Guatemala: Friedlich Protestierende in Gefahr

Das Foto zeigt eine große Gruppe Demonstrierender bei Nacht auf einer Straße. Einige von ihnen schwenken die Flagge Guatemalas.

Protest in Guatemala-Stadt gegen den Versuch der alten Regierung, trotz Wahlniederlage an der Macht zu bleiben (6. Oktober 2023).

Guatemalas oberste Wahlbehörde bestätigte zwar den Wahlsieg des Antikorruptionskandidaten Bernardo Arévalo, doch seine Partei wurde suspendiert. Seitdem fordern Tausende in landesweiten Protesten, dass die regierenden Kräfte den Weg für den neu gewählten Präsidenten freimachen. Sie fordern den Rücktritt der Generalstaatsanwältin und anderer Mitglieder der Staatsanwaltschaft, die mit Strafverfahren versuchen, gegen zentrale Akteur*innen der jüngsten Wahl vorzugehen. Die Regierung und das Verfassungsgericht haben Entscheidungen getroffen, die das Recht auf friedlichen Protest gefährden und zur Anwendung von Gewalt gegen Demonstrierende führen könnten. Amnesty International fordert die guatemaltekischen Behörden auf, das Recht auf friedliche Versammlung zu garantieren.

Appell an

Mr Alejandro Giammattei

Private Secretary of the Presidency


6xta avenida 4-41, zona 1

Ciudad de Guatemala

GUATEMALA

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Guatemala

S.E. Herrn Jorge Alfredo Lemcke Arevalo


Kaiserdamm 20

14057 Berlin

Fax: (030) 206 436 59

E-Mail: sekretariat@botschaft-guatemala.de

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie auf, das Recht auf friedliche Versammlung zu respektieren. Den Menschen in Guatemala muss garantiert werden, dass sie an den Protesten teilnehmen können, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Insbesondere fordere ich Sie auf, dafür zu sorgen, dass die guatemaltekischen Behörden von der Anwendung des Strafrechts, der übermäßigen Anwendung von Gewalt gegen Demonstrierende oder anderen unrechtmäßigen Maßnahmen zur Einschränkung friedlicher Proteste absehen.

Sachlage

Die landesweiten Proteste in Guatemala wurden am 2. Oktober von mehreren indigenen Organisationen ausgerufen. Seitdem haben sich verschiedene Gruppen aus der Zivilgesellschaft angeschlossen. Doch die Situation Tausender Menschen, die an den breiten friedlichen Protesten teilgenommen haben, gibt Anlass zur Sorge. In verschiedenen Erklärungen – u. a. des noch amtierenden Präsidenten – vom 9. Oktober heißt es, dass errichtete Blockaden "illegal" seien und verschiedene Gegenmaßnahmen gegen diejenigen eingeleitet werden, die an den Protesten teilnehmen, dazu aufrufen oder diese unterstützen. Unter anderem wurden Haftbefehle angedroht. Diese Erklärungen stellen eine Bedrohung für die Rechte auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung dar. Sie stigmatisieren Demonstrierende, ignorieren die friedlichen Proteste indigener Gruppen und drohen denjenigen, die an den Protesten teilnehmen oder diese unterstützen, mit Repressalien.

Staaten haben die Verpflichtung, die Wahrnehmung des Rechts auf friedliche Versammlung in Gesetz und Praxis zu garantieren. Einschränkungen dieses Rechts, z. B. durch die Anwendung von Gewalt, sind durch das Völkerrecht streng geregelt und sollten nur in Ausnahmefällen erfolgen. Die ergriffenen Maßnahmen müssen notwendig und verhältnismäßig sein und dürfen die Ausübung des Rechts nur so wenig wie möglich beeinträchtigen. Die Staaten sind verpflichtet, ein Umfeld zu schaffen, das die Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung ohne Diskriminierung fördert. Das gilt insbesondere für Angehörige von Gruppen, die Diskriminierung erfahren oder erfahren haben. Das Völkerrecht sieht außerdem vor, dass niemand wegen der Teilnahme an einer friedlichen Versammlung drangsaliert oder anderweitig verfolgt werden darf. Auch die Störung des Fahrzeug- oder Fußgängerverkehrs sowie anderer Alltagsaktivitäten stellt nach dem Völkerrecht keine "Gewalt" dar.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 2. Oktober 2023 riefen mehrere indigene Behörden, Gruppen und Autoritäten zu massiven Protesten auf. Darunter die Bewegung der 48 Kantone von Totonicapán ("48 cantones"), die indigenen Gemeindeverwaltungen von Sololá und Santa Lucía Utatlán, mehrere Gemeinden von San Cristóbal Totonicapán, das Xinka-Parlament, die Gemeinschaft der Ixil und weitere indigene Gemeinschaften. Zuvor hatte Bernardo Arévalo die Stichwahl um das Präsidentenamt am 20. August mit deutlicher Mehrheit gewonnen. Doch die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt gegen seine Mitte-Links-Partei Movimiento Semilla (Bewegung Saatkorn) und die Oberste Wahlbehörde. Nach Ansicht der Demonstrierenden ist dies ein Versuch, den Einzug von Bernardo Arévalo in das Präsidentenamt zu verhindern, der turnusgemäß am 14. Januar ansteht. Die Demonstrationen wurden rasch von Studiernden mehrerer Universitäten sowie zahlreichen anderen Bevölkerungsgruppen im ganzen Land unterstützt. Sie alle fordern den Rücktritt der Generalstaatsanwältin und weiterer Staatsanwält*innen, die für die eingeleiteten Strafverfahren verantwortlich sind. Nach Informationen von Amnesty International verlaufen die Demonstrationen, zu denen auch Straßenblockaden in verschiedenen Teilen des Landes gehören, friedlich. In der Regel ermöglichen die Teilnehmenden eine ungehinderte Durchfahrt von Krankenwagen und verderblichen Gütern.

Am 9. Oktober erklärte der noch amtierende Präsident der Republik jedoch, dass die Blockaden "illegal" seien, wobei er auf angebliche Engpässe, die "Entführung" eines mit Sauerstoff beladenen Lastwagens und Schäden für die Wirtschaft des Landes verwies. Außerdem spielte er auf angebliche Gewalttaten an (von denen er mehrere vermeintlich radikalen Gruppen oder Infiltratoren zuschrieb) und sagte, dass die Aufrufe zu Blockaden "die demokratische Ordnung gefährden". Der Präsident stigmatisierte die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen, die die Proteste unterstützt haben. Er kündigte Haftbefehle gegen Studierende und ausländische Personen an, die an den Protesten teilgenommen und/oder die Organisator*innen beraten haben. Es würden alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um die Normalität wiederherzustellen.

Am selben Tag erstattete eine Gruppe, die sich aktiv für die Kriminalisierung von Justizmitarbeiter*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen einsetzt, Strafanzeige gegen den Vorsitzenden der "48 cantones". Außerdem wurden an mehreren Orten massive Polizeiaufgebote sowie schwer bewaffnete Personen beobachtet, die ein Einkaufszentrum in Guatemala-Stadt bewachten.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hob auf einer außerordentlichen Sitzung des Ständigen Rates am 10. Oktober den friedlichen Charakter der Proteste hervor. Sie verurteilte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft als Versuch, die Demokratie in Guatemala zu untergraben. Dem schlossen sich der Generalsekretär der Vereinten Nationen, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft an.

Obwohl das Verfassungsgericht eine Entscheidung zugunsten des Rechts der indigenen Bevölkerung auf Protest getroffen hatte, ermächtigte es am 11. Oktober die guatemaltekischen Behörden, das Recht auf friedliche Versammlung einzuschränken, um "die Freizügigkeit, den Zugang zu Gesundheit und Leben, die Sicherheit, das Recht auf Arbeit, Handel und Industrie sowie die Gewährleistung grundlegender Dienstleistungen wie Beförderung, Wasser, Trinkwasser, Strom und anderer betroffener Bereiche" wiederherzustellen.

Die Ankündigungen des noch amtierenden Präsidenten Alejandro Giammattei erfolgen vor dem Hintergrund einer von Amnesty International dokumentierten zunehmenden Einengung des Handlungsspielraums der Zivilgesellschaft und einer allgemeinen Kriminalisierung Andersdenkender. Amnesty International vorliegenden Informationen zufolge mussten etwa 60 Staatsanwält*innen, Richter*innen, Journalist*innen, Publizist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen das Land verlassen, weil sie wegen ihres Einsatzes gegen Straflosigkeit und Korruption im Land mit unbegründeten Anklagen konfrontiert wurden. Eine von ihnen ist die ehemalige Staatsanwältin und gewaltlose politische Gefangene Virginia Laparra. Amnesty International erhielt außerdem Informationen über die Einleitung unbegründeter Strafverfahren gegen mehrere Personen, die an den Protesten im November 2021 in Guatemala-Stadt teilgenommen hatten (siehe Jahresbericht 2022 von Amnesty International). Die Menschenrechtsorganisation dokumentierte auch die Anwendung bestimmter Straftatbestände wie "Entführung", um friedliche Proteste von indigenen Behörden oder Gemeinschaften im Land zu kriminalisieren.

Im Jahr 2020 verurteilte Amnesty International die Reform des guatemaltekischen NGO-Gesetzes mit der Begründung, dass sie dazu genutzt werden könnte, die Suspendierung von NGOs und die Kriminalisierung ihrer Mitglieder zu vereinfachen, sollten ihre aus dem Ausland finanzierten Aktivitäten als Gefährdung der öffentlichen Ordnung eingestuft werden.