Frauenrechtlerin bedroht

Eine Frau steht mit vier Kindern vor einem brüchigen Haus

Eine Familie in Village Grâce de Dieu, im Vorort Canaan der haitianischen Hauptstadt Port-Au-Prince

In Haiti ist die Frauenrechtlerin Sanièce Petit Phat mit dem Tode bedroht worden. Sie geriet wegen ihres Einsatzes für die Opfer von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Canaan, einem Vorort von Port-au-Prince, ins Visier.

Appell an

Justizminister

Maître Heidi Fortuné     

Ministre de la Justice et de la Sécurité Publique

18, Avenue Charles Summer

Port-au-Prince, HAITI

Sende eine Kopie an

First lady von Haiti

Madame Martine Moïse           

E-Mail: martine@jovenelmoise.ht


Twitter: @martinejmoise

Botschaft der Republik Haiti

Herrn Jean Bony Alexandre

Uhlandstraße 14

10623 Berlin

Fax: 030-8862 4279

E-Mail: amb.allemagne@diplomatie.ht

NGO GARR

69, Rue Christ-Roi,

P.O. Box: 19273

Port-au-Prince, Haïti

E-Mail: admin@garr-haiti.org

Amnesty fordert:

  • Ergreifen Sie bitte umgehend und in Absprache mit Sanièce Petit Phat und anderen MOFALAK-Mitgliedern entsprechend ihren Wünschen angemessene und wirksame Maßnahmen zu ihrem Schutz.
  • Leiten Sie bitte eine gründliche und unparteiische Untersuchung des Angriffs auf Raymond Charité, der Einschüchterungsversuche und Morddrohungen gegen Sanièce Petit Phat sowie der Vorwürfe häuslicher Gewalt gegen den Nachbarn von Sanièce Petit Phat ein, veröffentlichen Sie die Ergebnisse und stellen Sie die Verantwortlichen vor Gericht.
  • Sorgen Sie bitte für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen in Canaan, insbesondere für die schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen wie z. B. Frauen und Mädchen.
  • Erkennen Sie bitte öffentlich die Legitimität der Arbeit von Menschenrechtler_innen an, und insbesondere ihr Recht, diese Arbeit ohne Furcht vor Einschränkungen oder Vergeltungsmaßnahmen zu verrichten, wie es die UN-Erklärung über Menschenrechtsverteidiger_innen von 1998 vorsieht.

Sachlage

Sanièce Petit Phat ist Koordinatorin der Frauenrechtsorganisation Mouvman Fanm Lakay an Aksyon ("Frauenbewegung in Aktion"; MOFALAK). Die Organisation engagiert sich gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen und ist in Canaan tätig, einem Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince. Canaan ist im Zuge des verheerenden Erdbebens von 2010 entstanden, das weite Teile von Port-au-Prince zerstört hatte.

Im Juli 2016 berichtete Sanièce Petit Phat, dass sie und ihre Familie von einem Nachbarn eingeschüchtert und mit dem Tode bedroht worden seien. Er drohte insbesondere damit, ihre beiden Kinder umzubringen. Dem Nachbarn wird häusliche Gewalt gegen seine Frau vorgeworfen und er war offenbar besorgt, dass MOFALAK ihn bei den Behörden anzeigen würde. Sanièce Petit Phat sagte Amnesty International, dass der Mann sich durch die Arbeit der Organisation bedroht fühle.

Am 11. Oktober 2017 griff dieser Nachbar Raymond Charité, den Neffen von Sanièce Petit Phat, mit einem spitzen Gegenstand an. Raymond Charité wohnt bei Sanièce Petit Phat, der Vorfall ereignete sich jedoch an seinem Arbeitsplatz. Er trug Verletzungen davon, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. Laut Angaben von Raymond Charité sagte sein Angreifer, dass er erst dann von gewaltsamen Angriffen absehen würde, wenn Sanièce Petit Phat und ihre Familie die Gegend verlassen.

Sanièce Petit Phat zeigte den Nachbarn wegen des Angriffs auf ihren Neffen an, der daraufhin am 17. Oktober von der Polizei festgenommen wurde. Am 26. Oktober entschied die Staatsanwaltschaft von Croix-des-Bouquets jedoch, ihn wieder freizulassen. Die Gründe für seine Freilassung sind nicht bekannt und Sanièce Petit Phat fürchtet nun um ihr Leben und um die Sicherheit ihrer Familie. Sie geht tagsüber nicht mehr aus dem Haus und übernachtet jede Nacht woanders.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Fälle von sexualisierter Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Mädchen sind in Haiti nach wie vor weit verbreitet und werden nur in den wenigsten Fällen zur Anzeige gebracht. Zumeist gehen die Verantwortlichen straffrei aus, da im Strafjustizsystem eine Kultur der Straflosigkeit herrscht. MOFALAK unterstützt Frauen und Mädchen, die Überlebende verschiedener Formen von Gewalt sind, einschließlich "körperlicher, seelischer, verbaler und wirtschaftlicher Gewalt". Die Organisation verurteilt diese Formen von Gewalt regelmäßig öffentlich in den Medien oder bei den Behörden. MOFALAK organisiert zudem Sensibilisierungsprogramme zu Frauenrechten und engagiert sich für eine stärkere politische und wirtschaftliche Teilhabe von Frauen und Mädchen in der haitianischen Gesellschaft.

Im April 2017 legte die Regierung dem Parlament einen umfassenden Reformvorschlag des Strafgesetzbuches vor, der neue Bestimmungen enthielt, um besser gegen sexualisierte Gewalt vorgehen zu können, z. B. indem Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand eingeführt wird.

Anfang 2017 erklärte die NGO Ärzte ohne Grenzen, dass 77 % der Frauen und Mädchen, die zwischen Mai 2015 und März 2017 in ihrer Spezialklinik in Port-au-Prince wegen sexualisierter oder geschlechtsspezifischer Gewalt behandelt wurden, jünger als 25 waren. 53 % waren jünger als 18, was aufzeigt, wie gefährdet Mädchen und junge Frauen sind.

Für Menschenrechtsverteidiger_innen in Haiti ist es schwierig, ihrer Arbeit nachzugehen. Amnesty International hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Angriffe, Drohungen und Fälle von Drangsalierungen gegen Menschenrechtsverteidiger_innen dokumentiert. Betroffen sind auch Rechtsanwält_innen, die allem Anschein nach häufig im Zusammenhang mit ihrer Menschenrechtsarbeit ins Visier genommen wurden. In den meisten dieser Fälle haben die Behörden keine umgehende und umfassende Untersuchung durchgeführt. Darüber hinaus haben die Behörden keine wirksamen Schutzmaßnahmen ergriffen, um Menschenrechtsverteidiger_innen in die Lage zu versetzen, ihre Tätigkeit ohne Angst vor Vergeltungsschlägen auszuüben, obwohl dies von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission mehrfach angeordnet wurde.

Im März 2017 startete Amnesty International eine Urgent Action für die Menschenrechtler David Boniface und Juders Ysemé, die nach dem plötzlichen Tod ihres Kollegen Nissage Martyr um ihr Leben fürchteten. 2015 hatte die Interamerikanische Menschenrechtskommission den drei Männern und ihren Familien Schutzmaßnahmen gewährt, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Diese Maßnahmen wurden von den haitianischen Behörden jedoch nach Kenntnis von Amnesty International bis heute nicht umgesetzt. David Boniface und Juders Ysemé hatten seit 2007 über wiederholte Todesdrohungen durch den ehemaligen Bürgermeister ihrer Heimatstadt Les Irois im Südwesten von Haiti berichtet. Weitere Informationen finden Sie in UA-087/2017, online unter: https://www.amnesty.de/urgent-action/ua-087-2017/menschenrechtler-gefahr.

Amnesty International hatte bereits 2007 eine Urgent Action für Sanièce Petit Phat gestartet. Damals war sie mit dem Tode bedroht worden, weil sie einem Vergewaltigungsopfer in Savanette nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik beigestanden war.