten nach 13 Monaten unter Auflagen aus der Untersuchungshaft in der Stadt Diyarbakır entlassen.

Im Juli 2023 wurden Sibel Yükler, Redakteurin des Nachrichtenportals T24, Delal Akyüz und Fırat Can Arslan, Reporter der Nachrichtenagentur Mezopotamya, sowie Evrim Kepenek, Redakteurin des Nachrichtenportals Bianet, und die freiberufliche Journalistin Evrim Deniz inhaftiert und unter dem Vorwurf angeklagt, sie hätten einen im Bereich der Terrorismusbekämpfung tätigen Staatsbediensteten "zur Zielscheibe gemacht." Grund für die Anklage waren Beiträge in den Sozialen Medien, in denen es um die Versetzung eines Staatsanwalts und einer Richterin ging, die miteinander verheiratet waren und beide mit dem Fall der 15 in Diyarbakır angeklagten Journalist*innen (siehe oben) befasst waren. Fırat Can Arslan wurde als erster Journalist wegen einer Anklage gemäß Paragraf 6 des Antiterrorgesetzes in Untersuchungshaft genommen. Nach seiner ersten Anhörung am 31. Oktober wurden die gegen ihn erhobenen Anklagen fallen gelassen, und der Journalist wurde auf freien Fuß gesetzt. 

Im September 2023 leitete der Oberstaatsanwalt von Ankara strafrechtliche Ermittlungen gegen Sezgin Tanrıkulu, einen Abgeordneten der Opposition, ein. Ihm wurde "Verunglimpfung der türkischen Nation" und "Anstiftung der Öffentlichkeit zu Hass oder Feindseligkeit" vorgeworfen, nachdem er sich während eines Fernsehauftritts kritisch über die türkischen Streitkräfte geäußert hatte.

Im September 2023 sagte der Bürgermeister der Stadt Antalya das 60. Antalya Golden Orange Film Festival ab und entließ den Leiter des Festivals. Zuvor hatte es Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Vorführung des Dokumentarfilms Kanun Hükmü (englischer Titel The Decree) gegeben. Der Film handelt von Angestellten im öffentlichen Dienst, die im Zuge der Massenentlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei 2016 ihre Jobs verloren hatten.

Recht auf friedliche Versammlung

Am 11. November 2023 durften Vertreter*innen der Samstagsmütter/-leute, einer Gruppe von Angehörigen von Opfern des Verschwindenlassens und anderen Menschenrechtsverteidiger*innen, nach über fünf Jahren Verbot eine kurze Erklärung in der Nähe des Galatasaray-Platzes in Istanbul verlesen, der für die Gruppe große Symbolkraft besitzt. Dies war zwar eine positive Entwicklung, mit diesem Schritt wurden jedoch Urteile des Verfassungsgerichts noch nicht hinreichend umgesetzt, die festgestellt hatten, dass die Verbote das Recht der Gruppe auf Versammlungsfreiheit verletzten. Zwischen April und November 2023 hatte die Polizei trotz der Gerichtsentscheidungen weiter rechtswidrige Gewalt eingesetzt, um die Proteste aufzulösen und Teilnehmende festzunehmen.

Trotz pauschaler Verbote in mindestens sechs Provinzen und vier Landkreisen fand eine Reihe von friedlichen Pride-Märschen statt. Mindestens 224 Menschen wurden während der Veranstaltungen willkürlich festgenommen, darunter Unbeteiligte, Minderjährige, Rechtsbeistände, Journalist*innen, Studierende, Menschenrechtsverteidiger*innen und ausländische Staatsangehörige.

Am 20. Juli 2023 verhinderten Ordnungskräfte mehrere Gedenkfeiern anlässlich des Jahrestags des Bombenanschlags in Suruç. In der Stadt im Südosten des Landes waren 2015 insgesamt 33 Menschen bei einem Anschlag der bewaffnete Gruppe Islamischer Staat getötet worden. Mindestens 187 Protestierende wurden in den Städten Istanbul, Izmir und Ankara willkürlich festgenommen. In Istanbul kesselten die Behörden Protestierende unter Einsatz von Pfefferspray, Plastikgeschossen und rechtswidriger Gewalt ein. 

Zwischen Juli und September 2023 setzte die Polizei immer wieder rechtswidrige Gewalt, Wasserwerfer und Pfefferspray gegen Umweltschützer*innen ein, die sich gegen die Abholzung Tausender Bäume für den Ausbau eines Kohlebergwerks im Akbelen-Wald in der Provinz Muğla einsetzten. Mindestens 50 Aktivist*innen wurden inhaftiert und zu einem späteren Zeitpunkt wieder freigelassen. Einigen wurden Reisebeschränkungen auferlegt, und dreien wurde es verboten, den Landkreis Milas in der Provinz Muğla zu betreten. 

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Türkei stand noch immer auf der "grauen Liste" der Financial Action Task Force, des wichtigsten internationalen Gremiums zur Bekämpfung und Verhinderung von Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Proliferationsfinanzierung. Deren Empfehlungen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung wurden in der Türkei weiterhin als Vorwand genutzt, um NGOs zu schikanieren. Die Behörden verstärkten die unverhältnismäßige Überprüfung von NGOs unter Berufung auf das Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung von Massenvernichtungswaffen.

Im September 2023 wies ein Gericht eine Klage ab, mit der die Auflösung von Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu gefordert worden war. Der NGO, die sich gegen Femizide einsetzt, war vorgeworfen worden, "unter dem Deckmantel des Schutzes der Frauenrechte illegale und unmoralische Aktivitäten zur Schädigung der türkischen Familienstruktur" betrieben zu haben. 

Das Verfahren gegen mindestens 15 Mitglieder, Beschäftigte und Vorstandsmitglieder der Organisation Göç İzleme Derneği (GÖÇ-İZDER) wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" lief Ende des Jahres noch. Gleiches galt für das Verfahren zur Auflösung der Organisation, die sich für die Rechte von Migrant*innen und insbesondere für Opfer von erzwungener Migration einsetzte. Man warf GÖÇ-İZDER vor, "entsprechend den Zielen und Absichten einer bewaffneten terroristischen Gruppe zu handeln".

Ein Verfahren aus dem Jahr 2021 über ein Verbot der zweitgrößten Oppositionspartei, der Demokratischen Volkspartei (HDP), und ein fünfjähriges Politikverbot für 451 ihrer ehemaligen und aktuellen Mitglieder, war Ende 2023 noch anhängig. 

Im November 2023 enthob ein Zivilgericht in Ankara elf Mitglieder des Vorstands der türkischen Ärzt*innenkammer ihrer Ämter. Ihnen wurden Aktivitäten "außerhalb der originären Ziele des Verbands" vorgeworfen. Ein gegen diese Entscheidung eingelegtes Rechtsmittel war zum Ende des Jahres noch anhängig.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Im Januar 2023 wurde Şebnem Korur Fincancı schuldig gesprochen, "Werbung für eine terroristische Organisation" betrieben zu haben, und zu 32 Monaten Haft verurteilt. Grund dafür war ihre Forderung nach unabhängigen Untersuchungen zum mutmaßlichen Chemiewaffeneinsatz in der irakischen Region Kurdistan im Jahr 2022. Die Vorsitzende der türkischen Ärzt*innenkammer wurde für die Dauer des Berufungsverfahrens freigelassen.

Im Juni 2023 hob das Gericht Nr. 35 für schwere Strafsachen in Istanbul die Verurteilung von Özlem Dalkıran, Idil Eser, Taner Kılıç und Günal Kurşun "aus Mangel an Beweisen" auf. Die vier Menschenrechtler*innen waren 2020 nach einem langjährigen Gerichtsverfahren, das als Büyükada-Verfahren bekannt war, schuldig gesprochen worden. In einer vorherigen Entscheidung hatte bereits das Kassationsgericht die Verurteilungen aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft legte ein Rechtsmittel gegen den Freispruch von Taner Kılıç ein, das zum Ende des Jahres noch anhängig war.

Die türkischen Gerichte setzten die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Osman Kavala und Selahattin Demirtaş auch 2023 nicht um, obwohl der Europarat im Februar 2022 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei eingeleitet hatte, weil sie die Freilassung von Osman Kavala verweigerte. Zudem bestätigte das Oberste Berufungsgericht der Türkei im September 2023 die lebenslange Haftstrafe gegen Osman Kavala und die 18-jährigen Freiheitsstrafen gegen Çiğdem Mater, Can Atalay, Mine Özerden und Tayfun Kahraman, obwohl seitens der Strafverfolgungsbehörden noch immer keine Beweise für die gegen sie erhobenen Vorwürfe vorgelegt worden waren. Die Urteile waren im Wiederaufnahmeverfahren des Gezi-Park-Prozesses gegen die Angeklagten ergangen. Die Verurteilungen von drei weiteren Angeklagten in diesem Prozess, Mücella Yapıcı, Hakan Altınay und Yiğit Ali Ekmekçi, wurden hingegen aufgehoben.

Can Atalay, der 2022 im Zusammenhang mit den Protesten im Gezi-Park inhaftiert worden war, wurde bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 als Abgeordneter für die südliche Provinz Hatay gewählt. Im Juli wies das Kassationsgericht ein von ihm eingereichtes Gesuch auf Haftentlassung jedoch ab. Sowohl in einer Entscheidung vom Oktober 2023 als auch in einer weiteren vom Dezember 2023 urteilte das türkische Verfassungsgericht, dass seine anhaltende Inhaftierung eine Verletzung seiner Rechte darstelle. Das Kassationsgericht weigerte sich jedoch, die verbindlichen Entscheidungen des Verfassungsgerichts umzusetzen, und warf stattdessen den Richtern des Verfassungsgerichts vor, mit ihrem Urteil "rechtswidrig gehandelt zu haben". 

Im August 2023 musste Celalettin Can eine 15-monatige Haftstrafe antreten. Er war im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an einer Solidaritätskampagne für die inzwischen verbotene prokurdische Tageszeitung Özgür Gündem im Jahr 2016 verurteilt worden. Am 19. Dezember 2023 kam Celalettin Can unter Auflagen wieder frei.

Menschen mit Behinderungen

Menschen mit Behinderungen litten unverhältnismäßig stark unter den Folgen der Erdbeben im Februar 2023 und den Bedingungen in den daraufhin eingerichteten Notunterkünften. Bei der Verteilung von Nahrungsmitteln, Wasser und anderen Hilfsgütern wurden ihre Rechte und besonderen Bedürfnisse nicht angemessen berücksichtigt. Menschen mit Behinderungen hatten Probleme, Prothesen und Hilfsgeräte in angemessener Qualität zu bekommen. Amtlichen Angaben zufolge war damit zu rechnen, dass 70 Prozent der 100.000 Menschen, die im Zusammenhang mit dem Erdbeben Verletzungen erlitten hatten, eine dauerhafte Behinderung zurückbehalten würden.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Im Jahr 2023 begingen laut der türkischen Frauenrechtsorganisation Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu Männer Femizide an 315 Frauen248 weitere Frauen wurden laut der NGO unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden. 

Der Staatsrat, das höchste Verwaltungsgericht der Türkei, befasste sich weiter mit Anträgen von Frauenrechtsorganisationen, die forderten, dass der Beschluss des Präsidenten aus dem Jahr 2021 über den Austritt aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) für nichtig erklärt werden solle. Bis zum Ende des Jahres hatte der Staatsrat noch keine Entscheidung verkündet.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Aus Angst um ihre Sicherheit verzichteten viele lesbische, schwule, bisexuelle, trans- oder intergeschlechtliche Menschen nach den Erdbeben darauf, Notunterkünfte aufzusuchen oder medizinische Versorgung und andere Hilfsangebote anzunehmen.

LGBTI+ waren diskriminierender und stigmatisierender Rhetorik ausgesetzt, die im Vorfeld der Wahlen im Mai 2023 noch zunahm. Im Mai erklärte der Präsident: "LGBT ist ein Gift, das der Institution der Familie injiziert wurde. Wir können dieses Gift nicht akzeptieren, vor allem nicht in einem Land, in dem 99 Prozent der Menschen Muslime sind."

Wie bereits 2022 unterstützte die türkische Rundfunkaufsichtsbehörde RTÜK im September 2023 erneut einen Werbespot, in dem für eine Demonstration gegen die Rechte von LGBTI+ in Istanbul geworben wurde. Bei der Demonstration wurde gegen angebliche "LGBTI-Propaganda" protestiert. 

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Syrische Flüchtlinge erlebten nach den Erdbeben vom Februar 2023 rassistisch motivierte Gewalt und/oder verbale Schikane in Form von Hassrede. Verantwortlich für diese Übergriffe waren sowohl Zivilpersonen als auch staatliche Akteur*innen. Um Platz für türkische Staatsangehörige zu schaffen, die infolge der Erdbeben obdachlos geworden waren, mussten syrische Flüchtlinge ihre Notunterkünfte verlassen.

Vor den Präsidentschaftswahlen im Mai griffen Spitzenkandidat*innen immer wieder zu rassistischer und flüchtlingsfeindlicher Rhetorik.

Flüchtlinge in der Türkei waren weiterhin in Gefahr, rechtswidrig und unter Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement) in Länder wie Syrien oder Afghanistan abgeschoben zu werden. Das Innenministerium gab an, dass in den ersten zehn Monaten des Jahres 28.734 Afghan*innen in ihr Herkunftsland abgeschoben worden waren.

Die Generaldirektion für Migrationsverwaltung kündigte die Schaffung von "Mobilen Migrationsstellen" in 30 Städten an. An diesen Kontrollpunkten sollen Ordnungskräfte und geschultes Personal der Migrationsverwaltung Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltsstatus mithilfe von Personenkontrollen und dem Abgleich von Fingerabdrücken ausfindig machen.

Straflosigkeit

Im Januar 2023 sprach das Gericht Nr. 7 für schwere Strafsachen den Polizisten frei, der 2017 Kemal Kurkut erschossen hatte, als dieser einen Bereich in Diyarbakır betreten wollte, in dem Feierlichkeiten anlässlich des Neujahrs- und Frühlingsfests Nouruz stattfanden.

Im Mai 2023 wurden 19 Männer in Ankara freigesprochen, denen vorgeworfen worden war, zwischen 1993 und 1996 "im Rahmen der Aktivitäten einer bewaffneten Organisation, die mit dem Ziel gegründet wurde, Straftaten zu begehen" für Fälle des Verschwindenlassens oder außergerichtliche Hinrichtungen verantwortlich gewesen zu sein.

Der Prozess gegen drei Polizisten und ein mutmaßliches PKK-Mitglied, denen die Tötung des Menschenrechtsanwalts Tahir Elçi im Jahr 2015 vorgeworfen wurde, war Ende 2023 noch nicht abgeschlossen.

Folter und andere Misshandlungen

Personen, die unter dem Vorwurf der Teilnahme an Plünderungen nach den Erdbeben festgenommen worden waren, wurden in Polizeihaft gefoltert und anderweitig misshandelt. Mindestens eine Person starb in Gewahrsam an den Folgen der erlittenen Folter. Am 15. Februar 2023 wurden in Verbindung mit dem Vorfall drei Gendarmen vom Dienst suspendiert.

Im Juni 2023 setzten Ordnungskräfte nach der Auflösung der Trans-Pride-Parade in Istanbul bei der Festnahme von mindestens fünf Teilnehmenden rechtswidrige Gewalt ein, die Folter oder anderer Misshandlung gleichkam.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

In der Türkei stiegen die Lebenshaltungskosten 2023 immer weiter an. Im Oktober lag die Nahrungsmittelinflation bei über 72 Prozent, und die allgemeine Inflationsrate betrug Ende des Jahres mehr als 64 Prozent. Im Juli 2023 waren 3,7 Mio. Haushalte, die in Armut lebten, zur Teilnahme an einem staatlichen Unterstützungsprogramm für Familien berechtigt. 

Recht auf eine gesunde Umwelt

In der Türkei waren auch 2023 die Folgen des Klimawandels zu spüren. So erlebte das Land Dürre und extreme Hitze und verzeichnete im August mit 49,5 °C einen Temperaturrekord. Der Energiesektor des Landes blieb weiterhin stark von Erdöl-, Kohle- und Erdgasimporten abhängig. Im April 2023 übermittelte die Türkei ihren aktualisierten nationalen Klimaschutzbeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC). Darin waren eine Senkung der Treibhausgasemissionen von 41 Prozent bis 2030 und das Erreichen von Netto-Null-Emissionen bis 2053 als Ziele festgeschrieben. Laut dem unabhängigen internationalen Analysetool Climate Action Tracker würde der neue Klimaschutzbeitrag jedoch nicht zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels führen und sogar einen Anstieg der Emissionen zur Folge haben. Die Türkei votierte gegen die Aufnahme einer Verpflichtung zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen in den Abschlusstext der 28. UN-Klimakonferenz (COP28). Zwar enthielt der Nationale Energieplan der Türkei Vorgaben zum Ausbau erneuerbarer Energien, es fehlte jedoch ein Fahrplan zur Umsetzung. Zudem sah der Plan statt eines Ausstiegs aus der Kohle deren verstärkte Nutzung vor.

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