Amnesty 28. Mai 2011

Den Dingen auf den Grund gehen

Rovera vor den Überresten eines von der israelischen Armee zerstörten Hauses

Rovera vor den Überresten eines von der israelischen Armee zerstörten Hauses

Es war wahrlich keine besondere Ehre, die Donatella Rovera 1994 zuteil wurde: Die Italienerin war die erste Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, gegen die Tunesien ein Einreiseverbot verhängte – auf unbestimmte Zeit. "Wahrscheinlich hat ihnen nicht gefallen, was ich geschrieben habe", erzählt Rovera heute mit einem Lachen.

Dass Staaten nicht mögen, was sie veröffentlicht – damit kann sie sehr gut leben, es ist gewissermaßen ihr Job. Denn Rovera ist eine von 80 sogenannten "Länder-Researcherinnen und -Researchern" in der internationalen Zentrale von Amnesty International in London. Jedes Jahr unternehmen sie 120 Ermittlungsreisen in 80 Länder oder Regionen der Welt, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Sie sprechen mit Betroffenen und deren Angehörigen, mit Anwältinnen und Anwälten, Ärztinnen und Ärzten und Vertreterinnen und Vertretern der Regierung und der Zivilgesellschaft, manchmal auch mit den Täterinnen und Tätern. Ihre Informationen werden in Berichten oder Pressemitteilungen veröffentlicht und dienen als Grundlage für Kampagnen und Lobbyarbeit. "Undercover-Einsätze" gibt es dabei nicht: Die Organisation informiert stets die Behörden, bevor sie einreist.

Seit Oktober 1990 arbeitet Donatella Rovera für Amnesty. Anfangs war sie für Marokko, Algerien und Tunesien zuständig, später unter anderem für Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete. Wenn Rovera in ein Land fährt, dann niemals "kalt", wie sie es nennt. Alles ist genau vorbereitet. "Auch wenn wir in London sind, beschäftigen wir uns ja jeden Tag mit dem Land und können auf ein großes Netzwerk zurückgreifen, das wir aufgebaut haben", erzählt die Researcherin. Sie steht in ständigem Kontakt mit Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivsten, Journalistinne und Journalisten sowie mit lokalen NGOs.

Bei einer Mission geht es ihr vor allem darum, Informationen aus erster Hand zu erhalten. Dabei steht nicht die Menge der Information im Mittelpunkt, sondern die Qualität: "Die eigentliche Ermittlungsarbeit ist nicht das Informationen sammeln, sondern diese Aussage zu verifizieren." Rovera macht im Grunde das, was auch Polizistinnen und Polizisten tun: "Beweise und Belege finden und die Aussagen gegenchecken." Das könne auch schon mal bedeuten, zwei Stunden zu fahren und ein Loch zu graben, um nach Munitionsresten zu suchen. "22 Leute können dir dieselbe Information geben, und sie kann trotzdem totaler Müll sein, weil sie falsch ist." Veröffentlicht wird später nur, was auch belegt werden kann.

Bei ihrer Arbeit ist der Italienerin vor allem eines sehr wichtig: "Wir machen den Menschen, mit denen wir reden, sehr deutlich, was Amnesty tun kann, und was nicht." Es sei leicht, etwas zu versprechen, und dann zu gehen. "Aber das ist ethisch nicht zu verantworten."

Die Ereignisse und Geschichten, mit denen Rovera konfrontiert wird, sind manchmal schwer zu ertragen. "Doch meine Batterien werden immer wieder aufgeladen, wenn ich sehe, wie Betroffene, die erst hilflos sind, die Stärke finden, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und sich zu wehren." Denn auch darum geht es bei den Missionen: den Opfern von Menschenrechtsverletzungen zu zeigen, wie sie selbst ihre Situation verbessern können, beispielsweise, indem sie Anzeigen erstatten oder sich vernetzen und nicht nur für sich, sondern auch für andere kämpfen.

Roveras Arbeit macht einen Unterschied, wenn auch nicht so oft, wie sie es sich wünscht. Doch wenn sie erfährt, dass eine Zwangsräumung abgewendet odereine Täterin oder ein Täter verurteilt wurde, gibt ihr das neue Motivation. Mit Genugtuung hat sie zur Kenntnis genommen, dass der tunesische Präsident Ben Ali im Januar 2011 das Land nach Massenprotesten verlassen musste. Donatella Rovera wird dem Land in naher Zukunft einen Besuch abstatten –­ und sicherlich nicht als normale Touristin.

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