Amnesty Journal Italien 03. Juni 2014

Platz ist noch im kleinsten Boot

"Schreib: Es ist eine Schande!" Pasquale Palmisano

"Schreib: Es ist eine Schande!" Pasquale Palmisano

Italiens Fischer ziehen Flüchtlinge aus dem Meer, geben ­ihnen Wasser, Hemden und Hosen. Dann kommen die Flüchtlinge in überfüllte Lager und werden abgeschoben. Außerdem wird der Grenzschutz verstärkt. Was für eine Schande, sagen die Fischer.

Von Andreas Unger

Einheimische und Militärs in Tarnanzügen flanieren über die Via Roma, die Hauptstraße von Lampedusa. Die Fensterläden der meisten Souvenirgeschäfte und Restaurants sind jetzt, vor der Urlaubssaison, zugeklappt. Die Rathausuhr ist stehen geblieben, der Ein-Euro-Shop hat noch Kalender von 2011 im Angebot. In einem Café sind kleine Gemälde ausgestellt: Sonnenuntergang am Hafen, schöne Frau am Strand, Palmen vor blauem Himmel. Und ein mit Flüchtlingen überfülltes Boot bei Sonnenschein. Über den Bootssteg kommt Pasquale Palmisano heran, er ist auf dem Weg ins "Café del Porto" und macht kurz Halt.

Schiffsfriedhof auf Lampedusa

Schiffsfriedhof auf Lampedusa

"Schreib: Es ist eine Schande! Seit 20 Jahren schenken wir Lampedusaner den Flüchtlingen unser Herz. Wir Fischer helfen von jeher Leuten, wenn sie in Not sind. Wie sie dann im Auffanglager behandelt werden – das würde ein Lampedusaner niemals tun. Das denken sich die in Palermo und Rom aus. Die gehören ins Gefängnis! Wir sind erschüttert darüber, wie die Welt uns sieht. Wir sind doch keine Rassisten! Eine schöne Werbung ist das, bald kommt kein einziger Tourist mehr." Neben dem Hafen befindet sich der Schiffsfriedhof: alte Boote mit arabischen Namenszügen, zersplittertes Holz, rostige Nägel, verfilzte Decken, Wasserkanister, Kinderschuhe, zusammengefallene Schlauchboote. Dahinter steht Fischer Vincenzo Billeci auf seinem Kutter und flickt seine Netze.

"Ihr bekommt ein Zuhause." Vincenzo Billeci

"Ihr bekommt ein Zuhause." Vincenzo Billeci

"2011 kamen so viele Flüchtlinge hier an, dass sie sogar im Hafen übernachten mussten. Als ich abends eingelaufen bin, bat mich ein Junge um zwei Fische für sich und seinen Freund. Sie waren um die 16 Jahre alt, wie meine Söhne. Sie hatten seit drei Tagen nichts gegessen. Ich habe ihnen gesagt: 'Ihr bekommt keinen Fisch, ihr bekommt ein Zuhause.' Meine Frau hat für sie gekocht. Iheb und Sabri wollten danach nochmal runter zum Hafen, um auch ihren Freunden was vom Essen abzugeben. Sie schliefen im Zimmer meiner Söhne. Sie nannten uns 'Mama' und 'Papa'. Eine Woche sind sie geblieben. Nicht die Not hat Iheb hierher getrieben, er stammte aus einer reichen Familie. Er hat mir Fotos von der Villa seines Vaters gezeigt. Seine Eltern waren geschieden, er wollte zu seiner Mutter, die in Nizza lebt. Er hatte sie seit drei Jahren nicht gesehen, als Minderjähriger durfte er nicht auf eigene Faust ausreisen, also nutzte er das Chaos des Arabischen Frühlings und hat sich schleusen lassen. Der Junge hat sein Leben riskiert, um hierher zu kommen. Dafür verdient er meinen Respekt. Ob auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Armut, aus Leichtsinn oder weil er seine Mutter vermisst? Mir ist das egal. Niemand läuft von zu Hause weg, wenn es ihm gut geht. Dann landete Berlusconi, 'der Retter des Vaterlandes', im Frühjahr 2011 auf Lampedusa und tönte: 'In 48 bis 60 Stunden wird Lampedusa nur mehr von Lampedusanern bewohnt sein.' Iheb hat zum Abschied gesagt: 'Alles was ich trage, ist von euch, mein Hemd, meine Hosen und Unterhosen. Das einzige, was von mir ist, ist mein Koran.' Er hat ihn uns geschenkt. Seit der Katastrophe vom 3. Oktober 2013, als 366 Flüchtlinge ertranken, fliegen immer mehr Flugzeuge und Hubschrauber der ­Europäischen Agentur Frontex die Küste entlang, auch mehr Schiffe des Grenzschutzes sind unterwegs. Sie wollen die Flüchtlinge jetzt früher abfangen. Aber draußen auf dem Meer sind es noch immer wir Fischer, die sie zuerst entdecken. Wenn wir ein Flüchtlingsschiff in den Hafen begleiten, geht uns ein Arbeitstag verloren. Eine Entschädigung bekommen wir nicht, meistens bezahlen sie uns noch nicht einmal das Benzin fürs Abschleppen. Aber man rechnet nicht aus, was es kostet, ein Leben zu retten."

"Das Problem sind die Schlepper." Filippo Solina

"Das Problem sind die Schlepper." Filippo Solina

Fischer Filippo Solina ist in den Hafen eingelaufen, hat seinen Fang in großen schwarzen Kübeln an Land gebracht und raucht eine Zigarette. Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern die Schlepper, sagt er. Draußen auf dem Meer, in internationalen Gewässern, lassen sie sie nachts von ihrem großen Schiff die kleinen Schlauchboote ins Wasser, alle paar Meilen eins, und drehen dann ab, um nicht entdeckt zu werden. Ein Riesengeschäft ist das. Während Filippo Solina erzählt, hat sich ein Kollege dazu gesellt. Er nimmt uns zur Seite: "Die Küstenwache muss nicht erfahren, wer folgende Geschichte erzählt hat. Denn sie macht darin keine gute Figur. Vor ein paar Jahren entdeckten wir ein Boot mit Flüchtlingen, etwa 16 Meilen südlich von Lampedusa. Als die Küstenwache kam, brachten sie die Menschen mit ihrem eigenen Motorschiff zum Hafen. Das Flüchtlingsboot ließen sie im Meer zurück. Ich wollte es abschleppen, raus aufs offene Meer bringen und dort versenken. Das machen wir immer so: Wir markieren dann die Stelle per GPS, warten ein paar Jahre, bis sich viele Fische im Wrack tummeln, und wenn wir wieder hinkommen, machen wir einen guten Fang. Ich steige also auf das Boot, um ein Loch hineinzuschlagen, da rumpelt ­etwas im Inneren. Ich bin total erschrocken. Aus der Luke ganz vorn, wo Seile, Bojen und Anker verstaut sind, krabbelten zwei Flüchtlinge, völlig entkräftet. Sie waren wohl dort eingeschlafen. Die Küstenwache hat sich nicht die Mühe gemacht, nachzusehen. Hätte ich sie nicht entdeckt, wären sie auf dem Meer zurückgeblieben."

240 Kilometer nördlich von Lampedusa liegt die sizilianische Stadt Mazara del Vallo, Sitz des größten Fischereihafens ­Siziliens. Die Fischer, die hier leben, sind mit großen Fischfangschiffen bis zu 40 Tage lang auf See. Maschinist Matteo Giaca steht im Maschinenraum seines Schiffs. Er kann gerade aufrecht stehen. Neonlicht. Ein Metallsteg führt um den blauen Motor in der Mitte herum. Ventile, Druckmesser, Ladestandsanzeiger, Schläuche. An der Wand hängen Schraubenzieher und Ohrenschützer. In einer Ecke stehen Arbeitsstiefel, daneben Schlappen. Es riecht nach Metall und Diesel, aber es ist blitzsauber.

"Dreißig saßen in dem Holzboot". Matteo Giaca

"Dreißig saßen in dem Holzboot". Matteo Giaca

"Hier ist mein Zuhause. Ich sorge dafür, dass der Motor läuft. Wenn viel zu tun ist und es laut ist im Maschinenraum, geht’s mir gut. Auch nachts in der Kombüse, wenn die Wellen ans Boot klatschen. Aber auf dem Festland fängt es wieder an, nachts, vor allem, wenn es regnet. Ich schrecke hoch, meine Frau fragt, was los sei. Ich erzähle ihr nichts. Ich sage ihr bloß: Es ist meine Macke. Dass ich immer wieder daran denken muss. Es war 2011, ein Uhr nachts, scheußliches Wetter, Windstärke fünf, die Wellen zwei, drei Meter hoch. Wir holten gerade die Netze ein, damit sie nicht reißen. Die Flüchtlinge kamen in völliger Dunkelheit heran, aus dem Nichts. Man weiß nicht, ob es Piraten sind, ob sie Messer haben, Pistolen? Dreißig saßen in dem Holzboot. Sie waren total entkräftet, fühlten sich an wie Kartoffelsäcke. Einer hat sich den Kopf gestoßen, er muss ohnmächtig geworden sein. Ich konnte ihm nicht helfen, ich musste die anderen heraufziehen. Er wurde zerquetscht, als die beiden Boote aneinander stießen. Ich weiß, wie das klang. Hierher kommen so viele Journalisten. Sie fragen nach den Toten, nach den Lebenden, nach dem Flüchtlingslager. Wie es uns Fischern geht, fragen sie nicht. Und untereinander sprechen wir nicht darüber. Auch ich versuche, das alleine wieder hinzubekommen. Das ist etwas, das ich fühle, verstehen Sie, das ist nichts zum Besprechen. Ich fühle, was diese Leute fühlen. Meine Macke hat sich eh schon wieder etwas gelegt, ich kann schon wieder besser einschlafen. So, jetzt muss ich heim. Wenn meine Frau erfährt, dass ich mich selbst jetzt auf dem Schiff herumtreibe, während ich auf dem Festland bin, lässt sie sich scheiden (lacht). Aber ich zeige euch noch schnell den Mannschaftsraum. Hier um den Tisch herum saßen sie, 27 Leute. Wir gaben ihnen Wasser, dann Milch. Bloß nichts zu essen! Ihr Magen war verschlossen, er konnte erst mal keine Nahrung aufnehmen. Einer war bewusstlos, ich legte ihn auf eine Matratze auf dem Boden, zog ihm die nasse Kleidung aus und föhnte ihn. Die anderen Flüchtlinge sahen zu. Irgendwann ist er aufgewacht. Als er alle um sich herum versammelt sah, hat er gelacht. Da haben sie alle geklatscht. Daran denke ich gern. Ich bin bestimmt kein Heiliger, jeder andere hätte in meiner Situation genauso gehandelt. Es sind Menschen, die Hilfe brauchen, basta. Und wenn sie bleiben wollen, sollen sie. Ist doch genug Platz da, mir nehmen sie bestimmt nichts weg. Ich habe meine Hose verschenkt, mein Hemd und meine Schuhe. Und als wir zurück im Hafen waren, bin ich in Schlappen heimgegangen."

"Jeder würde sich so verhalten." Pino Russo.

"Jeder würde sich so verhalten." Pino Russo.

Pino Russo ist 42 Jahre lang zur See gefahren, davon 38 Jahre als Kapitän. Jetzt arbeitet er als Koch im Restaurant seines Sohnes. "Wir holten gerade die Netze ein, als das Schlauchboot mit den Flüchtlingen näher kam. Auf die kleinen Fische, die aus dem Netz rutschten, lauerten Delphine, die um unser Schiff herum schwammen. Sie sprangen in die Luft, direkt neben dem Schlauchboot. Die Flüchtlinge gerieten in Panik, lehnten sich alle auf die andere Seite, das Boot kippte. Ein einjähriges Mädchen und eine Frau sind ertrunken, wir konnten 21 Menschen aus dem Wasser ziehen. Einen Monat später wollte mir die Hafenkommandantur irgendeine Bronzemedaille verleihen, aber ich bin nicht hingegangen. Jeder würde sich so verhalten. Wissen Sie, Leute aus Sizilien und Lampedusa wandern seit 200 Jahren aus, in die Vereinigten Staaten, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland. Sie suchen Arbeit, ein Zuhause, eine Zukunft. Das kann man niemandem vorwerfen."

"Ich habe nicht geweint, aber fast." Nicola Amzaldi

"Ich habe nicht geweint, aber fast." Nicola Amzaldi

Nicola Amzaldi sitzt am Hafenpier und schaut aufs Wasser. Wenn er wie jetzt im Winter wegen der Stürme nicht zum Fischen auf dem Meer ist, geht er eben angeln. "Gegen zehn Uhr abends sind sie aufgetaucht aus der Nacht. 'Haltet Abstand', schreien wir ihnen zu, wir haben Angst, dass ihr Schlauchboot kentert, wenn es zu schnell auf uns zufährt. Sind ja keine Seeleute drauf. Ich stehe an der Reling, schaue runter, sehe eine junge Frau, sie hat was in der Hand, plötzlich hebt eine Welle das kleine Boot unserem viel höheren Schiff entgegen, die Frau muss diesen Moment genutzt haben, jedenfalls wirft sie in dem Augenblick etwas nach oben, ich sehe es nicht, ich greife hinunter ins Dunkle, bekomme es mit beiden Händen zu fassen, es ist nicht schwer, es ist ein Baby. Ich halte es im Arm, ich bringe es nach unten in meine Kajüte, gebe ihm Milch zu trinken, nach ­einer halben Stunde bringen sie die Mutter. Ich weiß nicht, wie die beiden hießen, und ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich habe nicht geweint, aber fast."

Der Autor ist freier Journalist und lebt in München.

Dolmetscherin: Sabine Wimmer

Weitere Artikel