Amnesty Journal 24. Juli 2014

Prominente Fürbitte

Flüchtlinge auf der Bühne. Szene aus "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek.

Flüchtlinge auf der Bühne. Szene aus "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek.

Mit dem Theaterstück "Die Schutzbefohlenen" geben Autorin Elfriede Jelinek und Regisseur Nicolas Stemann den Flüchtlingen in der Festung Europa eine Stimme. Und zeigen den Zynismus Europas.

Von Georg Kasch

Der Anschlag kommt aus heiterem Bühnenhimmel. Ein Paket knallt knapp neben einem der Schauspieler auf den Boden, dann noch eines, immer mehr. Es sind Broschüren mit dem Titel "Zusammenleben in Österreich", freundlich bebildert und mit einem Text, der auf 36 Seiten erklärt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Es geht um die Solidargemeinschaft, um die Rechte der Anderen, die eigenen Verantwortlichkeiten und Pflichten. Das ist alles nicht falsch und im freundlichen Duktus des Sozialkundeunterrichts geschrieben.

Und dennoch ist es zynisch. Denn wer die Wälle der Festung Europa überwunden hat, wird allenfalls geduldet. Er darf weder arbeiten, noch den Ort wechseln oder Sozialleistungen beziehen und landet als Asylsuchender in Unterkünften, die jedem Mitmenschlichkeitsgerede spotten. Das österreichische Flüchtlingsheim Traiskirchen dürfte da kaum eine Ausnahme sein: Von hier brachen im Herbst 2012 etliche Menschen auf, um in der Wiener Votivkirche auf sich aufmerksam zu machen – ähnlich den Asylbewerbern, die in Berlin zunächst am Brandenburger Tor und später am Kreuzberger Oranienplatz kampierten. Oder wie die aus Italien vertriebenen westafrikanischen Flüchtlinge, die in der St. Pauli-Kirche in Hamburg Unterschlupf fanden.

Einige von ihnen stehen jetzt in "Die Schutzbefohlenen" auf der Bühne. In Elfriede Jelineks Stück, das wieder einmal eine große Suada ist, mit Punkt und Komma zwar, aber ohne Rollen, verschränkt die Autorin die Besetzung der Wiener Votivkirche mit der Schiffskatastrophe vor Lampedusa und Aischylos’ antiker Tragödie "Die Schutzflehenden". Darin geht es um eine Gruppe von Frauen auf der Flucht aus Ägypten, die im griechischen Argos um Aufnahme und Schutz bitten. Ihnen bleibt nur das Wort, um Argos’ König zu überzeugen, der sich zwischen Gastrecht und einem Krieg mit Ägypten entscheiden muss.

Von Aischylos übernahm Jelinek Flüchtlingschor, Rhythmus und einen Bittgestus, den sie in die Paradoxie treibt: "Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier." Der Titel "Die Schutzbefohlenen" deutet den Perspektivwechsel an. Jelinek ergreift Partei für die Flüchtlinge, fasst das Selbstverständliche in Worte. Dass sie, die Hilfesuchenden, unserem Schutz anbefohlen sind: "Die Menschenwürde ist keine Eigenschaft, sie ergibt sich durch unsere Existenz als Menschen, und wenn wir keine Menschen sind, haben wir auch keine Würde, wenn wir keine Würde haben, sind wir keine Menschen."

Es ist das Prinzip der Paradoxie, das sich durch den Text zieht. Jelinek jongliert mit der Sprache, kaut auf ihr so lange herum, bis diese sich ganz entblößt. Sie zieht ihr die Haut der Alltäglichkeit ab, macht die tiefer liegenden Bedeutungen sichtbar. So wird aus Gemeinwohl ein "gemeines Wohl", aus einem Aufruf zur Mitmenschlichkeit ein zynischer Abschiebeappell: "Wenn Sie einen Menschen in Not sehen, fassen Sie sich ein Herz und tun Sie etwas! Wenn Sie uns sehen, fassen Sie uns! Ergreifen, fassen Sie uns und gewähren Sie Sicherheit, eine kleine Sicherheit Ihrem Staat, Ihren Mitbürgern, Ihren Nachbarn und schmeißen Sie uns hinaus. Entfernen Sie uns wie einen Fettfleck. Entfernen Sie uns, machen Sie uns weg!"

Jelineks berechtigter Empörungsfuror ist bei Regisseur Nicolas Stemann gut aufgehoben. Er hat jahrelange Erfahrung mit Jelinek-Texten. Viele ihrer Arbeiten hat er uraufgeführt, darunter die Maßstäbe setzenden Produktionen "Ulrike Maria Stuart" über die RAF und "Die Kontrakte des Kaufmanns" über die Wirtschaftskrise. Wieder lässt er mit Felix Knopp, Daniel Lommatzsch und Sebastian Rudolph zunächst die ihm vertrauten Schauspieler auf der fast leeren Bühne den Widerhaken des ­Textes nachspüren. Links projiziert Videokünstlerin Claudia Lehmann an einem Tisch Fotos von Flüchtlingen und Demons­trationen auf die Leinwände, die die Form von Kirchenfenstern besitzen, rechts bastelt Daniel Regenberg am Flügel am Pop-Soundtrack mit bösen Klassikausflügen: Als einmal von Anna Netrebko die Rede ist, der die österreichische Staatsbürgerschaft geradezu hinterhergeworfen worden sei, singt Knopp im Falsett Schubertlieder.

Entstanden ist das Theaterstück "Die Schutzbefohlenen" vor einem Jahr auf Anregung von Stemann. Als der Regisseur 2013 für die Wiener Festwochen an seiner "Kommune der Wahrheit" arbeitete, bat er Jelinek um einen kurzen Text zu einem Nachrichtenthema ihrer Wahl. Sechs Tage später lieferte sie "Die Schutzbefohlenen" ab, die das Projektformat sprengten. Vor der Uraufführung im Mai beim Theater der Welt-Festival in Mannheim hatte das koproduzierende Hamburger Thalia Theater schon im vergangenen September eine Lesung des Textes angesetzt: mit dem Ensemble und jenen 80 afrikanischen Flüchtlingen, die in der Hamburger St. Pauli-Kirche aufgenommen wurden.

Einige von ihnen standen dann auch in Mannheim auf der Bühne, wo ein zwanzigköpfiger Laienchor für eindrückliche Bilder sorgt: Zuerst berichten sie von ihren Erlebnissen, dann wandelt sich der Bittgestus in Protest, wenn weitere Chormitglieder den Stacheldrahtzaun hinten auf der Bühne überwinden, zusammen mit den anderen in eine babylonische, auch musikalisch anschwellende Sprachverwirrung einstimmen und immer weiter vorn zur Rampe drängen.

Stemann arbeitet hier zum ersten Mal mit Laien. "Mir war klar: Ich muss die Menschen, von denen das Stück handelt, ei­nerseits einschließen, andererseits die Probleme reflektieren, die das mit sich bringt", sagt er. Denn die paradoxe Situation, Flüchtling in der Festung Europa zu sein, die sich in den Sprachparadoxien Elfriede Jelineks ausdrückt, betrifft ja auch die Dichterin und ihr Objekt: "Sie leiht den Flüchtlingen ihre Stimme, nimmt sie ihnen dadurch aber zugleich weg. Mir war wichtig, dieses Dilemma eingeblendet zu lassen."

Also fallen erneut Pakete vom Himmel, diesmal sind es Over­alls, die aus Altkleidern zusammengenäht sind und den Flüchtlingen als vergiftetes Geschenk (auch ein antikes Dramenmotiv) überreicht werden. Denn die Reißverschlüsse gehen vom Nabel bis zum Scheitel, die Kapuzen verhüllen so auch die Gesichter: ein Bild für den Duldungszustand, in dem die "Schutzbefohlenen" sich in Europa befinden, für die Gesichts- und Sprachlosigkeit, in der sie gehalten werden. Dazu singen die Schauspieler gut gelaunt zu Klavier und Schlagzeug: "Komm aufs Fundament der Werte, komm aufs Fundament". Später werden Wellen über die am Boden liegenden projiziert, dann kommen Handtasche, Ölfass, Diamant und Handy und werden problemlos in die Festung Europa eingelassen. Von der Empathie zum Zynismus ist es nur ein kleiner Schritt, das macht Stemanns Inszenierung deutlich.

"Die Politik der EU ist enorm heuchlerisch", sagt Stemann. "Es ist eine Politik der Abgrenzung, der Abschottung, aber das will niemand zugeben. Einerseits werden die humanistischen Werte angeführt, andererseits wird in Kauf genommen, dass Menschen sterben beim Versuch, nach Europa zu kommen. Und wenn sie es hierher geschafft haben, werden sie allein gelassen." Dabei sei eigentlich allen klar, dass Europa Zuwanderung brauche. Jedoch – kann ausgerechnet eine Theaterproduktion beim Umdenken helfen? "Ich bin skeptisch, was die unmittelbare Wirkung von Theater angeht. Aber es kann Themen in den Aufmerksamkeitsfokus rücken." So wie in Amsterdam, wo Stemann für die zweite Aufführungsserie den Chor der "Schutz­befohlenen" mit dortigen Flüchtlingsaktivisten besetzte. Die ­Tageszeitungen waren voll mit dem Projekt, auch die Flüchtlinge hatten den Eindruck, mit ihrem Anliegen wahrgenommen zu werden. Deshalb ist Stemann grundsätzlich zuversichtlich, wenn es um das Anliegen der Flüchtlinge geht: "Es wird sich was bewegen!"

Der Autor arbeitet als Kulturjournalist in Berlin.

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