Amnesty Journal Ägypten 07. März 2013

Auf Messers Schneide

Blutiger Brauch. Eine ägyptische Hebamme demonstriert, wie die Beschneidung an Mädchen vorgenommen wird

Blutiger Brauch. Eine ägyptische Hebamme demonstriert, wie die Beschneidung an Mädchen vorgenommen wird

Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist in Ägypten gesetzlich verboten. Seit dem Sturz des Mubarak-Regimes fordern Islamisten eine Legalisierung der Praktik. Die Zahl der Beschneidungen von Mädchen soll wieder zugenommen haben.

Von Rebekka Rust

Es war im Juni 2007, als die Ägypterin Zeinab Abdel Ghani die Entscheidung traf, ihre elfjährige Tochter Badour beschneiden zu lassen. Hand in Hand gingen sie zu der kleinen Gesundheitsstation des Dorfes Maghagha. Die Mutter hatte extra auf den Sommer gewartet, da sie wusste, dann würden die Wunden gut heilen. Bald würde Badour ihren zwölften Geburtstag feiern, höchste Zeit also für ihre Beschneidung, denn in Ägypten werden Mädchen im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren beschnitten. Badour trug die traditionelle Abaya, ein arabisches Festkleid, und ein weißes Tuch, das ihre Haare bedeckte. Als ihr zwei Schulkameradinnen begegneten, sagte Badour: "Ich werde heute beschnitten." Ihre Stimme klang fröhlich. "Viel Glück", wünschten ihr die Freundinnen und küss­ten sie auf die Wange.

Badour, ein fröhliches und kluges Mädchen mit guten Noten in der Schule, erlebte ihren zwölften Geburtstag nicht mehr. Sie bekam eine Spritze zur Betäubung, dann schnitt ihr die Frauenärztin Klitoris und innere Schamlippen weg. Badour blutete stark. Mit einem Tuch versuchte die Ärztin, die Blutung zu stillen. Sie rief nervös nach ihrem Mann, einem Kinderarzt, der im Nebenzimmer arbeitete. Badours Lippen waren dunkel angelaufen. Sie regte sich nicht. Mit einer Pferdekutsche wurde sie in ein Krankenhaus gebracht. Aber es war zu spät. Badour war bereits tot. Später hieß es, das Mädchen sei an einer Überdosis Narkosemittel gestorben.

Journalisten und Frauenrechtsorganisationen wurden auf den Fall aufmerksam. Als kurze Zeit später der Tod eines weiteren Mädchens ans Licht kam, entbrannte in Ägypten eine öffentliche Debatte, die dazu führte, dass die Regierung im Jahr 2008 die Gesetzeslage verschärfte. Bis dahin war weibliche Genitalverstümmelung erlaubt, sofern Ärzte sie als "medizinisch notwendig" ansahen – eine Formulierung, die viel Interpretationsspielraum ließ. Seitdem ist die Verstümmelung weiblicher Genitalien auch für medizinisches Personal verboten. Bei Zuwiderhandlung drohen eine Haftstrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren und eine Geldbuße von umgerechnet 900 US-Dollar.

Das Gesetz markierte einen wichtigen Schritt zum Schutz der Menschenrechte von Mädchen und Frauen in Ägypten. Zwei Jahre zuvor hatte Scheich Ali Gom’a, Großmufti und Professor für Rechtswissenschaft an der Al-Azhar Universität in Kairo, mit dem Glauben aufgeräumt, die weibliche Genitalverstümmelung sei eine religiöse Pflicht. In einem islamischen Rechtsgutachten, einer Fatwa, bezeichneten Gom’a und andere muslimische Gelehrte weibliche Genitalverstümmelung als eine schädliche Praktik, die im Koran nicht vorgeschrieben und mit den Werten des Islam nicht vereinbar sei.

Nun stehen die Rechte der Frau auf Messers Schneide: Medienberichten zufolge haben sich Muslimbrüder und Salafisten öffentlich für weibliche Genitalverstümmelung und gegen das Verbot ausgesprochen.

Doch nicht nur Religion und Politik lassen Menschen an weiblicher Genitalverstümmelung festhalten. Es gibt weitere Gründe, die so mächtig sind, dass Eltern bestehende Gesetze ignorieren, Freiheitsstrafen riskieren und keine Kosten scheuen, um ihre Töchter beschneiden zu lassen. Immer geht es auch um den Erhalt von Traditionen, um Bräuche, um Familienehre, um Kultur. Nicht nur in Ägypten ist das so. Weit verbreitet ist der Glaube, der Sexualtrieb unbeschnittener Frauen sei so stark, dass sie fremdgehen und Schande über den Ehemann bringen würden. Mächtig ist auch die Vorstellung, die Klitoris würde wachsen und so lang werden wie ein Penis. Eine Frau mit Klitoris gilt als ein "Zwischenwesen", nicht Mann und nicht Frau. Kein Mann, so die gängige Ansicht, würde solch eine Frau heiraten. Erst eine beschnittene Frau gilt als heiratsfähig. Klitoris und Schamlippen werden zudem als schmutzig und übelriechend angesehen – die Beschneidung soll eine Art "Reinigung" darstellen.

Auch Zeinab Abdel Ghani, die Mutter von Badour, war überzeugt davon, dass die äußeren Geschlechtsorgane ihrer Tochter wachsen würden und sie später jedem Mann hinterherlaufen würde. Sie selbst war als junges Mädchen ebenfalls beschnitten worden. Dass dies richtig war, hatte sie nie in Frage gestellt. Obwohl Zeinab Abdel Ghani damals starke Schmerzen hatte, bedeutete ihr die Beschneidung sehr viel.

Die Pflicht zur weiblichen Genitalverstümmelung wird von Generation zu Generation weitergegeben. Belohnungen, Anerkennung und das Tabu, nicht über die Details der Beschneidung zu sprechen, stabilisieren den Brauch. Die meisten Frauen erinnern sich zwar an die schmerzhafte Erfahrung. Sie schwärmen aber auch von dem Fest danach, dem guten Essen, der neuen Kleidung und dem Glück, Mitglied einer besonderen Gemeinschaft von Frauen geworden zu sein. Nur wenige haben den Mut, mit der Tradition zu brechen.

Nach Angaben von UNICEF sind in Ägypten rund 90 Prozent aller Mädchen und Frauen beschnitten – dies ist eine der höchs­ten Beschneidungsraten weltweit. Schon zu Zeiten der Pharaonen sollen diese Eingriffe an Frauen vorgenommen worden sein. Heute halten sowohl koptische Christen als auch Muslime an der Praktik fest. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob ein Mädchen in der Großstadt Kairo oder in einem Dorf am Ufer des Nils aufwächst, ob es eine Schule besucht oder nicht. Während in vielen Ländern die Genitalverstümmelung von Beschneiderinnen durchgeführt wird, ist die Nachfrage nach den traditionellen "Dayas" in Ägypten nicht sehr hoch. Von allen 28 afrikanischen Ländern, in denen weibliche Genitalverstümmelung vorkommt, ist Ägypten das Land mit dem stärksten Trend zur "Medikalisierung": Rund drei Viertel der Mädchen werden trotz des bestehenden Verbots von Ärzten oder anderem medizinischen Personal verstümmelt.

Einmal verstümmelt, immer verstümmelt. Der Eingriff, der nicht rückgängig gemacht werden kann, führt häufig zu starken Schmerzen, Blutungen, Problemen beim Wasserlassen, Entzündungen, erhöhter HIV-Ansteckungsgefahr und Traumata. Vielen Frauen bereitet der Geschlechtsverkehr Schmerzen. Sexuelle Lust kennen sie nicht. Auch Komplikationen bei der Geburt sind nicht selten, da das Narbengewebe nicht dehnbar ist. Neben schweren Blutungen sind Kaiserschnitte bei beschnittenen Frauen häufig.

Einer weit verbreiteten Meinung zufolge ist weibliche Genitalverstümmelung akzeptabler, wenn sie unter hygienischen ­Bedingungen, mit Betäubung und von einem Mediziner durchgeführt wird. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erhebt dagegen Einspruch und lehnt die weibliche Genitalverstüm­melung auch unter ärztlicher Aufsicht entschieden ab. Für die Verstümmelung weiblicher Genitalien gibt es keinen medizinischen Grund, sie schädigt die Gesundheit und ist – egal in welcher Form – eine Verletzung der Menschenrechte: Eine Verletzung des Rechts auf Sicherheit, auf persönliche Freiheit, auf ­Leben und körperliche Unversehrtheit sowie des Rechts auf ­Gesundheit. Organisationen wie Amnesty International und ­Aktivisten weltweit unterstützen diese Position.

In Ägypten ist die positive Stimmung des "arabischen Frühlings" verflogen, die politischen Kämpfe werden mit harten Bandagen ausgetragen. Im Radiosender Deutsche Welle sagte eine Ägypterin, zu Zeiten des Mubarak-Regimes hätten die Menschen noch Angst vor möglichen Strafen gehabt. Jetzt würden Ärzte die Mädchen in ihrer Nachbarschaft nicht einmal mehr heimlich beschneiden.

Als sie zur Polizei ging, um Anzeige gegen die Verstümmelungen in ihrem Viertel zu erstatten, erntete sie nur bitteres Gelächter: "Wir haben andere Probleme", sagten die Polizisten zu ihr. In der Provinz Minia in Oberägypten wurde von mobilen Kliniken in Bussen berichtet, die Genitalverstümmelung als kostenlosen Gesundheitsservice anbieten. Salafisten und Vertreter der Muslimbruderschaft fordern die Legalisierung der Genitalverstümmelung und die Zahl der Beschneidungen von Mädchen soll seit der Revolution wieder angestiegen sein.

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass es um die Frauenrechte in dem Land schlecht bestellt ist. Der ägyptische "Council for Childhood and Motherhood", die wichtigste staatliche Organisation zum Schutz der Rechte von Frauen und Kindern, sowie Aktivisten wie Magda Nagiub Wahba von der Frauenrechtsorganisation "Better Life Association for Comprehensive Development" werden dennoch nicht müde, über die Folgen der Verstümmelung aufzuklären und an ein Ende dieser Tradition zu glauben. Noch ist ihre Arbeit nicht verboten. Noch können sie sich auf das Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung ­berufen.

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